„Freiwillige“ Konfrontation mit dem Leiden

                 Für Sabine und Machtelt

 

Mich beschäftigt die Frage, ob das psychiatrische, als wissenschaftlich ausgewiesene Wissen aus westlichen Forschungen in fernen Katastrophengebieten vorenthalten, modifiziert und kultursensibel angepasst oder, wie es die landläufige, westlich geprägte Praxis ist, unaufgefordert zu den überlebenden Menschen in Katastrophengebieten gebracht werden  sollte, wo es vielleicht nützen, vielleicht schaden kann oder missverstanden wird, weil es auf nicht aufnahmebereite  Denkmuster trifft. Die Nützlichkeitskriterien stammen aus westlichen Überlegungen und sind nur zu einem geringen Teil aus Wissenschaft abgeleitet. Der langfristige Erfolg der westlichen Bemühungen ist noch nicht entschieden und wohl eher zweifelhaft, weil er aus einem Verdrängungsprozess hervorgehen muss. Die zeitlich begrenzte Dauer der Präsenz vor Ort lässt langfristige und korrekt zuordnende Evaluationen und Beobachtungen, die lange Zeiträume umfassen müssten, nicht zu. Die Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung existiert ja erst seit knapp 40 Jahren. Der Export zu Zivilisten in Katastrophengebieten kam erst vor knapp 30 Jahren in Gang.

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Viel wird über Trauma, besonders das Psychotrauma, geschrieben und gesprochen. Der Diskurs über das Psychotrauma nach schrecklichen Erlebnissen hat in zahlreichen Wissenschaften Spuren erzeugt und hinterlassen, sodass der Eindruck entstand, neben der traditionellen Betrachtung der Realität existiere eine zweite Ebene der Betrachtung, die (wegen ihrer verborgenen Mystik und Metaphysik) nur für Experten zugänglich sei: die Irrungen und Wirrungen der menschlichen Psyche nach bedrohlichen Erlebnissen, die sich bis heute Normierungen, Klassifikationen und Homogenisierungen erfolgreich widersetzt haben. Solche menschlichen Ordnungsversuche müssen damit enden, dass sie peritraumatisch den primären Stress und eine generalisierte Angst vor Gewalt festmachen können. Sie betreffen nicht die nachfolgenden Symptome, die sich nicht ordnen, sondern nur aufzählen lassen. Zwar existieren umfangreiche Beschreibungen auch in Fallbeispielen, sie dürfen trotz Evidenz wohl nicht mit wissenschaftlichen Erklärungen verwechselt werden. Evidenzen sind beweisende Phänomene für den Laienverstand, wissenschaftlich kratzen sie an der Oberfläche. Sie sind Ausdruck des Common sense und allgemeiner Erfahrung. Wissenschaft kann Erfahrung als Aufforderung zur Forschung betrachten, Erfahrung von Subjekten kann jedoch nicht Gegenstand von Wissenschaft werden.

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Gedanken zu einem Buch von Susan Brison (2002) Aftermath: Violence and the Remaking of a Self.

 

Im Bewusstsein, dass es elementare Hindernisse gibt, wenn Männer über Frauen sprechen, äußere ich mich hier zum Leiden einer Frau nach extremtraumatischen Erlebnissen. Die Hindernisse liegen für Männer nicht nur in der ungenügenden Reflexion von Macht/Ohnmacht und in den testosterongesteuerten Urteilen zur Welt, vielmehr in der oft fehlenden Sensibilität für Ohnmacht und in den meist verschlungenen Bemühungen der Frauen, Ohnmacht zu überwinden.

Frau Brison überlebte im Jahre 1990 als Touristin auf einem Spaziergang eine Vergewaltigung in Frankreich, wurde gewürgt und nach einem Schlag mit einem Stein gegen ihre Stirn in bewusstloser Verfassung liegen gelassen. Sie erlebte alle Stationen einer psychischen Traumatisierung, die von der Justiz Vergewaltigung und Mordversuch genannt werden. In ihren 12 Jahre später veröffentlichten Reflexionen (Frau Brison ist Professorin für Philosophie) wird erkennbar, was neben physischen und psychischen Wunden verletzt wurde: ihre aus sozialer Kommunikation konstituierte Weltbetrachtung. Bei der empathischen Lektüre ihres Buches wird erkennbar, dass ihre posttraumatische Wahrnehmung für kommunikativ geäußerte Zweifel, Verleugnung, Relativierung durch ihre Umwelt ebenso geschärft ist wie die Verletzlichkeit durch Ereignisse aus der Umwelt, die vor dem traumatischen Geschehen keinen beunruhigenden Bezug zu ihrem Leben gehabt hätten. Ihr Blick ist nach den traumatischen Ereignissen ein anderer geworden. Es geschieht oder unterbleibt etwas, auf das eine solch traumatisierte Person keinen Einfluss nehmen kann, wodurch sich ein Gefühl der Ohnmacht in die Zukunft erstrecken kann.

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Seit rund fünf Jahren orientieren sich die Berufsstände der Psychiater und Psychologen und ihre weiblichen Angehörigen am DSM-5, das seit 2013 trotz eines immensen Preises ($ 199-.) sehr oft verkauft wurde.

Es enthält wie seine Vorgänger Symptome und Zeichen. Es enthält keine Krankheitsbezeichnungen mit überzeugender Validität. Aus diesem Grunde wurde, wie Fred C. Alford in seinem Blog berichtet, die Melancholie nicht in die fünfte Ausgabe des DSM aufgenommen. Die Begründung lag in der Feststellung, dass das DSM lediglich Symptomaufstellungen ausbreite und keine Diagnosen stelle, die, wie bei der Melancholie, physiologische Parameter nachzuweisen erlaubte. Alford:“ In other words, it would show the DSM-5 up for what it was: a collection of symptoms that was organized more in accord with the political influence of those who proposed the disorder than with nature“.

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Man muss sehr wohl zwischen traumatischem Erlebnis, traumatischer Erfahrung und der individuellen Vulnerabilität unterscheiden.

Nicht jedes Trauma als Folge eines heftigen Stress weist die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung auf. Dies gilt vor allem für lange zurückliegende psychische Verletzungen, die zum Zeitpunkt der (übergriffigen, erniedrigenden) Verletzung noch nicht als traumatisch, sondern eher als bedrängend oder lästig wahrgenommen und ins Gedächtnis eingespeist wurden. Hierzu gehört die machtgestützte Herrschaft über den Körper einer abhängigen Person, sei es im Arbeitsleben oder Kindern gegenüber in deren Kindheit. Obwohl und  wenn keine Anzeige nach sexualisierten Übergriffen erfolgt oder keine akuten Symptome auftreten, dann sei die durch die individuelle Biographie entstandene Verletzungsdisposition betroffen, da auch der Körper insgesamt sich ein Gedächtnis von jenem Ereignis gemacht habe.

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Einige kritische Wissenschaftler*innen, die sich seit Jahren mit Trauma und PTSD in den USA und im „Westen“ befassen, sind wie ich (seit 2004) zu der Überzeugung gelangt, dass die Diagnose PTBS wissenschaftlich unhaltbar geworden ist und intellektuell in eine Sackgasse geführt hat.

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Meine Kritiken aus unterschiedlicher Perspektive an der Diagnose PTBS, ihrem Gebrauch, ihrem historischen Auftauchen, ihren politischen Zwecken und ihrer Vervielfältigung habe ich hier formuliert, obwohl mir bewusst war, dass ich dadurch Beifall von unerwünschter Seite erfahren könnte und zugleich diejenigen verärgerte, die mit dem Zugriff zur Diagnose ihren Mandanten und Klienten im öffentlichen Vortrag nützlich sein oder die Sensibilität für das psychosoziale Befinden von Flüchtlingen in der gesellschaftlichen Debatte wecken und verfeinern wollten. Die Diagnose, so die allgemeine Auffassung, sei die (wenn auch unpräzise) Zusammenfassung von Beschreibungen innerer Prozesse von Flüchtlingen und Asylsuchenden, wenn sie nach Gewalterlebnissen in Europa angekommen seien. Mit dieser Diagnose, die aus dem psychiatrischen Arsenal stammt, sei der psychosoziale Status von Flüchtlingen leichter zu verstehen und zu korrigieren. Dieser psychische Status verlange Schutz, Hilfe, Geduld, Geborgenheit und therapeutische Stützung sowie eine Perspektive in einer neuen gesellschaftlichen Umgebung. Dazu verpflichteten die Moral, Menschenrechte und humanitäre Betrachtungen im globalen Kontext. Sowohl Behördenmitarbeiter (BaMF, Ausländerbehörden) als auch Rechtsanwälte in Asylverfahren oder Flüchtlingshelfer haben mich wohl nicht richtig verstanden, wenn sie meine Einlassungen in ihrem Interesse funktionalisierten oder als störend und kontraproduktiv empfanden. Es besteht einfach ein Unterschied zwischen einem wissenschaftlich untauglichen Begriff (PTBS) und dem pragmatischen Gebrauch dieser Störungsbezeichnung, bei dem man sich im Allgemeinen nicht klar macht, dass sie Mystisches und Unerklärliches transportiert.

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                                Great Expectations

 

 Wenn man die Forschungen, die sich auf epigenetische Phänomene beziehen, näher an sich heranlässt, dann kann man sich an Dickens’ Erzählungen erinnert fühlen. Worum geht es dabei? Und warum sollten sie an die „großen Erwartungen“ erinnern? Und wer schürt diese Erwartungen?

Eigentlich geht es um einen durchsichtigen Wurm, an dem unter experimentellen Bedingungen und unter dem Mikroskop beobachtet wurde, dass im Vererbungsprozess nicht nur die DNA von Spermien und Eizellen am Zellteilungsvorgang teilnehmen, sondern auch die umgebenden basischen Aminosäuren, die in ihrer Anordnung ermöglichen, dass ein 160 cm langer Strang von Erbinformationen so gepackt wird, dass er in einen Zellkern passt, wofür so genannte Histone verantwortlich gemacht werden. Epigenome bzw. das Chromatin waren bis vor kurzem in ihrer Bedeutung nicht erkannt worden. Histone bestehen aus basischen Proteinen und sind das die Doppelhelix umgebende Gerüst oder Stützmaterial, das zu wechselseitigen Prozessen fähig ist und anders als Gene der primäre Reaktionsort auf Umweltreize darzustellen scheint. Die Funktion der Methylierung von Histonen wird derzeit intensiv erforscht und steht überwiegend in Beziehung zur epigenetischenInaktivierung von Genen. So kann eine regionale Trimethylierung des Lysinseitenrestes zu einer Kondensierungder Chromatinstruktur in diesem Bereich führen. Dies hat dann eine Inaktivierung der Genexpressiondes auf diesem Abschnitt liegenden Genszur Folge.

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Wiederholt wurde ich gefragt, ob nicht ein bedeutsamer Paradigmenwechsel eingesetzt hätte, als im Jahre 1980 die Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS) im DSM-III auftauchte.

Die Fragen bezogen sich innerhalb einer diagnostischen Strategie auf die Ursache-Wirkungs-Relation und damit vor allem auf die Methodik.

Wenn ein Mensch einen Fahrradunfall erleidet, dann sind im Allgemeinen die resultierenden Verletzungen (z.B. Frakturen, Desorientierung, Hautabschürfungen usw.) auf den Unfall zurückzuführen. Ursache und Wirkung stehen in einer logisch erscheinenden Beziehung zueinander.

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