(Streifzug durch Varianten)

 

 

Zwei Felder machen sich die Definitionshoheit über den Begriff Resilienz streitig: die Psychologie und die Ökonomie . Wenn wir die Materialkunde hinzurechen, sind es bereits drei unterschiedliche Felder. Wenn wir ferner den aktuellen Krisenmanagern zuhören, kommen wir auf vier von einander unabhängige Felder. Das ist nicht ungewöhnlich. Vielfach werden abstrakte Begriffe in mehreren Disziplinen verwendet, und dabei kommt es zu Akzentverschiebungen oder gar Neubestimmungen, sodass wir vor babylonischen Verwirrungen stehen, die eine Kommunikation erschweren oder unmöglich machen.

         In einem früheren Beitrag hatte ich Resilienz von der Materialkunde abgeleitet und mit psychosozialen Bedeutungen wie Elastizität, Flexibilität oder Widerstandsfähigkeit aufgeladen und übersetzt. Drei Begriffe, die nicht als deckungsgleich verstanden werden können. Elastizität bedeutet wohl eher, dass eine nachlassende Krafteinwirkung zur  Rückkehr in die ursprüngliche Position führt. Flexibilität bedeutet ausweichende oder unterschiedliche Reaktionen auf Gewalt, kann auch versuchte adäquate Anpassung erzielen. Widerstandsfähigkeit meint eine Art Gegengewalt. Einer extrakorporalen Krafteinwirkung wird eine Kraft, die im Körper liegt, entgegengestellt, getreu dem Foucault’schen Dogma, dass sich Gegenmacht entwickelt, wo Macht ausgeübt wird.

         Eine psychosoziale Resilienz bildet sich nach meinem Verständnis aus bearbeiteten Erlebnissen und Erfahrungen in sozialen Verbänden: Eltern, Geschwister, Nachbarn, Schule, Freunde, Lehrer, Institutionen.

Sie ist ein Hauptmerkmal für Individualität und zugleich für die sozialen Dimensionen eines lebendigen Organismus. Sie kann schwach oder stark ausgebildet sein, was wohl von der Summe der positiven Erlebnisse abhängt.

         Nun ist vor einigen Jahren, weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, eine verkürzte Bedeutung von Resilienz aufgetaucht, die eine Verbindung zur Materialkunde nicht mehr erkennen lässt. Die Akzentverschiebung durch einen Ökonomen und Nobelpreisträger reduziert Resilienz auf den Begriff der Anpassung, zu der man nicht mehr mit Zwangsmitteln gedrängt werden muss, sondern durch „Stupsen“ (nudging) angeregt wird, eine Entscheidung vom Vorsatz zum Handeln zu bringen. Resilienz könne folglich konstruiert werden. Das ist das Mantra der Psychooptimierer, der optimal Angepassten, des enhancements, welches durch Gurus und Obergurus wie z.B. Boris Cyrulnik* verkündet wird. Die mildere Form des Zwangs kann bereitwilliger akzeptiert werden, weil Zufriedenheit, Glück und Erfolg im Mainstream winken.

Wenn, wie die Verfechter eines  Konstruktivismus von Resilienz behaupten, Resilienz bewusst erschaffen werden kann - in Frankreich geht Macron sehr kreativ mit Resilienz um - dann kann dieser Vorgang wie in der Werbung manipuliert werden. Das bedeutet, Anpassung kann durch stupsendes Nachhelfen  erreicht werden und verhindert im Erfolgsfalle jede Kritik, jeden Widerspruch und jeden Widerstand.

Als Prototyp einer gelenkten Anpassung gilt die aufgeklebte Fliege im Urinal, die beim Zielpinkeln zu Jagdeifer verführt  und bewirkt, dass die Reinigungskosten sich deutlich vermindern. Ob dieses Exempel ausreicht, um einen Bedeutungswandel von Resilienz einzuleiten, sei dahingestellt. Das Ziel bleibt eine gigantische Manipulation, die Anpassung an die gesellschaftliche Stromlinienform herstellen will. Diese soll nun nicht durch Verbote und Repression bewirkt werden, sondern durch sanftes Stupsen. Dadurch kann man das Bewusstsein vernachlässigen. Die Philosophin Barbara Stiegler sieht in diesem Projekt eine infra-bewusste Modellierung unserer Verhaltensweisen. Man darf sich durchaus fragen, ob die Mechanismen, die auf Anpassung orientieren, weitere Tricks benötigen. Schließlich herrscht in der angepassten Mitte sowieso ein chaotisches Gedränge. Wo Gedränge herrscht, entstehen Aggressionen. Die Pandemie hat dies vor Augen geführt.

Wir sollten uns weiterhin von der Bedeutung der Elastizität und Widerstandsfähigkeit leiten  lassen, wenn wir es mit traumatischen Erlebnissen und traumatisierten Menschen zu tun haben. Resilienz fördert nicht nur eine kreative Verarbeitung von Leiden, sie ist zugleich das oftmals unerwünschte Resultat eines lebendigen Lebens, weshalb sie nicht ein konstanter Quell von Kraft sein kann. Resilienz darf wohl nicht mit einem Besen verwechselt werden, mit dem man traumatische Folgesymptome wegfegen kann. Aber sie scheint Teil eines Psychoimmunsystems zu sein, das der Überwindung von Leiden dient.

 

Die Ideologisierung eines Begriffs ist ein schlechtes Beispiel für die Kaperung dieses Begriffs durch die Ökonomie, die mit dieser Wandlung und ihren Zwecken dem Kontrollsystem des Status quo dienen will.

 

  • * Boris Cyrulnik (2001) Die Kraft, die im Unglück liegt. München:Goldmann
  • Ders. (2006) Warum die Liebe Wunden heilt. Weinheim/Basel: Beltz
  • Ders. (2002) Mit Leib und Seele. Wie wir Krisen bewältigen. Hamburg: Hoffmann und Campe
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Angeregt durch einen Artikel von Evelyne Pieillier in „Le Monde Diplomatique“ vom Mai 2021, übersetzt von Andreas Bredenfeld.