Ein schlagendes Beispiel für politische Intervention im Traumafeld ereignete sich im Juli 1999 im US-amerikanischen Congress. Dort wurde einstimmig eine Resolution verabschiedet, die eine Brandmarkung und Verurteilung eines wissenschaftlich ausgewiesenen Artikels zum Thema hatte. Rund zwei Wochen später befand auch der US-Senat einstimmig den wissenschaftlichen Artikel für „severely flawed“. Richard J. McNally, Psychologe an der Harvard-Universität, machte uns 2003 mit den Fakten bekannt. Das Interesse McNallys war es, neben dezenter Empörung zu zeigen, wie kontrovers die damaligen (und heutigen) Erkenntnisse im Traumafeld rezipiert und gesellschaftlich diskutiert werden.
Was war vorausgegangen? Die Autoren Rind, Tromovitch und Bausermann hatten eine Metaanalyse in der Fachzeitschrift „Psychological Bulletin“ veröffentlicht, in der sie ihre Ergebnisse einer Untersuchung von 59 Studien vorstellten, die sich mit Langzeitfolgen nach sexuellem Missbrauch befassten. Danach waren sie zum Urteil gelangt, dass im Vergleich zu nicht missbrauchten Personen diejenigen, die sexuellen Missbrauch in der Kindheit erlitten hatten, nahezu dieselbe Anpassung geleistet hatten. Weniger als 1% der Abweichungen von psychologischer Anpassung waren auf sexuellen Missbrauch in der Kindheit zurückführbar. Das hatte riesige Empörung bis in die Talkshows ausgelöst, sodass sich der Congress zum Handeln aufgefordert sah. Dabei wurde verurteilt und gebrandmarkt statt gefragt. Es hätten sich zahlreiche Fragen angeboten. Sie wurden nicht gestellt. Man hätte z.B. die untersuchten Studien und deren Fragestellungen und Hypothesen unter die Lupe nehmen können, man hätte fragen können, wie viele der für eine Metaanalyse herangezogenen Studien von Männern und wie viele von Frauen angefertigt worden waren und wie die untersuchten Kollektive beschaffen waren. Rind et al. hatten sexuellen Missbrauch explizit verurteilt.
Stattdessen also ein politisches Diktum, das deutlich machen sollte, ein solches Ergebnis werde nicht hingenommen; es passe nicht in die Landschaft. Offenbar wussten die Abgeordneten und Senatoren, dass ein Resultat wie das von Rind et al. nicht stimmen könne. Es widersprach wohl ihren Erfahrungen. Möglicherweise hatten sie opportunistische Motive, um bestimmte Wählergruppen nicht zu brüskieren. Der wohl entscheidende Punkt ist, dass Opfergruppen im gesellschaftlichen Verständnis lebenslange Opfer bleiben müssen, eine Selbstbefreiung erscheint ausgeschlossen. Dabei riskierten die Kritiker die Verletzung der Forschungsfreiheit. Es kam dann nach der verabschiedeten Resolution zu Studien, die das Gegenteil von Rind et al. feststellten.
Sicher, es handelt sich um ein drastisches Beispiel für unangebrachte Einmischung in die Freiheit der Wissenschaft. Für Rinds et al. Metaanalyse konnten keine Mängel methodischer Art nachgewiesen werden. Die
Herausgeber der Fachzeitschrift hatten sorgfältig nachgeprüft, wie die inkriminierte Studie zustande gekommen war.
Nun sind direkte politische Interventionen in Forschungsergebnisse nicht mein eigentliches Anliegen, obschon sie zwingend Protest hervorrufen. Mir geht es eher um jene strukturellen Einflüsse im Traumafeld, die permanent kontroverse Forschungsergebnisse hervorbringen, als sei so gut wie nichts gesicherte Erkenntnis. Mir geht es um jene oft unbewussten Prinzipien, die als inkorporierte Antriebskräfte zu Motiven für Wissenschaft vom Trauma werden und deren bewusstes Auftauchen im Vor- oder Abspann einer Abhandlung wir schmerzlich vermissen. Diese Prinzipien sind im Allgemeinen gut verwahrt an der Grenze von Sauber und Schmuddelig, von Gut und Schädlich, von Vorteilhaft und Nachteilig. Wissenschaft vom Trauma und seinen störenden Folgen lässt sich nur scheinbar neutral betreiben. Da es sich um lebendige Menschen handelt, die Forschungsgegenstand sind, gehen alle denkbaren Impulse in die Bewertung von Ergebnissen ein. Diese Impulse reichen von unbeirrbarem Mitleiden bis zur heftigen Abwehr von empathischen Empfindungen. Nirgends sonst lässt sich durch Hierarchie und Verwaltungsakte abgedrosselte Empathie besser studieren als bei den Ausländerbehörden.
Fortschritt in der Traumaforschung erfolgt im Schneckengang. Man ist immer wieder verblüfft, wie kompliziert und komplex sich psychische Alltagserlebnisse darstellen. Traumatische Erlebnisse und ihre späteren Verläufe sind noch ungleich komplexer. Als ob sie sich der entschlüsselnden Erforschung entziehen wollten! Der wissenschaftlich sich gebende externe Betrachter hat in jedem Fall das Privileg des letzten Wortes. Im Bereich der Humanwissenschaften werden stündlich neue Untersuchungen zu traumatischen Erlebnissen durchgeführt und abgeschlossen. Eine überzeugende Theoriebildung hat davon bislang nicht profitiert. Sie wäre eigentlich zu Beginn therapeutischer Bemühungen zu erwarten bzw. zu fordern, um „try and error“ zu vermeiden.
Ungenügende Erkenntnisse und gegensätzliche Resultate verweisen einmal auf problematische Grundlagen der Wahrnehmung und Bewertung des traumatischen Geschehens und seiner Folgephänomene. Zum anderen scheinen in die deutlich voneinander abweichenden Ergebnisse unterschiedlich gewichtete und gewertete Fragestellungen und Interessen einzugehen. Dies mag auch für das o.a. Beispiel gelten. Der Zeitgeist bildet fraglos ein Fundament für finanzierte Forschungsinteressen an traumatischen Erlebnissen und die Orientierung an Ergebnissen, die an Alltagserfahrung affirmativ anknüpfen. Letztere unbestreitbare Tatsache hat einen Sog von Engagierten zur Folge, von denen einige vor Fundamentalismus, Fanatismus und missionarischem Habitus nicht zurückschrecken. Der Zeitgeist – soviel ist sicher – kann bekanntlich auch in die Irre führen. Die weitaus meisten Studien fassen retrograd erhobene Erinnerungen von Betroffenen zusammen. Deren Validität gerät von Zeit zu Zeit unter Verdacht. So stützt sich McNally auf eine Untersuchung an US-Veteranen, die eine Verbindung von traumatischen Erinnerungen/Symptomen mit
Kompensationszwecken zum Inhalt hatte: Burkett & Whitley (1998) hatten investigativ nach Veteranen geforscht, die als angebliche POW in nordvietnamesischer Gefangenschaft Zahlungen für dauerhafte PTSD erhalten hatten. Sie kamen zu Schätzungen, wonach 75 % der bestätigten Fälle ihre Geschichte und/oder ihre Symptomatik erfunden hätten. Damit hätten die US-Behörden ein Problem, das an den Kampf um die „Begehrensneurosen“ nach dem Weltkrieg I in Deutschland erinnert. Wer in den USA einmal wegen dauerhafter PTSD eine lebenslange Entschädigungszahlung nach dem aktiven Militärdienst erhielt, konnte, wenn er sich von der Symptomatik erholte, in die Armut fallen. Man kann folglich sagen, dass nicht für alle Veteranen die Normalität das ersehnte Ziel mancher ihrer Handlungen und Erzählungen darstellte. Vielmehr richteten sie sich in der Abweichung ein und verteidigten das abnormale Territorium.
Mit Flüchtlingen aus dem früheren Jugoslawien gab es entsprechende Dissonanzen. Sie erhielten einen Aufenthaltstitel, wenn sie als traumatisiert eingestuft worden waren. Für den Fall einer Gesundung hätten sie das Aufenthaltsrecht eingebüßt und wären nach z.B. Bosnien abgeschoben worden, weshalb sie sich in einer Falle wähnten und eine Gesundung trotz Therapie bewusst oder unbewusst verweigerten.
Traumapolitik bedeutete in diesen Fällen sowohl humanitäre Betrachtung von politischen Gewaltschicksalen als auch durch Verwaltungsakte eine Unmöglichmachung von Gesundung trotz Rehabilitation. In Berlin zog sich daher für Tausende die endgültige Entscheidung über Jahre hin. Zuvor war allerdings ein Kampf um die Diagnose PTSD entbrannt, indem willfährige Polizeipsychologen und Gutachter mit unguten Impulsen generell der von Fachleuten gestellten Diagnose PTSD widersprachen und deren Beurteilung aufhoben. Dabei kam es in zahlreichen Fällen zu Verletzungen der Sorgfaltspflicht, der notwendigen Einzelfallprüfung, der professionellen Sprachvermittlung. Wegen der großen Zahl an Antragstellerinnen, der geringen Zahl an Professionellen, des großen zeitlichen Aufwands wurden allerdings auch Diagnosen gestellt, die nicht immer auf gewissenhaften Prüfungen beruhten.
Das Problem basierte auf den Mängeln der Diagnose PTSD, die ein traumatisches Ereignis zwingend erforderlich machte. Dieses konnte zwangsläufig nur berichtet werden und lag unter Umständen viele Jahre zurück. Eine Überprüfung musste nach dem Katalog des DSM-III und nach mimischen Zeichen oder dem Verhalten stattfinden. Objektive Kriterien gab es weder auf der Seite der Behörden noch auf Seiten der Diagnostiker. Es gab lediglich unterschiedliche Formen der Empathie und der Interessen. Oft stand Tagespolitik gegen Moral. In diesem Spannungsfeld ging es nur marginal um traumatisierte Menschen nach ihrer Flucht. Es ging schlussendlich um Biopolitik, um Zuwanderung von qualifizierten jüngeren Arbeitskräften, wahrscheinlich sogar um eine Legitimation von Militäreinsätzen, die mit der Verhinderung von Tod und Traumata begründet wurden.
Das zentrale Problem bei der Anwendung der Diagnose PTSD besteht darin, dass die Ambiguität, die der Traumapolitik zugrunde liegt, nicht immer eindeutige Entscheidungen zulässt. Engagierte Helfer möchten Verletzten zu Hilfe kommen, zuweilen gehen sie auf Wahrheitssuche. Sie möchten die physiologischen und psychologischen Mechanismen von Psychotraumata ergründen und verstehen. Sie übersehen aber leicht, dass sie und ihre Anliegen zum Gegenstand von Politik, ja überhaupt nahezu alle Arten von Subjektivität zum Spielball von Politik werden. Es entstehen (mit Billigung von Pharmaindustrie und Versicherungen) neue Diagnosen, mit denen zeitgenössische Politik gemacht wird. War das bei der „Erfindung“ der weiblichen Hysterie eigentlich anders? Psychische Typisierungen haben immer auch soziale Auswirkungen, die stigmatisieren, ausgrenzen und gebieterisch das „Normale“ vorschreiben.
Dank an Leyla Schön für relevante Literatur:
Richard J. McNally: Progress and Controversy in the Study of Posttraumatic Stress Disorder. Annu. Rev. Psychol. 2003. 54: 229-252.
Rind B., Tromovitch P., Bausermann R. (1998) A Meta-analytic Examinination of Assumed Properties of Child Sexual Abuse Using College Samples. Psychol. Bull. 124:22-53.
Burkett BG, Whitley G.(1998) Stolen Valor: How the Vietnam Generation Was Robbed of its Heroes and its History. Dallas, TX:Verity.