Die posttraumatische Belastungsstörung, die inzwischen längst das psychiatrische Milieu verlassen und sich in der Alltagskultur niedergelassen hat, war immer und ist aktuell weiter ein rein westliches Konstrukt. Westlich meint in diesem Zusammenhang eine spezifische Wahrnehmung, Bewertung und Beeinflussung von Ereignissen in der Welt und ihre Ablagerung in der (zumeist) individuellen Psyche sowie Redeweisen über diesen Mechanismus, die nicht mit Erklärungen und Beweisen verwechselt werden dürfen. Als westlich kann nicht nur die beschriebene Symptomatologie nach traumatischen Erlebnissen bezeichnet werden. Vielmehr ist auch die empirische Forschung zur Psychotraumatologie ein westliches Projekt, das auf die Aufklärung zurückgeht und bei dem sich Macht, Neugier und Kontrollphantasien innerer Prozesse bemächtigen wollen, die zuvor in die Zuständigkeit der Religion gehörten. Auch heute noch bezieht der Impetus zur Aufklärung posttraumatischer Befindlichkeiten seine moralischen Antriebe aus dem Christentum. Daher ist das Verbreitungsspektrum der PTBS vor allem in den Ländern oder Regionen festzustellen, die christlich geprägt sind oder unfreiwillig geprägt wurden.
Kurze Bemerkungen zu Subjekt und Subjektivität
Der Begriff „Subjekt“ sollte im Bereich des Psychotraumas in seiner unscharfen und relativierenden Bedeutung akzeptiert werden. Jeder Mensch ist Subjekt, ist ein Gewordener, der zahlreiche Einflüsse in sich aufgenommen hat und mit diesen bewussten oder unbewussten Einflüssen, die zumeist mit Sprache einhergehen, sein Handeln vollführt. Er ist nicht erst Subjekt, wenn er über sein Subjekt-Ich nachzudenken beginnt, wie Descartes bestimmte. Subjektivität setzt sich aus einer Fülle verarbeiteter und unverarbeiteter Wahrnehmungen zusammen, die eine jeweils subjektive Realität entstehen lassen, was Dressur oder Disziplinierung zu verhindern suchen. Dabei entspringen nur wenige Handlungen rein kognitiven Impulsen. Mehrere verwandte Realitätsbetrachtungen lassen eine ähnliche rationale und emotionale Methodik des Zugangs zur Realität und zu deren Bewertung annehmen. Wenn im fortgeschrittenen Alter das Denken über das Ich beginnt, können Zweifel an der Doktrin, wonach allein das denkende Ich existiert, nicht ausbleiben, aber sicher nur, wenn Zweifel auch als konstruktive Öffnung zugelassen werden und nicht, wie bei uns üblich, als „notwendiger“ Zwang zur Definition des Selbstbildes in Erscheinung treten. Das Denken über das Subjekt-Ich und jede externe Macht und Gewalt machen aus dem Selbst ein Objekt. Das könnte durchaus als Kränkung erscheinen, wenn es als schwierig oder unmöglich wahrgenommen wird, aus dem Objektstatus herauszutreten, was bei posttraumatischen Symptomen angenommen wird. Wenn sich der Objektstatus mit negativen und schmerzhaften Erlebnissen anreichert, wird es in der Tat schwer, sich von den handlungsbestimmenden Elementen des Selbst und Objekts zu emanzipieren.
Zum traumatischen Gedächtnis
Kein Streit im wissenschaftlichen Raum wird so verbittert ausgefochten wie die Kontroverse um das traumatische Gedächtnis, einem Gebiet also, der sich in seiner Arbeitsweise, Lokalisation, seinen Registrierwegen und seinen Äußerungsformen nur spekulativ oder angenähert beurteilen lässt. Ein großer Teil der Kontroverse rührt aus, vermute ich, der unzureichend verstandenen Bedeutung des impliziten Gedächtnisses und der Analogie des traumatischen Gedächtnisses, die vom Schmerzgedächtnis abgeleitet wird. Der Phantomschmerz, der ohne Bewusstsein generiert wird, habe eine Entsprechung im traumatischen Gedächtnis und in den Flashbacks eines traumatischen Geschehens. Während aber der Schmerz ein rein physiologisch-chemischer Prozess ist, tritt beim durchaus schmerzhaften traumatischen Geschehen eine kulturell-gesellschaftliche Komponente hinzu, die das Ereignis als negativ bewertet und abwehren oder vermeiden möchte wie jedes schmerzassoziierte Geschehen, das Unlust erzeugt. Der Schmerz wird im Allgemeinen vergessen; er ist nicht bewusst abrufbar, vielmehr nur präsent, solange chemisch-zelluläre Prozesse ihn fühlbar machen.
Gibt es eine plausible Beziehung von geschichtlichen Kräften des Neoliberalismus und seinen Wirkungen zur individuellen Psyche? Man ist selbstverständlich versucht, diese Frage mit ja zu beantworten. Warum denn sonst sollte eine neue von der Ökonomie ausgehende Ideologie sich ausbreiten, wenn sie nicht, wie jede reale Wahrnehmung, die Psyche der Individuen erreichen und verändern wollte? Und wenn diese neue Ideologie mit direkter oder indirekter Gewalt zusammengeht, können auch Traumata resultieren. Spekulative Überlegungen machen hintergründiges Vergnügen, können jedoch auch erschüttern.
Mit Thatcher und Reagan bereitete sich die neoliberale ökonomische Rationalität auf ihr globales Zerstörungswerk vor, obwohl zu Beginn ihrer Regentschaft ihr Programm eher nur in einer Ausdehnung des freien Marktes lag. Aber dann legte der Neoliberalismus, angefacht durch den Zusammenbruch des realen Sozialismus, erst richtig los und zudem angetrieben von einer Geringschätzung staatlicher Wohlfahrt und Regulierung der Wirtschaft durch hinderliche Gesetze.
„PTSD continues to serve a political purpose.“ ( Blog Fred C. Alford zu Trauma und PTSD, Januar 2017)
Zur posttraumatischen Belastungsstörung, zur somatischen Symptom-Störung (SSD) oder heute: somatische Belastungsstörung sowie weiteren seitenfüllenden Diagnosen im DSM-5, die mit Definitionen als Entdeckungen auftauchen, aber in dialektischer Weise wohl eher die Entdecker definieren, sollen hier einige Überlegungen ausgebreitet werden, die mich ins Grübeln versetzt haben. Besonders die SSD nimmt eine Stellung im DSM ein, die methodisch und von der Zuordnung etliche Fragen aufwirft. Es geht bei etlichen Diagnosen im DSM-5 um Sachverhalte, die scheinbar auf der Hand liegen und daher keinen Zweifel zulassen. Und was auf der Hand liegt, kann nicht nur von Zauberern zum Verschwinden gebracht werden. Manchmal reicht genaues Beobachten und das Befragen von Begriffen.
Beginnen wir mit einem Ausschnitt aus einem Abstract von 9 Autor*innen: It... (somatic symptom disorder, S.G.) „defines the disorder on the basis of persistent somatic symptoms associated with disproportionate thoughts, feelings, and behaviors related to these symptoms.“ Folgende Autor*innen, von denen ein Großteil aus dem biostatistischen Hause stammt, übernehmen die Verantwortung:
Dimsdale JE, Creed F, Escobar J, Sharpe M, Wulsin L, Barsky A, Lee S, Irwin MR, Levenson J. schreiben dies in ihrem 2013 veröffentlichten Artikel „Somatic symptom disorder: an important change in DSM“. (Journal of Psychosomatic Research, 75 (3) S. 223-228.)
Hier wird ziemlich wörtlich übernommen, was Robert L. Spitzer 38 Jahre zuvor im American Journal of Psychiatry 1975 132:11, 1187-1192 in einem Aufsatz:„Clinical criteria for psychiatric diagnosis and DSM-III“ formuliert hatte, wenn auch in einem anderen Zusammenhang und wohl auch zu einem anderen Zweck. Er meinte u.a. auch PTSD, der er eine somatische Grundlage/Folge unterstellte. Er schrieb:
Im folgenden Einwurf sollen nochmals die Entwicklung und phänomenale Ausbreitung des Traumadiskurses und der beteiligten Akteure anhand von Stichwörtern wie Rhizom, Netzwerke und Theoriebildung skizziert und in seinen diagnostischen und politisch-moralischen Implikationen lediglich kursorisch behandelt werden und vielleicht als Anregung dienen.
Die Theoriebildung wurde bei der Veröffentlichung des DSM-III bewusst vernachlässigt, als sich der moderne Traumadiskurs, der über rund 10 Jahre eine Verbindung von Vietnamkrieg und dem Leiden der Veteranen herzustellen bemüht war, als „Wahrheit“ sich durchgesetzt hatte und neue Betrachtungen auf Opfer, Gewalt und vor allem auf die Folgen von willkürlich verursachten psychischen Verletzungen ermöglichen sollte und dies auch erreichte. Indem Symptome der Veteranen phänomenologisch beschrieben wurden, die sich dann zu einer Diagnose etikettierend verdichteten, konnte zwangsläufig auf eine Theorie verzichtet werden. Die innere und logisch wirkende Beziehung schien auf der Hand zu liegen: Die überfordernde Wahrnehmung von Gewalt und Lebensbedrohung bewirkte bei nahezu jedem Betroffenen akute oder chronische Symptome.
Die sozialen Bewegungen der reaktionären Rechten saugen nicht nur die Ausdrucksformen der linken Protestbewegungen auf – vor fünfundzwanzig Jahren hielten sie sich noch schamhaft in Sälen auf, heute machen sie Sit-ins, organisieren Begehren als „Volksbegehren“, provozieren in grober wahrheitswidriger Weise und gehen gegen die Eliten auf die Straßen – sie stilisieren sich ergänzend auch als Opfer, die von einer bestimmten politischen Kaste und den „Fremden“ produziert werden, die, so hört man aus reaktionären Kreisen, über kein Bewusstsein der Bedeutung von Rasse, Reinheit und Rausschmiss verfügen.
Sepp Graessner
Rufen wir uns noch einmal ein Statement aus der Frankfurter Rundschau vom 23.11.1993 in Erinnerung. Da hieß es klug und weitsichtig vor 25 Jahren:
„Für jeden Menschen gilt, was Folterüberlebende im Exil in besonderem Maße betrifft: Entwurzelung und Orientierungsmangel, Sinnkrise und Zerfall der vormals organischen, natürlichen Gemeinschaften, erzwungene Mündigkeit angesichts von allzu vielen verschwommenen Optionen, all dies sind geschichtliche Kräfte, die der einzelne auch als persönliches Problem erfährt, deren Ursachen jedoch nicht primär in seiner individuellen Biographie liegen, sondern dieser vielmehr in umgekehrter Weise den Rahmen vorzeichnen.“
Bei Überlegungen zum Kern von Traumata sollten wir uns auf die im Zitat angesprochenen „geschichtlichen Kräfte“ einlassen, da von diesen geschichtlichen Kräften Motive und Handlungen ausgehen und begründet werden, die Wenige in Behaglichkeit, sehr viele aber in traumatisches Leiden führen. Diese geschichtlichen Kräfte liegen bis auf sehr geringe Ausnahmen nicht in der individuellen Biographie, sondern sie bilden den mit repressiven Maßnahmen ausgestatteten (staatlichen) Rahmen, in dem alltägliche und besondere Erlebnisse ausgehalten und bearbeitet werden müssen, und zwar ohne Einwilligung des Einzelnen und ohne seine unmittelbare Verantwortung. In diesem Rahmen, den wir leichtfertig Freiheit nennen, kommt es im Laufe der individuellen Entwicklung zur Begegnung mit Ressourcen der Bewältigung von alltäglichen und speziellen Stressoren; d.h. die Summe der Ressourcen ist nicht nur eingeengt, sondern auch unterschiedlich verteilt, weil es große und kleine, eiserne, goldene und hölzerne oder papierene Rahmen gibt, die den Spiel- und Leidensraum begrenzen.
vonSepp Graessner
Ich muss wohl noch einmal von vorne beginnen bei meinen Überlegungen zum Thema Trauma und einige Bemerkungen in Frage stellen. Immer wieder habe ich versucht, eine Definition von Trauma vorzulegen, was heute eher als unzureichend, ja unlogisch gelten muss. Die klinische Diagnose PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) habe ich in ihrer Brauchbarkeit, wie ich glaube, hinsichtlich des wissenschaftlich verwendeten Begriffs PTBS (oder komplexe PTBS) zu Recht heftig kritisiert. Was wohl falsch war, waren meine Bemühungen, mit sprachlichen Mitteln eine Definition von inneren Prozessen nach traumatisierenden Erlebnissen zu formulieren. Man kann einfach nicht einerseits behaupten, dass Traumata, d.h. posttraumatische (besser: poststressige) Verläufe extrem unterschiedlich verlaufen und an- und abschwellen und andererseits eine Definition von Trauma aufstellen, welche die Differenzen nivelliert. Trauma ist Leiden, und Menschen können auf vielfältige Weise leiden. Man kann natürlich aus Erfahrung auslösende Konstellationen für innere traumatische Prozesse beschreiben, man wird aber nicht darum herumkommen, den Auslöser von den Folgen zu trennen, und nur die Folgen bestimmter Erlebnisse soll man Trauma nennen. Der oder die Auslöser heißen Stress, und es ist durch willkürliche Expertenmeinungen festgelegt, dass sich traumatischer Stress von gewöhnlichem Stress unterscheidet. Sprachliche Definitionen von psychischen Befunden und Verläufen sind zudem anmaßend, weil sie eine unüberbrückbare Kluft zwischen der Sprachlosigkeit der Leidenden und der Sprachmacht nichtbetroffener Therapeuten unterstellen.