von Sepp Graessner

 Der US-amerikanische Anthropologe Allan Young hat als einsamer Rufer schon 1980 auf die Beziehung von Stressdiskurs und der wissenschaftlichen Reproduktion von allgemeinem Erleben und Wissen hingewiesen. Er hat zugleich, wenn auch nicht in vollem Umfang, die Tendenz von Psychowissenschaften beschrieben, durch kategorische Normen in Alltagswissen Grenzzäune einzuziehen, die im Bereich mentaler und psychischer Befindlichkeiten normal definierte Zustände von pathologischen trennen. Young hat sich in die Reihe der Skeptiker des klinisch angesiedelten Stressdiskurses gestellt und sich damit als Bedenkenträger gegen die posttraumatische Belastungsstörung zu erkennen gegeben. Aus dem einsamen Rufer ist heute ein Kammerorchester geworden, das den seriösen britischen Autor und Psychologen Christopher Brewin dazu veranlasste, die Geltungsmacht posttraumatischer Symptomcluster sowohl bei Befürwortern des Konzepts als auch bei Skeptikern zu sehen. PTSD sei heute keine uneingeschränkt gültige Diagnose. Obwohl Brewin sich zu den Befürwortern (saviors) zählt, räumt er den Argumenten der Skeptiker einen angemessenen Platz ein. Zuvor hatte Young noch erlebt, wie die wissenschaftliche Gemeinde seine Argumente einfach schweigend überging. Saviors und Skeptics ringen nicht um die Anerkennung traumatischer Erlebnisse – die sind unstrittig -, sondern um die breite Klinifizierung der Folgephänomene.

 

Youngs Argumentation hatte lediglich einen Mangel: Er stellte trotz philosophischer, anthropologischer und erkenntnistheoretischer Untermauerung seiner Bedenken nicht die Frage nach Interessen und Machtkonstellationen. Diese Frage hätte unweigerlich in die gesellschaftspolitische Realität geführt, in der sich die Kämpfe um Definitionshoheit im wissenschaftlichen Feld abspielten.

Das allgemeine Wissen in einem sozial strukturierten Verband besteht in der Erfahrung, dass zahlreiche physische und psychische Belastungen zu kürzer oder länger dauernden Leidensphasen führen und dass eine von solchen extremen Belastungen betroffene Person in ihrem Erleben, in ihren sozialen Ausdrucksformen, in ihrer Identität gestört sein kann und durch ihre Veränderungen post Trauma als störend aufgefasst wird.

Brauchen wir also eine solche Wissenschaft, die, statt sich um die Menschen zu kümmern, die nicht mit den posttraumatischen Symptomen und Erlebnissen zurechtkommen, Gefallen darin findet, Normen zu erfinden und sich selbst an der weit entfernten Seite der Leidenden zu feiern?

 

In einer alternativen oder analogen Betrachtung ließe sich die Tatsache, dass Menschen im Allgemeinen Haare auf dem Kopf tragen, wissenschaftlich bestätigen und dann in einem angeblich schöpferischen Akt in Kategorien einteilen, bei dem die Psychowissenschaften sich um die Ängste vor Haarverlust durch Androgene, Skabies, Raufen und beim Friseur besorgen (jeweils in randomisierten Studien), denn in tiefen Zonen können diese Ängste zu manifesten Syndromen führen und zugleich Komorbiditäten sichtbar machen. Diese konventionellen kulturell bedingten Ängste vor Verlusten von Gebilden, die zuvor zum Körper und zur Persönlichkeit gehörten und das Selbstbild formten, hat man exemplarisch, wenn auch nicht wissenschaftlich, am Leiden Berlusconis ablesen können. Haare und Haarverlustängste müssen sodann in einer heroischen Handlung, unterstützt von zahlreichen Studien und gedankenarmen Schnellschüssen (die zum Glück niemand verletzen), in eine hierarchische Reihung gebracht werden, die Therapeutik erforderlich macht und begründet. Es liegt ein Hauch von Politik über diesem Umgang mit Haaren und Haarverlust, denn die staatlich geförderte Forschung gewährt allein der Aufklärung von Risikofaktoren für Haarausfall finanzielle Mittel, wenn sie in internationalen Kooperationen durchgeführt wird. Fortlaufend neu bestimmte Risikofaktoren stellen das Eingangstor zu präventiven Strategien dar, indem sie Big Pharma gestatten, prophylaktisch medikamentöse Behandlungen zur Verhinderung von Risikofaktoren anzupreisen. Die Vorverlagerung von therapeutisch-chemischen Angriffen in das Kindesalter wird, so hoffe ich, irgendwann einmal als „crime against humanity“ zur Anklage führen. Die konzertierte Propaganda erzeugt derzeit noch jene politisch erwünschten Schuldgefühle über individuell unzureichend behandelte Risikofaktoren, von denen andere Industrien profitieren. Solche Schuldgefühle müssen nun nicht mehr durch Strafen und Repression erzeugt werden, sie entstehen autonom oder „weil ich es will.“ Wenn man sich ausmalt, dass auch Risikofaktoren sich unter Konstellationen entwickeln, die von Subrisiken gelenkt werden, ergeben sich grandiose Perspektiven für Big Pharma.

Solche Tendenzen hatte Allan Young noch nicht prognostiziert. Er war offenbar der Ansicht, dass im wissenschaftlichen Feld Diskurse aus Argumenten entstehen.

Mit klopfendem Herzen erwarte ich das DSM-V.