von PTSD-Symptomclustern
von Sepp Graessner
Zahlreiche Lehrbücher, Studien, populärwissenschaftlichen Publikationen und vor allem Zeitungen legen Wert auf die spezifischen Symptomcluster einer posttraumatischen Belastungsstörung, die nur nach extremen Traumata gleichzeitig, wenn auch mit einer gewissen Latenz auftreten und daher im Umkehrschluss beweisend seien für ein vorausgegangenes Trauma. Die Spezifität möchte ich anzweifeln, indem ich auf einen Prozess verweise, der in allen Gemeinschaften universelle Praxis ist.
Beim Erlernen, Anwenden moralischer Grundsätze, der Bildung von Gewissen, und bei deren Verstößen und Brüchen findet man eben jene Symptomcluster, die angeblich spezifisch für posttraumatische Belastungsstörungen gelten: Intrusionen, d.h. erstens situatives Wiedererleben konflikthafter sozialer Situationen, in denen Moral gelernt und oftmals mit Zwang, Drohung, Strafen über längere Zeiträume eingeübt wurde, und zweitens unwillkürlich einschießende Bilder, die von Emotionen begleitet sind, die jenen ähneln, die sich mit der Prozedur der primären Lernsituation von moralischen Grundsätzen verbunden hatten. Solche Emotionen, z.B. Angst, Lustgewinn aus Anpassungs- und Unterwerfungsbereitschaft, Erregbarkeit, Erniedrigungsgefühle oder Wut, müssen nicht als bewusst erzeugte in Erscheinung treten. Sie können sich aus verborgenen Winkeln, aus Kellergewölben melden. Der Horror des Struwwelpeter zieht an einem vorbei: Jedes Vergehen gegen elterliche Maxime endet in einer veritablen Katastrophe.
Man findet im Akt der Inkorporation von moralischen Gesetzen, die soziale Funktionen und Selbsterhalt stützen sollen, ebenso wie bei deren Erinnerung heftige Erregung wie nach Traumata und, ganz spezifisch, die eingeübten Vermeidungen von Verstößen gegen moralische Gesetze, die durch repetitive Bekenntnisse und Beichten konstant erneuert werden. Wenn nicht eine vielen Menschen innewohnende Tendenz zum Normverstoß unvermeidlich wäre, müssten Institutionen nicht zu Beichten, Eiden und ritualisierten Bekenntnissen greifen. Vermeidung lernt ein Mensch als Vorgang, indem er die geltenden Regeln trotz Unbehagens beachtet. Sie enthalten zumeist auch eine Pflichtenlehre, deren Einübung den primären Lernprozess nachhaltig werden lässt, d.h. der Körper drückt seine Lernerfolge durch positive oder negative Handlungen aus. Je nachhaltiger und tiefer verknüpft die moralischen Grundsätze in einem Kind, später in einer reifen Persönlichkeit verwurzelt sind, desto intensiver werden die Symptome ausfallen, die durch Erinnerungsprozesse im psychischen Leben einer Person ausgelöst werden. Die Erregung bei Verstößen gegen moralische, d.h. meistens religiös abgestützte Grundsätze, ist offensichtlich und kann bei eigenen ethischen Gesetzesbrüchen ebenso auftreten wie bei fremden beobachteten. Diese Erregung bei Verletzungen inkorporierter Moral kann durchaus zu Gewalt und zu Exzessen führen, zu Mord und Suizid.
Die Beobachtungen des Umgangs mit Moral erhalten ihre existenzielle Bedeutung dadurch, dass sie in Bezug zu einer Gottesfigur und Religion gebracht werden. Die allmächtige Figur segnet den Lernprozess und tritt zugleich als strafmächtige Instanz auf, der Rechenschaft abzulegen ist. Die subjektiv internalisierte Unterstützung, die moralische Grundsätze von einer allwissenden und allmächtigen Figur erfahren, ist mitverantwortlich für die Ausbildung der Intensität von Stressantworten nach Moralverstößen. Sie zeigt Ähnlichkeit mit posttraumatischer Symptomintensität.
Was hat nun PTSD mit Lernprozessen und Verstößen von moralischen Grundsätzen zu tun? Nun, einmal die Gleichzeitigkeit von Kardinalsymptomen Intrusion, Erregung, Vermeidung, zweitens die Provokation von Schuldgefühlen, die es nahe legen, die Ursachen der Stressreaktionen allein in den betroffenen Individuen zu lokalisieren. Handelt es sich bei der Überlebensschuld nicht um eine aus der Moral entsprungene Schuld, die als sehr subjektive und unmessbare Empfindung aufsteigen und die heftig ausfallen oder erfolgreich abgewehrt werden kann. Jede stichwortartige oder bildhafte Erinnerung an nicht abgewehrte Schuld vermag die Symptome zu aktivieren, und man kann annehmen, dass die Personen, die nach postmoralischen Verstößen unter Schuld leiden, die Grundsätze am tiefsten verinnerlicht haben. Schuld scheint nun auch bei traumatischen Erlebnissen für das Wirken der Symptomtrias mitverantwortlich zu sein. Über einen längeren Zeitraum tritt erfahrungsgemäß eine deutliche Abschwächung ein, bevor Vergessen einsetzt. Die allgegenwärtige Tendenz eines sozialen Umfelds, einem Opfer Schuld oder Teilschuld zuzusprechen, zeigt die Bedeutung der Schuldzuteilung, die eben auch zum Ritual der Selbstbeschuldigung werden kann.
Wegen der innigen Verwandtschaft der Spätfolgen moralischer Lernprozesse und posttraumatischen Befindlichkeiten darf man mit Fug und Recht der PTSD ihren Anspruch auf Spezifität der Symptomcluster absprechen. Möglicherweise soll die behauptete Spezifität und Kohärenz der Diagnose PTSD, die ethisch-moralische Verstöße und sicher auch posttraumatisch Symptome im Individuum verklappt, die Aufmerksamkeit von Folgen der frühen Gewaltprozesse für das kollektive Leben ablenken. Jedenfalls scheint der Lernprozess moralischer Grundsätze und Verhaltensweisen in sozialen Konstellationen zu erfolgen und mit frühtraumatischen Erlebnissen verbunden zu sein, aus denen die behauptete Verwandtschaft resultiert. Die unterschiedliche Spuren hinterlassenden Lernprozesse aus einem sozialen Rahmen und auf soziale Organisation hin belegen die unvermeidliche Beteiligung und Verantwortung der Umgebung für die ursprünglichen traumatischen Erlebnisse, die einer Rhetorik vom Urvertrauen eher widersprechen. Dies scheint für Missbrauch von Kindern und Kindheit zu gelten. Solche Lernprozesse, die auf Mittel der Angsterzeugung, Disziplin, Drohung sowie Zuwendungsentzug vertrauen, führen früh zu Angst und Wut und geraten automatisch in Widerspruch zum Vertrauen. Spätere traumatische Erlebnisse, wie auch immer sie beschaffen sein mögen, beziehen sich in ihrer Integrationsmöglichkeit auf diese Erfahrungen. Als These ließe sich formulieren: Extreme traumatische Erlebnisse im Erwachsenenalter sedimentieren posttraumatisch heftiger und dauerhafter, wenn die Integration von moralischen Normverstößen in der Jugend schwächer verankert wurde. Dadurch ist PTSD nicht durch Einzigartigkeit ausgezeichnet und die Diagnose gestattet auch keine Abgrenzung vom Normalen zum Pathologischen, indem sie sich auf ein zentrales traumatisches Ereignis bezieht. Ich glaube, posttraumatische Prozesse beginnen mit der Erfahrung von Risikoerlebnissen, die eine je individuelle Verletzlichkeit präformieren.
Wenn man akkurat die Entwicklung von Kindern in allen Parametern beobachten würde, könnte einem die Wirkung moralischer Erziehung und ihre Symptome generierende Bedeutung nicht entgehen, weil sich hierin die Forderungen der Gesellschaft unverstellt zeigen, zugleich als Wohl des Kindes proklamiert werden. Moral tritt als Wohltat für das Kind auf, Gesellschaft als Wohltäter.
Allerdings muss man konstatieren, dass Moral historisch Wandlungen unterworfen ist, besonders die durch religiöse Fundamente gestützte Moral/Ethik befindet sich heute abgeschnitten in der Nachhut der Debatte. Die allein auf Repression bauende Gesellschaft hat sich einer Art verändert, die auf Autonomie setzt. Diese Entwicklung gewandelter Ethik/Moral hat unterschiedliche Tendenzen aufscheinen lassen: Das Zielobjekt moralischer Lernprozesse ist nicht mehr ausschließlich das Kollektiv oder die soziale Gemeinschaft, sondern ein der Ökonomie überantworteter Prozess, der seine Regeln in der Exzellenz des Individuums und in einem neuen Zeitraster der Atemlosigkeit lokalisiert. Inhumanität ist die zwangsläufige Folge von Effektivität und Effizienz.
Normen, die aus Moral/Ethik abgeleitet werden, beziehen ihre Legitimation aus eben jenen ökonomischen Prinzipien. Die moralischen Lern- und Einübungsprozesse verlaufen in neuen Bahnen, zu denen entscheidend auch die fortlaufend erweiterte Diagnostik abweichenden Verhaltens beitragen. Das DSM ist in seinem raschen Wachstum ein Spiegelbild gesellschaftlicher Wandlungen und Prioritäten. Das Manual produziert Moral/Ethik durch Normen und schreibt moralisches Verhalten in Einklang mit den herrschenden ökonomischen Prinzipien vor.
Pierre Bourdieu hat eine solche Entwicklung prognostiziert:
„Sobald die Heilung der Seelen den Psychologen und Psychoanalytikern anvertraut wird, wandelt sie sich von einer normativen zu einer positiven Sache, geht man von der Suche nach Normen zu einer Suche nach Techniken, von einer Ethik zu einer Therapeutik. Neu ist das Auftreten von Professionellen der psychosomatischen Heilung, die im Glauben, Wissenschaft zu treiben, Moral betreiben, unter dem Deckmantel der Analyse moralisieren.“