von Sepp Graessner
 

 Es besteht eine wechselseitige Verschränkung von Integration und Abwehr. Der traumatisierte Mensch kann sowohl integrieren als auch abwehren, Erlebnisse hereinlassen oder sein Inneres schützen und bewahren. Dieser Mensch verfügt also über beide Potenzen. Welche Option er im Angesicht von Bedrohung und Gewalt wählt, hängt nicht von seinem Bewusstsein ab. Er kann wohl auch Anteile des Bedrohungserlebnisses zugleich integrieren als auch abwehren. Beides sind aktive Beschäftigungen mit dem Reiz. Welche Form der Reaktion ergriffen wird, welche Sofortmaßnahmen in Gang gesetzt werden, das entscheidet der ganze Körper, nicht nur das Hirn.

Integration traumatischer Inhalte gilt allgemein als Ziel einer spontanen oder therapeutisch gestützten Bearbeitung. Ist ein Trauma integriert, d.h. von Bewusstsein durchdrungen, verliert es im optimalen Falle seine quälende Wirkung. Integration bedeutet nicht Vergessen oder Verdrängen. Mit der eindeutigen (selten!) Integration traumatischer Erlebnisse kann auch die Abwehr als abgeschlossen betrachtet werden. In welches Bild, in welchen stofflichen Rahmen wird das Erlebnis integriert? Was ist schon als gegeben vorausgesetzt, damit es zur Integration von „Überwältigendem“ fähig ist? Weltbild, Überzeugungen, Persönlichkeit, Identität? Alles zusammen? Hier sind noch viele Fragen ohne überzeugende Antwort, wenn man die unterschiedlichen Phänomene posttraumatischer Befindlichkeiten zugrunde legt. Es sind ja die unterschiedlichen Verläufe von Abwehr und Integration, die zu Fragen Anlass geben. Darunter die Frage, wie viel Bewusstsein eine Integration traumatischer Erlebnisse braucht. Das Geheimnis der vielschichtigen Verläufe posttraumatischer Symptomatiken wird in unterschiedlichen Präformationen gesehen. Es gibt also Menschen, die auf dieselben bedrohlichen äußeren Ereignisse mit differenzierender Integration und Abwehr antworten. Bei einigen Betroffenen scheint das Mischungsverhältnis von Integration und Abwehr eine Ausbildung posttraumatischer Symptome zu vermeiden oder abzuschwächen, während andere von der Wucht der Erlebnisse (als mechanisches Bild) umgeworfen und zur multiplen Symptombildung gedrängt werden. Die Vielfalt der symptomatischen Verläufe scheint einer Homogenisierung in Systematiken zu widersprechen.

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Von Sepp Graessne

Das amerikanische Trauma von My Lai, ein moralisches Trauma, so nennt es „Der Spiegel“. Die Umwertung des Traumas in gesellschaftliche Kategorien, gleichsam körperlos, ist zwar mit Empfindungen verbunden, für die jedoch eine Disposition bestehen muss. Das eigentliche Trauma haben die Überlebenden des vietnamesischen Dorfes und ihre Verwandten erlitten. Von Traumaraub zu sprechen, wäre allerdings etwas übertrieben. Es handelt sich eher um eine Verschiebung.

In der „Psyche“ von Juni 2011 lesen wir „Trauma in China?“ Zwar ist unstrittig, dass die „Kulturrevolution“ zahllose Morde, Demütigungen, Verschleppungen, d.h. Traumata, verursacht hat, das Fragezeichen wirkt also kokett. Die Psychoanalyse dringt im gesamten Heft nach China vor und findet heute interessierte Zuhörer. Traditionelle und kommunistische Auffassungen müssen folglich ausgehebelt und verwandelt werden, wenn eine in der bürgerlichen Welt des Westens verankerte Psychoanalyse nach China exportiert werden soll. Gegen eine Bekanntmachung der jeweiligen Psychosysteme ist sicher nichts einzuwenden. Allerdings ohne missionarischen Drang.

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Von Sepp Graessner

 

Auch die Nervengeflechte des Darms haben bei Menschen eine Fähigkeit zur Wahrnehmung und ein Gedächtnis, vermutlich auch sämtliche Körperzellen, wenn sie mit der Umwelt in Kommunikation treten. Vor allem das Immunsystem kann wahrnehmen und erinnern. Von diesen soll aber hier nicht die Rede sein, sondern von den konstruierten und imaginierten Formen eines cerebralen Gedächtnisses.

Ohne Zweifel sind traumatische Erlebnisse und ihre Persistenz geeignet, das Arbeiten des Gehirns in einigen Parametern zu studieren. Dabei hat der Schritt, unterschiedliche Modalitäten von Gedächtnis anzunehmen, dazu geführt, auch für das traumatische Gedächtnis zwei Wege der neuronalen Fortleitung zu postulieren.

Widersprüchlich zeigen sich Studien von Menschen mit PTSD, die eine Verkleinerung der hippocampalen Volumina nach Ausschüttung von Corticosteroiden im Anschluss an militärische Kampfhandlungen posttraumatisch nachwiesen. Besonders deutlich sei der Effekt der Volumenverminderung, wenn vor den traumatischen Kampfhandlungen des Erwachsenenalters in der Kindheit Missbraucherlebnisse zu eruieren waren. Die Ergebnisse verminderter Hippocampus- Volumina konnten in manchen ähnlichen Studien nicht verifiziert werden. Sie waren freilich in Übereinstimmung mit Tierversuchen. Nun ist aber gerade der Cortisolspiegel bei PTSD-diagnostizierten Personen nachweislich erniedrigt, sodass man nicht von einer verlängerten Phase der Einwirkung von Corticosteroiden auf den Hippocampus sprechen könne, es sei denn, die traumatischen Erlebnisse hätten eine verbrauchende endokrine Wirkung zur Folge gehabt.

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von Sepp Graessner

Nur schwer lassen sich Begriffsbestimmungen für Resilienz und Wachstum finden. Beide Begriffe sind Metaphern, die auf Prozesse hinter ihren vordergründigen Bedeutungen verweisen. Daher bewegen wir uns auf schlüpfrigem Boden, wenn wir mit diesen Begriffen in die ohnehin unsichere Zone posttraumatischer Befindlichkeiten eindringen möchten und zu Klärungen beitragen wollen.

Man hat sich darauf geeinigt: Wer nicht in wiederkehrenden traumatischen Erinnerungen versinkt, stützt sich, zumindest teilweise, auf eine reaktive Elastizität in Bezug auf erlebte Gewalt und traumatische Bedrohung, die posttraumatisch zur Grundlage für Reifung und Wachstum werden können. Ein solcher Mensch ist damit ein Beispiel für die Richtigkeit des Satzes, dass er/sie aus Schaden klug wurde. Ein trügerischer Satz zwar, der allein die kognitive Seite betont, denn aus Schaden wird jeder zunächst oberflächlich oder in der Tiefe geschädigt. Zugleich aber ein hoffnungsvoller Satz, denn er besagt, dass eine traumatische Schädigung nicht ewig andauern muss, sondern sich wandeln kann, in die Linderung der Symptome, in die Umdeutung der traumatischen Ursachen, ins Vergessen oder die Leugnung. Am Ende wartet auf verarbeitungsbereite Traumatisierte in Gestalt von Klugheit und sozialer Anerkennung sogar eine Belohnung, die keineswegs in einen glücklichen Zustand führt. Niemand wird aus Schaden glücklich. Allerdings werde ich den Verdacht nicht los, dass sich ein Hauptaugenmerk der sozialen Umwelt einer traumatisierten Person auf eben jenes Wachstum der Persönlichkeit richtet, das Stagnation oder Schrumpfung ausschließen lässt. Deshalb stehen für die übrigen traumatisch Betroffenen in aller Dreistigkeit klinische Kategorien bereit. Wachstum ist vermutlich ein Euphemismus, der nichts anderes als Anpassung an die Realität bedeutet; und dies ist in der Tat als Akt der Anerkennung der Realität zu begrüßen. Indem eine traumatisierte Person nicht in der traumatischen Wirklichkeit gefangen bleibt, geht sie auf eine Realität zu, die sie mit anderen (erneut) teilen kann, und lässt dadurch Imaginäres und Illusionäres hinter sich, zugleich jene Vorstellungen, die vor dem Trauma das Verhältnis zur Welt bestimmten. Unter diesen Vorzeichen bedeutet Wachstum einen Verlust, und Verluste tragen im Allgemeinen keine positiven Bedeutungen, sieht man einmal vom Verlust von Dummheit ab. Verliert man aber in Bezug auf traumatische Erlebnisse die Tendenz zur Selbstbeschuldigung, dann ist so etwas wie Reifung vertretbar.

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von Sepp Graessner

 „The current discourse on trauma has systematically

sidelined this social dimension of suffering; instead

it promotes a strongly individualistic focus presenting

trauma as something that happens inside individual

minds.”

(Patrick Bracken 1998)

 Es gehört zum Alltagswissen, dass verstörte, leidende Personen nach einem extremen Trauma auf andere Menschen treffen, die gar nicht oder mehr oder weniger zum Mitleiden befähigt sind. Wenn man Bracken in diesem Sinne versteht, dann läge die soziale Dimension des Leidens im erfahrenen Mitgefühl, in der wahrgenommenen, stützenden Empathie, sicher auch in der kulturellen Bedeutung, die dem Leiden und der leidenden Person beigegeben wird und nicht zuletzt in gemeinsamen Trauer- und Abschiedsritualen. Empathie ist nicht in gleichem Maße in Menschen verteilt. Man muss sie lernen, indem man Spiegelneuronen aktiviert. Die Existenz, Funktion und Bedeutung der Spiegelneuronen sind allerdings eine nicht hinreichend abgesicherte Hypothese. Empathie zeigt sich in hierarchischen (selektiven) Wertungen gegenüber Tieren oder nahen und fernen Mitmenschen. Empathie befähigt nicht nur zu Vorstellungen, wie es in einer traumatisierten Person aussehen könnte, sondern auch zu präventivem Verhalten, weil sie eine auf Zukunft gerichtete intrinsische Dimension, d.h. einen eher unbewussten, evolutionären Zweck aufweist. Jedenfalls verstehe ich den Satz Brackens in diesem Sinne.

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 Teil 2 - Der posttraumatische Symptomenkomplex Übererregtheit

von Sepp Graessner

 Vorbemerkung:

2011 nennt Alain Ehrenberg das DSM-III die Bibel der Diagnostiker. Diese „Seligsprechung“ ist das Resultat einer gläubigen Hinwendung an zeitlose, angeblich universelle Kategorien von Gefühlen, Verletzung, Erinnerung, Erstarrung, Erschrecken und kognitiven Ressourcen wie Gerechtigkeit, Menschenrechte. DSM-IV erlebte dann eine Heiligsprechung. Im kommenden Jahr wird ein noch voluminöseres DSM-V erscheinen. Werden wir dann eine erleuchtende Erscheinung haben? Kann uns diese Aus- und Zurichtung durch Experten zu denken geben, wenn der Glaube jeden Common sense „traumatisch“ überwältigt hat? Kernüberzeugungen („die Welt ist gut.“) und extreme Traumata („dem Tod ins Auge gesehen“) können nicht zugleich für wahr gehalten und geglaubt werden, wie Bolton und Hill urteilen. Eins von beiden wird immer auf der Strecke bleiben, und der resultierende Konflikt bildet den Auftakt zu Symptomen. Sicher, Menschen haben Gefühle, können erstarren, sind zu erinnerten Bildern fähig, auch die Schreckensäußerung und Erregung teilen Menschen. Die Bedeutung, die sie diesen Phänomenen geben, beurteilen Menschen nicht nur graduell in feinen Unterschieden.

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von Sepp Graessner

Vorbemerkung

Dieser Aufsatz wird sich mit der Rolle und der katalogischen Erweiterung von  Risikofaktoren bei der Ausbildung von posttraumatischen Belastungsstörungen befassen. Unter der Annahme, dass es nicht nur eine Belastungsstörung post Trauma gibt, sondern eine farbige Vielfalt, der man ein Etikett anklebt, soll zudem eine Prüfung der Argumente, des dahinter stehenden Gedankengebäudes und der einfließenden Interessen vorgenommen werden. Es ist allgemein anerkannt, dass es zahlreiche Typen posttraumatischer Befindlichkeiten gibt, die posttraumatische Belastungsstörung (als klinische Diagnose) wäre folglich nur eine gravierende davon. Nur letztere darf sich definitionsgemäß im klinischen Kontext entfalten. Jedoch, es drängen sich, seit die Anerkennung dieser Störung eine Verbindung mit materieller Entschädigung eingegangen ist, die meisten posttraumatischen Störungsbilder unaufhaltsam ins öffentliche Bewusstsein, und sie wünschen, die Diagnose PTSD zugesprochen zu bekommen. Sie ist die Voraussetzung für materielle Entschädigungen. Dies liegt nun vermutlich neben kollektiven Gefühlen von Angst und Unsicherheit und neben diffusen Gerechtigkeitsempfindungen an der Ausweitung von Risikofaktoren, die jenseits von einem traumatischen Ereignis die Entwicklung und Ausprägung einer posttraumatischen Belastungsstörung befördern. Die Vermehrung von einflussreichen Faktoren, die PTSD begünstigen, scheint inzwischen das ursprünglich als ursächlich angenommene traumatische Erleben aus ihrem alleinigen Zuständigkeitsbereich zu verdrängen. Es mündet in die berechtigte Frage: Ist das traumatische Ereignis für die Entwicklung der posttraumatischen Symptomcluster allein verantwortlich oder spielen vortraumatische und/oder posttraumatische Risiken eine wesentliche Rolle? Und was ist hiermit eigentlich gewonnen?

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von PTSD-Symptomclustern

von Sepp Graessner

 Zahlreiche Lehrbücher, Studien, populärwissenschaftlichen Publikationen und vor allem Zeitungen legen Wert auf die spezifischen Symptomcluster einer posttraumatischen Belastungsstörung, die nur nach extremen Traumata gleichzeitig, wenn auch mit einer gewissen Latenz auftreten und daher im Umkehrschluss beweisend seien für ein vorausgegangenes Trauma. Die Spezifität möchte ich anzweifeln, indem ich auf einen Prozess verweise, der in allen Gemeinschaften universelle Praxis ist.

Beim Erlernen, Anwenden moralischer Grundsätze, der Bildung von Gewissen, und bei deren Verstößen und Brüchen findet man eben jene Symptomcluster, die angeblich spezifisch für posttraumatische Belastungsstörungen gelten: Intrusionen, d.h. erstens situatives Wiedererleben konflikthafter sozialer Situationen, in denen Moral gelernt und oftmals mit Zwang, Drohung, Strafen über längere Zeiträume eingeübt wurde, und zweitens unwillkürlich einschießende Bilder, die von Emotionen begleitet sind, die jenen ähneln, die sich mit der Prozedur der primären Lernsituation von moralischen Grundsätzen verbunden hatten. Solche Emotionen, z.B. Angst, Lustgewinn aus Anpassungs- und Unterwerfungsbereitschaft, Erregbarkeit, Erniedrigungsgefühle oder Wut, müssen nicht als bewusst erzeugte in Erscheinung treten. Sie können sich aus verborgenen Winkeln, aus Kellergewölben melden. Der Horror des Struwwelpeter zieht an einem vorbei: Jedes Vergehen gegen elterliche Maxime endet in einer veritablen Katastrophe.

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von Sepp Graessner

 Der US-amerikanische Anthropologe Allan Young hat als einsamer Rufer schon 1980 auf die Beziehung von Stressdiskurs und der wissenschaftlichen Reproduktion von allgemeinem Erleben und Wissen hingewiesen. Er hat zugleich, wenn auch nicht in vollem Umfang, die Tendenz von Psychowissenschaften beschrieben, durch kategorische Normen in Alltagswissen Grenzzäune einzuziehen, die im Bereich mentaler und psychischer Befindlichkeiten normal definierte Zustände von pathologischen trennen. Young hat sich in die Reihe der Skeptiker des klinisch angesiedelten Stressdiskurses gestellt und sich damit als Bedenkenträger gegen die posttraumatische Belastungsstörung zu erkennen gegeben. Aus dem einsamen Rufer ist heute ein Kammerorchester geworden, das den seriösen britischen Autor und Psychologen Christopher Brewin dazu veranlasste, die Geltungsmacht posttraumatischer Symptomcluster sowohl bei Befürwortern des Konzepts als auch bei Skeptikern zu sehen. PTSD sei heute keine uneingeschränkt gültige Diagnose. Obwohl Brewin sich zu den Befürwortern (saviors) zählt, räumt er den Argumenten der Skeptiker einen angemessenen Platz ein. Zuvor hatte Young noch erlebt, wie die wissenschaftliche Gemeinde seine Argumente einfach schweigend überging. Saviors und Skeptics ringen nicht um die Anerkennung traumatischer Erlebnisse – die sind unstrittig -, sondern um die breite Klinifizierung der Folgephänomene.

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