von Sepp Graessner
 

 Es besteht eine wechselseitige Verschränkung von Integration und Abwehr. Der traumatisierte Mensch kann sowohl integrieren als auch abwehren, Erlebnisse hereinlassen oder sein Inneres schützen und bewahren. Dieser Mensch verfügt also über beide Potenzen. Welche Option er im Angesicht von Bedrohung und Gewalt wählt, hängt nicht von seinem Bewusstsein ab. Er kann wohl auch Anteile des Bedrohungserlebnisses zugleich integrieren als auch abwehren. Beides sind aktive Beschäftigungen mit dem Reiz. Welche Form der Reaktion ergriffen wird, welche Sofortmaßnahmen in Gang gesetzt werden, das entscheidet der ganze Körper, nicht nur das Hirn.

Integration traumatischer Inhalte gilt allgemein als Ziel einer spontanen oder therapeutisch gestützten Bearbeitung. Ist ein Trauma integriert, d.h. von Bewusstsein durchdrungen, verliert es im optimalen Falle seine quälende Wirkung. Integration bedeutet nicht Vergessen oder Verdrängen. Mit der eindeutigen (selten!) Integration traumatischer Erlebnisse kann auch die Abwehr als abgeschlossen betrachtet werden. In welches Bild, in welchen stofflichen Rahmen wird das Erlebnis integriert? Was ist schon als gegeben vorausgesetzt, damit es zur Integration von „Überwältigendem“ fähig ist? Weltbild, Überzeugungen, Persönlichkeit, Identität? Alles zusammen? Hier sind noch viele Fragen ohne überzeugende Antwort, wenn man die unterschiedlichen Phänomene posttraumatischer Befindlichkeiten zugrunde legt. Es sind ja die unterschiedlichen Verläufe von Abwehr und Integration, die zu Fragen Anlass geben. Darunter die Frage, wie viel Bewusstsein eine Integration traumatischer Erlebnisse braucht. Das Geheimnis der vielschichtigen Verläufe posttraumatischer Symptomatiken wird in unterschiedlichen Präformationen gesehen. Es gibt also Menschen, die auf dieselben bedrohlichen äußeren Ereignisse mit differenzierender Integration und Abwehr antworten. Bei einigen Betroffenen scheint das Mischungsverhältnis von Integration und Abwehr eine Ausbildung posttraumatischer Symptome zu vermeiden oder abzuschwächen, während andere von der Wucht der Erlebnisse (als mechanisches Bild) umgeworfen und zur multiplen Symptombildung gedrängt werden. Die Vielfalt der symptomatischen Verläufe scheint einer Homogenisierung in Systematiken zu widersprechen.

Das traumatische Ereignis, d.h. die Produktion und Wahrnehmung von Schmerz und Erniedrigung, wird mit Hilfe von Sinnesorganen, cerebralen Abgleichen, selektierenden Ausschlüssen und durch das traumatische Gedächtnis angeeignet. Gerade das traumatische Gedächtnis wird zum Eigenen und Eigentlichen, dem alle Sorge gilt, entweder durch spontane oder bewusste Re-Inszenierungen. (Frage: Ist ein Narrativ von traumatischen Erlebnissen nicht schon von Bewusstsein durchdrungen, ja hat Bewusstsein zur Voraussetzung einer Erzählung, sodass allein die Emotionen als durch Unbewusstes hervorgebracht erscheinen?) Nach einer gewissen, aber unbestimmten Zeit kann das Trauma sich zur Eigenschaft wandeln, die sich mit der Identität oder Persönlichkeit einer traumatisierten Person oder eines Kollektivs verbindet. Das ist der Kern dessen, was man mit Integration meint. Integration von Traumata ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Selektion aus komplexen Kontexten stattfindet. Erniedrigung und Entwertung werden integriert, was an den reaktiven Empfindungen wie Wut, Rache, Niedergeschlagenheit usw. erkennbar ist, während viele andere Einfluss nehmende Faktoren marginalisiert werden. Unzureichender Blick auf den realen Kontext eines traumatisch wirkenden Ereignisses ist eine Form der Selektion, die zumeist auch die eigene Unterwerfung übersieht. In einer konträren, jedoch allgemein akzeptierten Auffassung wird heute konzipiert, Integration finde nicht statt, wenn und weil das Schreckliche bzw. der Schock des traumatischen Ereignisses daran hindere. Nach meiner persönlichen Auffassung hat aber sehr wohl im Anschluss an eine traumatische Situation eine Integration bzw. Aneignung stattgefunden, nämlich der bedrohlichen und entwertenden Anteile einer traumatischen Situation, was einer Konditionierung oder bedingten Reflexen entsprechen kann. Der therapeutische Diskurs bestimmt heute, dass Integration erst vorliege, wenn der störende Charakter der reaktiven Symptome entfalle. Die posttraumatische Störung wurzelt im Leiden, das Leiden wurzelt aber in der Realität, weshalb nur eine Bearbeitung der Realität Sinn macht, wozu vielen Therapeuten der Mut fehlt. Integration bedeute insofern eine (illusionäre) Befreiung vom traumatischen Gedächtnis oder eine Entschärfung  traumatischer Gedächtnisinhalte. Integration traumatischer Erlebnisse liegt folglich vor, wenn die Abwehr gegen das Ereignis, den Verursacher und deren Folgewirkungen zum Erliegen komme, wenn die diffuse emotionale Abwehr in einen kognitiven, vom Bewusstsein gesteuerten Status verwandelt werde. Eine erfolgreiche Transformation könne man am Resultat des geringer werdenden Leidensdrucks und der gelassenen inneren Befasstheit mit dem Reizauslöser ablesen, auch wenn man nicht sicher weiß, was das Bewusstsein eigentlich sei. In einem ebenso zirkulären, mechanistischen Bild legt der Diskurs fest, dass, wer Symptome posttraumatisch ausbilde oder gar daran leide, die erforderliche Integration nicht geleistet habe. Diese Sicht teile ich nicht. Integration bedeutet Selektion, und sie findet bei jedem Wahrnehmungsprozess statt. Eine vollständige Aneignung des traumatischen Kontextes ist auch mit therapeutischer Unterstützung nicht zu erreichen. Es ist fraglich, ob der therapeutische Diskurs überhaupt in der Lage ist, die wesentlichen Merkmale des jeweils subjektiven Kontextes zu erfassen.

Im Gegensatz zu anderen Ereignissen bereite das traumatische Ereignis Mühe bei der Integration, weil es keine geeigneten  Bewältigungsstrategien gäbe, heißt es. So jedenfalls konzipiert die Psychologie den Mechanismus. Dies gilt für die Entwertung aller als zuverlässig gehaltenen Prinzipien und Werte. Psychologie sagt, das Ereignis überwältige, bewirke Angst, Schrecken und Erstarrung als Sofortreaktionen und könne langfristig durch unwillkürliche Wiederholungen zu einer nicht erwünschten, emotionalen Bindung an das Ereignis führen, die aber nicht mit Integration zu verwechseln sei, weil eben noch keine Entschärfung der überwältigenden Angst eingetreten sei. Integration bedeute vor allem Entschärfung des Schreckens und anderer Begleitemotionen und sei im Wesentlichen positiv konnotiert. Natürlich ist auch denkbar, dass dem Aneignungsprozess von Grausamkeit und Schrecken, die ein Mensch einem anderen bereitet, psychophysische Schranken gesetzt werden, also eine Verweigerung der Integration einsetzt. (Es besteht keineswegs ein Imitationszwang bei ausgereiften Personen.) Bewältigung ist ein aktiver Vorgang, der von einer getriebenen und von Angst erfüllten Person geleistet werden soll und geleistet wird. Aktive Bewältigungsarbeit fordert unsere westliche Konzeption. Wer will schon sein Innerstes von der Gemeinheit und Grausamkeit eines gewalttätigen Anderen affizieren lassen? Wer sollte zulassen wollen, dass Grausamkeit und ein Machtmissbrauch in seiner/ihrer psychischen Identität Platz nehmen?  Ist also das Trauma genannte Folgephänomen nach lebensbedrohlichen Ereignissen nicht vielleicht nichts anderes als die verweigernde Abwehr des Verletzungswillens, der Machtanmaßung (Bartleby:„I prefer not to.“) und der Lebensbedrohung durch konkrete Andere, die nicht das Innere betreten sollen, denen die Eignung und der Eintritt in die individuelle Realität verwehrt werden? Wer sich all die Handlungen, Gefühle und Motive einer Schrecken verbreitenden Person nicht aneignen möchte und daher gegen die Integration der Vernichtungsmotive eines anderen kämpft, der soll krank sein, wenn sich sein/ihr Kampf zu lange hinzieht? Das entspricht nicht der Mehrzahl meiner Beobachtungen. Während sich also der wahrgenommene Zweck von Machtmissbrauch durchaus psychophysisch (durch die Vermittlung von Sinnesorganen) integrieren lässt, wird zugleich Abwehr gegen Eigenschaften des Gewalttäters mobilisiert. Auch Abwehr operiert selektiv. Gegen diese These eines Abwehrkampfes spricht die Erfahrung, dass Erniedrigte und Gedemütigte durchaus zu einer Integration der Tätermotive in der Lage sind, wenn sie Rache nehmen und dabei die Praktiken der ursprünglichen Täter imitieren. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass Personen, die sich mit Täterpraktiken identifizierten, den Abwehrkampf aufgegeben haben, nachdem sie die Machtverhältnisse eingeschätzt haben und sich ihrer posttraumatischen Angst entledigen wollten.

Wenn man sich hintergründig mit Rache beschäftigt, wird deutlich, dass in die psychische Bewältigung genau jene Gewaltpraktiken als Phantasie eingehen, deren Opfer man geworden ist. Man kommt vom Täter nicht los. Er bestimmt weiterhin das Denken und Fühlen seines Opfers. Das Opfer ist zum zweiten Mal bedroht, nämlich durch An-Eignung und emotionale Imitation so zu werden wie der Täter, seine Praktiken und Methoden zu übernehmen und zudem die in der Vergangenheit liegende Tat mit Selbstbeschuldigung und Scham in der Gegenwart anzuerkennen.

Die Unfähigkeit zur Bewältigung von überwältigenden Ereignissen ist eine willkürliche Setzung von Experten, die offenbar nicht für alle Menschen gilt. Sie wird aus einem Zirkelschluss gewonnen: Weil die traumatisierte Person leidet und Symptome ausbildet, ist sie überwältigt worden, hatte folglich nicht die adäquate Bewältigungsstrategie zur Verfügung, die bei einem Konflikt um den Parkplatz oder mit dem Vater noch wirksam war. Das Ereignis, behauptet die heutige Psychologie, führe dann nach Überwältigung ein Eigenleben wie ein durch Infektion unfreiwillig angeeignetes Virus, wodurch das traumatische Erlebnis (nach seiner Analogisierung und Klinifizierung) scheinbar folgerichtig in den Dualismus von Gesund/Krank gezerrt wird. Hat man also die Aneignung von Erlebnissen mit der Metapher der Infektion konzipiert, beschrieben und gesellschaftlich eingebürgert, dann erscheint eine bewertende und exklusive Pathogenese logisch, denn was an den Sprachgebrauch des Alltags anknüpft, beschreibt scheinbar zwangsläufig Realität. Infektion ist so negativ konnotiert wie Trauma. Beide Begriffe hieven und helfen sich gegenseitig in den klinischen Gebrauch.

Die traumatische Situation nehme nach ihrer Wahrnehmung in einer Art cerebralen Warteraum Platz und gelange in ihrer Sprachlosigkeit nicht zur Großhirnrinde, denn nur die wieder gefundene Sprache – die Ordnung der Zeichen -  erlaube die Absiedelung im Cortex. Erst der therapeutische Diskurs eröffne Wege und Versprechen einer möglichen Bewältigung. Wer nicht selbst bewältigen könne, müsse sich helfen lassen, müsse (mit)teilen. Der therapeutische Diskurs legt dann auch fest, wann eine Integration erfolgreich war und wann sie prognostisch stabil sein werde. Dazu gehöre für einen Traumatisierten (und dem stimme ich zu), dass er nicht nur sagen könne, das ist mir geschehen, das traumatische Ereignis ist jetzt mein eigentümliches Eigentum, sondern dazu gehört auch eine Wechselwirkung zur umgebenden Gesellschaft, die anerkennend sagt, das ist dir geschehen – ohne jede relativierende Bewertung. Individuelle Integration eines traumatischen Ereignisses benötigt beide Anerkennungen. Erst dann kann Traumabewältigung zum Bestandteil von Kultur werden, und sie ist dann nicht ausschließlich auf Therapeutik angewiesen. Jeder leise Zweifel oder jede Entmutigung, jedes registrierbare Unverständnis oder der ungehaltene Unwillen von einer dieser beiden Seiten verzögert oder behindert den Verlauf der Integration, jenen Prozess, der vom Ereignis als Zueignung zum Eigenen verläuft, d.h. ins Eigene durch Verschmelzung integriert wird. Denn es handelt sich beim Trauma (wie bei jeder bewussten Wahrnehmung) um eine Inkorporation äußerer Realität, ferner um eine physiologische Reaktion unbestimmter Dauer in diesem Prozess, der zur Wiederholung drängt. Dadurch dass der therapeutische Diskurs vorschreibt (und nicht nur beschreibt), in welcher Weise Integration abzulaufen habe, bringt er eine gewisse definitorische Strenge, ja Willkür ins Spiel, die bislang noch nicht von einer überzeugenden Theorie legitimiert wird. Bislang befinden wir uns im Zwielicht und registrieren wir nur Annäherungen an eine Lichtquelle.

Ich persönlich habe mich in der Begegnung mit traumatisierten Personen immer wieder gefragt, was ist der Sinn der Wiederholungen (darf man das überhaupt sinnvoll fragen?), dieser Automatismen, auf die ein Bewusstsein keinen Einfluss nehmen kann. In der katalogischen Beschreibung posttraumatischer Effekte nimmt die unwillkürliche Wiederholung traumatischer Gedächtnisbilder eine zentrale Position ein. Die Wiederholungen können identische Szenen oder Verwandlungen der traumatischen Situation aufführen. Immer aber sind sie mit einem zentralen Gefühl verbunden: dem (evolutionär gebildeten?) elementaren Gefühl einer Ungleichheit und einer Ungerechtigkeit. Demütigungen verursachen die Erkenntnis der Unterlegenheit, da sie die Anerkennung der Ungleichheit einfordern. Die Wiederholungen verweisen auf selbstgenerierte Prozesse des Gehirns. Kann ich also überhaupt einen Sinn in etwas erkennen, das sich unabhängig von Bewusstsein und kognitiven Zugängen vollzieht. Nun, ich kann meinen Vorerfahrungen und Vorstellungen von der Welt entsprechend die vorhandene Realität interpretieren und hernach einordnen und bewerten. Und ich habe vermutlich Dispositionen in meinen Anlagen, die Ungleichheit und Ungerechtigkeit mit Widerwillen und Unlust koppeln.

 

Wanderung ins Spielerische

 

Sprechen über die Realität heißt, diese zu interpretieren. Den Sinn der drahtlosen Telegraphie liefern die Natur mit ihren Gesetzen und Menschen mit ihren Zwecken. Eine Inszenierung des Gehirns, die sich aus dem Fundus unterschiedlicher funktionaler Teile bedient, lässt wenigstens zwei Interpretationen zu: Einmal bedeutet die permanente Wiederaufführung traumatischer Szenen oder Ausschnitte im Wachen wie im Traum, dass das Schreckliche nicht integriert, d.h. entschärft und entsorgt werden kann, weil es so schrecklich ist und allen anknüpfungsfähigen Vorerfahrungen und Identitätsmodellierungen widerspricht oder zweitens: das traumatische Ereignis, das von Menschen verursacht wurde, wird zwar inkorporiert, aber nicht akzeptiert, weil die Zentrale mit all ihren Erfahrungsabspeicherungen sich weigert, sich Elemente des Verursachers eines extremen Traumas anzueignen, d.h. von ihm zu lernen. (Wir gehen also von interpersoneller Gewalt aus, der häufigsten Form.) Akzeptanz und emotionaler Schrecken sind nicht nur graduelle Differenzen. Die meisten Therapeuten werden sagen: Beides ist wirksam, und was soll diese Unterscheidung? Wenn also das traumatische Ereignis zu posttraumatischen Leiden führt, dann wird die traumatische Situation im Ganzen als Ursache verantwortlich gemacht. Zur traumatischen Situation gehört der Kontext von Vor- und Wirkungsgeschichte. Kontexte haben jedoch keine eindeutige Randbegrenzung. Sie verzweigen sich in zahlreiche generationsübergreifende Wirkungen über die gesamte Menschheitsgeschichte.[1] Sie zeigen in analoger Weise die Form der fraktalen Figuration des Mathematikers Benoît Mandelbrot. Ich stelle mir dabei vor,  dass Kontextinhalte und -wirkungen sich  abschwächend in weitere Kontexte und Wirkweisen verzweigen, die strukturell dem Gesamtkontext eines traumatischen Ereignisses ähneln. (Unter Struktur verstehe ich in diesem Zusammenhang die vielfältigen Reaktionen auf Lebensbedrohung und Demütigung.) Am mikroskopischen Ende einer traumatischen Wirkungskette gelangen wir zur primären Angst und Konditionierung. Wir beenden daher Beschreibungen und Erforschungen des Kontextes willkürlich, weil wir sonst immer zu den Urmüttern gelangen würden wie bei allen konsequenten psychologisch begründeten Ursache-Wirkungs-Relationen. (Kinder verlängern gerne Warum-Fragen um immer neue Warum-Fragen, die von Erwachsenen willkürlich abgewürgt werden. Äußerst selten sagen Vater oder Mutter, dass sie nicht wüssten warum.) Wenn wir Bemühungen um Integration von extremen Traumata in Analogie zur Mandelbrot’schen Fraktale sehen, dann müssen wir einräumen, dass wir niemals entscheidenden Einfluss auf die Wirkungen der Vergangenheit nehmen können, jedenfalls, soweit sie sich im psychischen Individuellen abspielen. Das heißt, jeder Mensch bleibt ohne Einfluss auf die Handlungen seiner Großeltern. Er ist jedoch in der Gegenwart von solchen Handlungen betroffen, positiv oder negativ. Eine unzureichende Einflussnahme auf Vergangenes ist für Menschen offenbar schlecht auszuhalten, weshalb sie durch Neuerfindungen und Interpretationen die Vergangenheit integrierbar formen müssen. Transgenerationelle Weitergabe berührt nicht nur negative und unverarbeitete Erlebnisse. Sowie positiv bewertete Erlebnisse eine Person treffen, gelten sie als integriert, als verarbeitet. Offenbar muss ein Mensch sich nicht an positiv bewerteten Erlebnissen abarbeiten. Ich frage mich, ob das so stimmt?

Der grausame, antisoziale und Erniedrigung verursachende Täter nimmt im traumatischen Ereignis nur einen, wenn auch entscheidenden Platz im Kontext des Ereignisses ein2. Aber ist er nicht vielmehr das Zentrum der klinischen Betrachtungen? Ist die auf Macht und Willkür beruhende Beziehung nicht entscheidend? Sind der Gewalttäter und seine Handlungen nicht der Grund für die Verweigerung der Aneignung in das Selbst, für die Abwehr seiner Affekte? Und ergeben sich nicht unterschiedliche Verläufe nach Machtäußerungen durch Menschen und durch die Natur? Indem wir dem unbestimmbaren Inneren, der Psyche, die Fähigkeit zusprechen, sich zu wehren, Abwehr gegen äußere Realität zu mobilisieren, ordnen wir dem Inneren einen Maßstab zu, mit dem es entscheidet, was ins Haus gelassen und integriert und was abgewehrt wird, was uns affiziert und wovor wir uns schützen. Woher und wann tritt dieser Maßstab auf? Welche Faktoren beeinflussen die Bildung dieses Filters? Selbstverständlich müssten wir zur Beantwortung solcher Fragen angeben können, was genau abgewehrt wird. Was Unlust erzeugt? Was nicht nützlich ist? Was sich nicht in unsere erworbene soziale Realität einreiht? Es geht also um die Frage, ob das traumatische Ereignis mit seinen wahrgenommenen Wirkungen und Folgephänomenen oder vielmehr die Qualitäten des Täters abgewehrt werden und welches Schicksal dieser Komplex aus Erniedrigung/Gewalt und Abwehr nimmt, der sodann als innerpsychischer Prozess aufgefasst wird und autoimmune Gestalt, d.h. gegen das Selbst gerichtete Wirkungen  annehmen kann. Dies erscheint nach der klassischen mechanistischen Erklärung logisch, wonach es Ereignisse gibt, welche die Schutzhülle der Psyche durchschlagen können.

 

Oberflächliche Betrachtungen dieser Prozesse gehen davon aus, dass ein traumatisches Ereignis eine traumatisierte Person hervorbringt. Nach Angst, Schrecken und Erstarrung der Frühreaktion beginnt dann eine neue Zeitrechnung. Sie startet mit einer Übergangsphase, die in eine posttraumatische Symptomatik münden kann. Im Weiteren ergibt sich eine Wechselwirkung zwischen zwei u.U. weit auseinander liegenden Ereignissen der Vergangenheit und der Gegenwart. Alle Ereignisse der äußeren Realität, die wahrgenommen und eingelassen werden, können bei ausgereiften Menschen psychische Wirkungen entfalten. Das ist die simple Analogie zu den Hauptsätzen der Thermodynamik, wonach alle Prozesse, bei denen Reibung entsteht, ebenso irreversibel sind wie alle spontan in eine Richtung verlaufenden, von Energie angestoßenen Prozesse oder Mischungsvorgänge.

Offen gesprochen, (besser fantasiert): Wenn die Weltbetrachtung eine Frage der Interpretation ist, dann füge ich heiter der gängigen Betrachtung von Traumata eine weitere Interpretation hinzu. Meine Vorstellung von physikalischer Teilanalogie hat mir folgende naive These zum Mechanismus des Traumas im Anschluss an die Thermodynamik nahe gelegt:

Aggressive Energie (Schläge, Strom und jede Form der Gewalt oder negativer Impulse), die ihrerseits aus einem energetischen Umwandlungsprozessen (Erziehung, Erniedrigung, Drill) stammt, drängt aus bestimmbaren Zwecken auf einen Körper ein, Reversibilität wird durch Machtentladung und Vernichtungsandrohung für eine unbestimmte Zeit ausgeschlossen. Die Eindringtiefe der schädigenden Energie ist davon abhängig, ob sich um den psychischen Kern Abwehr aufbaut. (Der psychische Kern ist eine artifizielle Hilfskonstruktion, der lebenswichtige Reaktionen auf Umweltreize unterscheidet von solchen, die der Verzierung von Lebensqualität dienen und die daher Moden unterliegen.) Die Menge der Abwehr, die ein leibliches Durchwandern der Energie verhindern will, bestimmt die Vielfalt der (energetischen) Verwandlungen und Symptome, die der innere Kampf hervorbringt. (Ich meine, traditionelle ostasiatische Betrachtungen empfehlen, potenziell schädliche Energie einfach durchziehen zu lassen, sie also nicht in inneren Konflikten aufzuhalten.)

Schädliche Energie wird beim Eindringen durch den abgleichenden Wahrnehmungsapparat bereits identifiziert, wenn sie sich nicht raffiniert tarnt. Die Psycho- oder Neuroimmunologie beschreibt hypothetisch diesen Prozess. Sie muss unterschieden werden von positiver Energie, gegen die keine Abwehr gebildet wird. Schmerz und Unlust (samt stofflichen Begleitprozessen) sind die Unterscheidungskriterien. Diese sind in einem sozialen Kommunikationsvorgang als schützende Prinzipien um den psychischen Kern gruppierend organisiert. So wird folglich das ethische Regelwerk, das Orientierung und Selbstverständnis des westlichen Menschen formt, erst durch soziale Absprachen herausgefordert, eine Barriere gegen schädliche Energie eines gewalttätigen Menschen zu bauen, so dass zumindest ein Teil des Traumas seine psychische Wirkung den durch Sozialität gebildeten Werten verdankt, die als ursprünglich äußere Maßstäbe ins Psychische angeeignet wurden und als Überzeugungen gegen die eindringende quälende Energie in Stellung gebracht werden. So sind Gleichheit, Gerechtigkeit, Zusammengehörigkeit, Hilfsbereitschaft, Empathie z.B. die in unterschiedlichem Maße angeeigneten Größen, die durch schädliche und  machtgestützte Energie verletzt werden. Therapeutik von Laien und Professionellen ist daher gezwungen, Traumatisierten die äußere Herkunft ihrer verletzten Identität zu zeigen und wieder auf die äußere Herkunft zurückzuführen. Scham und Schuld als Selbstbeschuldigung  erhalten sich im Prozess des Festhaltens an den internalisierten Maßstäben. Dies aber kann weder explizite noch implizite Zielvorgabe von Therapie sein.

Die eingedrungene Energie macht eine Reihe von Umwandlungen durch. Wut, Rache, somatische Ausformungen, Dauererregung, Überwachheit, motorische Unruhe usw. sind Ausdrucksformen umgewandelter schädlicher Energie, die auf ein organisches System wirkt. Wenn also nach dem Energiemodell fortlaufend verletzende Energie transformiert wird, bleibt am Ende nichts von ihrem ursprünglichen Verletzungspotenzial übrig (was man mit Vergessen gleichsetzt), und es gilt der Satz von Eysenck, wonach die Psychotherapie genauso viel hilft wie die Zeit, die vergeht. Bleibt aber das traumatische Gedächtnis als Problem, das Archiv, das relativ energiearm unterhalten wird und sich als eigenes Organsystem eben nicht wie die Milz verhält, die von der traumatischen Situation  nur in der Sofortreaktion berührt wird. Zumindest weiß ich nichts von einem Milzgedächtnis, es sei denn man betrachtet die immunologische Potenz der Milz als Gedächtnis.

Nun lässt sich einwenden, die Methoden psychisch wirksamer Gewalt verhielten sich ganz anders als körperliche, ihre Energie ziele direkt auf die Schwächung der Abwehr, durch Imitation frühkindlicher Wahrnehmungsmuster durchlöchere sie die Abwehr ebenso wie durch Einschränkung von Sinnen und Motorik oder durch arglistige Lernprozesse. Die Drohung, die Erregung der Phantasie, die Entwürdigung und Erniedrigung kommen ja auch nicht ohne Energietransfer aus der Umwelt aus. Hier liegen die Schmerzrezeptoren nur an anderen Orten.

 

Bei der Transformation des Äußeren ins Innere, des Fremden ins Eigene handelt es sich um Sprachspiele (hier mit dem zentralen Zuordnungsbegriff Eigen) und bildhafte Ausdrücke (Metaphern), die insofern ihre Bedeutung haben, als es beim Denken, Deuten und Dichten, immer um Verwandlungen von Sprache geht. Der Erzählakt ist folglich zentral, weil er das Innere wieder rückverwandelt. Erst was erzählt und benannt wird, erhält in einem sozialen Rahmen eine spezifische, offenbarte Existenz. Natürlich sind Ängste und andere Empfindungen auch dann existent, wenn sie nicht berichtet oder verheimlicht werden. In einem sozialen Rahmen erhalten sie ihren spezifischen Charakter erst durch eine kommunikativ vermittelte Erzählung, d.h. auch durch Theater. Erst danach können solche Empfindungen (Wut, Angst, Impulsarmut usw.) Gegenstand von Forschung und Verstehen werden. Interessant ist dabei der Prozess der Selektion, also dessen, was erzählt wird, und was sich in der sozialen Situation des Erzählens an Beschneidungen des Faktischen und Ergänzungen ergibt, worauf Maurice Halbwachs schon hingewiesen hatte.

 

Universalität des Traumas, der Verletzung als Erlebnis ist regional, kulturell gebundene Realität. Universalität der Bedeutung von Traumata und deren Folgen darf man deshalb nicht automatisch annehmen. Die euroamerikanische Psychologie in ihrer Verbindung zu den Neurowissenschaften beansprucht, Gesetzmäßigkeiten im Bereich psychischer Reaktionen auf äußere Gewalteinwirkungen zu formulieren, die den Charakter von Naturgesetzen besitzen und daher Universalität einfordern. In derselben Weise also, wie ein Hammerschlag eine Knochenfraktur zur Folge hat. Die Vereinigung von Psychologie und Neurowissenschaften ist wohl auch nur deshalb zustande gekommen, damit sich die Deutungsdisziplin Psychologie die anerkannte und überzeugende Kraft der „exakten Wissenschaften“ borgen und ihren Geltungsbereich ausdehnen konnte. Universalität möchte sich auf Naturalisierung stützen. In der gleichen Weise, wie Menschen Riechorgane oder Motorik besitzen, verläuft auch ihre Integration von willkürlicher Gewalt und den Folgephänomenen. Solch eine Feststellung wird zur Realität, wenn man sie nur oft genug behauptet und sich scheut, Differenzierungen zuzulassen.

Im Kern geht es um die Universalität der Begegnung mit gewaltbereiter und gewaltfähiger Macht in allen Kulturen und andererseits um die Bedeutungen der Folgen von Machtäußerungen sowie die psychosozialen Verarbeitungspotenzen von Menschen in anderen Kulturen als den westlich orientierten. Universalität von psychischen Traumafolgen ist eine Behauptung, wishful thinking. Eine eher christliche Projektion ist die posttraumatische Bedeutungszuschreibung und die Sinngebung, die nach einem extremen Trauma einsetzt. Ob es sich um ein Beziehungsdrama, eine Prüfung, eine Gemeinschaft der Leidenden handelt, der Machtaspekt von Willkür unterliegt zahlreichen Verschiebungen, mit denen eine christlich geprägte Auffassung von Realität ihr Bild vom extremen Trauma formt, indem sie vom ursprünglich guten Menschen ausgeht, der zu allgemeiner Überraschung böse werden kann. Gut und Böse gibt es aber nur im Doppelpack. Eine Aufspaltung ist Ergebnis eines Wunsches, einer Hoffnung und hat mit Realität nichts zu tun.

Es ist daher systematisch strikt zu trennen zwischen (1) der auf einen menschlichen (d.h. tierischen) Organismus einwirkenden Gewalt und ihren Gründen, (2) der psychophysischen Sofortreaktion der jeweils Beteiligten und (3) den Langzeitfolgen, die Bedeutung und Sinn einfordern und im strukturellen und strukturierenden Gitterwerk kultureller Formation hängen bleiben. Der Universalismus vom Trauma findet in letzterem seine Grenzen, denn darin geht es um Interpretationen, und diese lassen sich nicht mit einer Konversion vom Glauben zum Wissen bestimmen (wie der zweite Faktor, der experimentell begründeten Stressreaktion). Interpretationen sind, wie die kulturelle Vielfalt belegt, immer für Alternativen offen. Es gilt keineswegs der Satz von der Alternativlosigkeit. Erst in einer Verknüpfung zu Ideologien oder Vorstellungsgebäuden mutiert die Interpretation zur unumstößlichen Wahrheit, nicht nur bei Gewalttätern. In verblüffender Weise übernehmen auch die Opfer diesen Mechanismus. Methodisch sind sich Traumaideologie und Täterideologie Verwandte. Diese wechselseitigen Bedingungen müssen in ihrem Kreislauf und ihrer Abhängigkeit voneinander durchbrochen werden. Beide zehren von der angemaßten Sonderstellung des Menschen in der Natur. Bei genauer Betrachtung existiert ein Psychotrauma nur bei Menschen, was in dieser Definition eine ungeheure anthropozentrische Willkür voraussetzt, die dazu einlädt, die Sonderstellung zur Supersonderstellung auszudehnen, zur Herrschaft von Menschen über Menschen. Die Alternative zu Macht und Herrschaft ist die Kooperation. Koexistenz und „survival of all“ brauchen unbedingte Kooperation. In ihr allein liegt die Chance realisierter Gleichheit.

Das individualisierte extreme Trauma der allgemeinen Lehre ist ein Zeugnis für eine unzulässige, jedoch praktische Reduktion und angesichts der Komplexität für eine Verkürzung des Kontextes. Bei vielen Anhängern der Traumalehre gibt es auch ein Zeugnis für zertifizierte Denkfaulheit und, weil Trauma an Alltagserfahrungen anzuknüpfen scheint, für undifferenziertes Nachplappern von Experten, die auch nur Anwender von Konzepten sind.

 



[1] Mit sich abschwächender Intensität erfährt ein heute lebender Mensch indirekt die traumatischen Erfahrungen seiner Eltern und anderer Verwandten. Die Eltern hatten an traumatischen Erfahrungen ihrer Eltern und deren kommunikativen Stil teil. Dabei ging es nicht so sehr um Methoden der Kommunikation, vielmehr um Inhalte, die Schuld und Scham bewirkten und daher in Geheimnisse und „Wahrheitsvariationen“ gekleidet wurden. Die psychische Struktur der transgenerationalen Weitergabe traumaintegrierender Techniken (oder deren Negation) bleibt insgesamt unverändert. Es hat in der Menschheitsgeschichte weder die totale Öffnung noch die komplette Abkapselung für traumatische Erlebnisse gegeben. Die Beichte als Offenbarung bezog sich stets auf die aktiven Traumatisierungen als Sünden, nicht auf die passiven, die man erlitt. Hierin liegt ein Wesenszug des Christentums: nicht die Sünden, die ein Mensch erlitt, werden gebeichtet, sondern die, die man selbst beging. Einen gewissen Täterschutz darf man in diesen Vorschriften und Techniken vermuten, weil ihnen vergeben wird.

[2] Das erscheint vielen bedauerlich, weil der Gewalttäter ebenso therapiert wird wie sein Opfer, das aktive Tun vom therapeutischen Standpunkt genauso dringend bewertet wird wie das vom Täter produzierte Passiv.