Rasche Gedanken zu einem Aspekt von Traumapolitik von Sepp Graessner

Immer wieder strande ich bei Überlegungen zu den Symptomen der posttraumatischen Belastungsstörung an den Begriffen der Norm und des Normalen. Ich ereifere mich über Normierungen bei Kindern (ADHS) und will mich nicht abfinden, dass es notwendig sein soll, willkürlich Normales zu bestimmen und Normen des „gesunden Verhaltens“ zu definieren und von pathologischem Verhalten abzugrenzen. Während Industrienormen Konstruktionen erleichtern, kann ich den Sinn im diagnostischen Bereich auf den ersten Blick nicht erkennen. Sobald man aber die drastische Zunahme von pathologisch definierten Abweichungen des Verhaltens in den letzten 15 Jahren betrachtet, kommt einem spontan in den Sinn, hier werden Arbeitsplätze geschaffen. Da Arbeitsplätze zugleich ein Gewinn für Politik darstellen, erfährt die Ausweitung der Diagnosen von dort Unterstützung. Aber reicht diese Erklärung aus? Geht es nicht vielmehr um biopolitische Standards, die latent politisch befürwortete Schuldgefühle in den Bürgern wachrufen sollen, weil diese Schuldgefühle angeblich kreative Motive darstellen? Braucht es nach der Überwindung von Klassenschranken nicht neue Trennschärfe, die nun der Psychiatrie überlassen wird? Und ist die Psychiatrie wirklich geeignet, Grenzlinien in das menschliche Verhalten, vor allem bei Kindern, einzuziehen? Sie kann ja Normen nicht repressiv durchsetzen.

Wenn man auf die Suche nach Gründen für die Normierungen im diagnostischen Prozess geht und unbewusste Antriebe ausschließt, dann mag sich die biologistische oder evolutionäre Betrachtungsweise anbieten. Sie hat zwar Schwächen, indem sie von Kollektiven ausgeht, deren z.B. posttraumatische Resultate nicht ohne weiteres auf Einzelpersonen übertragbar sind. Diese Schwächen haben aber schon in Zeiten eines regierenden Sozialdarwinismus kaum zu Protesten geführt, weshalb er auch nicht verschwunden ist.  Auch die logische Betrachtung zerschellt am Riff einer trägen Praxis. Die egoökonomische Variante wird im Allgemeinen von den Protagonisten indigniert zurückgewiesen, und die historische ist nicht zielführend, weil es sich um eine Geschichte mit sehr verborgenen Motiven handelt, die so manche Psychoarchäologen überfordern würde. Bleibt wohl nur die diskursanalytische, die deshalb Hegelsche Wahrheit beanspruchen kann, weil sie widersprüchlich daherkommt.
Auf der Suche nach Normierungsgründen im biologisch-pathologischen Bereich stoßen wir rasch auf zwei Begriffe, deren Nutzen darin besteht, tieferes Nachdenken zu ersetzen: Vererbung und Anpassung. Der Mensch erkennt in der Natur prägende Normen; das entlastet ihn auch in Bereichen, wo Normen zweifelhaft sind. Nach der Lehre Darwins sind Vererbung und Anpassung diejenigen Kräfte, die potenziell zur Neubildung befähigt sind, was Goethe schon ahnte und Ernst Haeckel in den 1870/80er Jahren in die Ohren deutscher Akademiker posaunte.

Während die Vererbung im Regelfall Gleiches oder Identisches hervorbringt und insofern sich konservativ gibt, ist die Anpassung für die Vielfalt einer Art verantwortlich, weil sie äußere Morphologien zu variieren in der Lage ist. Dieser Prozess, die gesamte Gestalt in Beziehung zu Umwelteinflüssen zu setzen, gilt bei Menschen auch für innere Normenanpassung, die je nach Perspektive, Umwelteinflüssen und Erfahrungen unterschiedlich ausfällt, folglich Vielfalt und die Differenz zwischen Wollen und Sollen repräsentiert. Die Pflanze oder das Tier, so Haeckel, sind in ihrem Erscheinungsbild und ihren Funktionen durch Anpassungsleistungen an äußere Lebensbedingungen veränderbar, ja sie können zugrunde gehen, wenn sie zu diesen Leistungen nicht fähig oder bereit sind. Der Mensch funktioniert nach denselben Prinzipien.

Vererbung sucht folglich ein Kontinuum zu bewahren, während Anpassung sich dem allmählichen Wandel durch die Bedingungen einer Umwelt geöffnet hat, die für Menschen mit offenen Augen einer fortwährenden Veränderung unterworfen ist. Wandel scheint heute schneller zu verlaufen als früher.

Im menschlichen Sozialleben ist nun alles auf den Kopf gestellt und hat sich von natürlichen Prinzipien verabschiedet. Die Anpassung soll nun Kontinuität herstellen. Die Gesetze der Vererbung sind kaum gezielt zu beeinflussen, weshalb die Anpassung zum Angriffspunkt sozialer Interventionen geworden ist und radikale Forderungen formuliert. Mit dem Mittel der Disziplin und Strafandrohung wird Bestätigung des Status quo durchgesetzt. Offenbar gibt es keine Garantie für die Fähigkeit zur Anpassung. Sie könnte sonst auf die auf Angst gegründete Disziplin verzichten, deren permanente Wiederholung zum Alltag der Pädagogik gehört. Diese Beobachtung untermauert den Verdacht, dass ursprünglich Chaos herrschte und nun Disziplin und Anpassungsgebote Ordnung herstellen sollen. Zum Leidwesen von Kindern sind es viel mehr Gebote als zehn. Beide Charakterzüge haben längst biologische Bedeutungen erhalten und sind damit zu Grundpfeilern evolutionärer und epigenetischer Entwicklungen geworden, zu Eckpfeilern, die von einer seriösen Bauaufsicht nie genehmigt worden wären. Die Anpassung an klimatische Bedingungen wird leicht verwechselt mit der Anpassung an Gehorsamsleistungen. Es ist verblüffend, dass eine Million Jahre Menschheitsgeschichte noch immer nicht zur genetischen Fixierung von Gehorsam geführt hat. Gehorsam Normen gegenüber muss immer wieder neu gelernt werden. Das sollte zu denken geben.

Was haben nun Normierung im diagnostischen Bereich und Anpassung miteinander zu tun? Verkürzt ließe sich sagen: Für die realen humanen Unterschiede einer pädagogisch durchgesetzten Anpassung werden gestaffelte Erfolgskriterien formuliert. Um Erfolge oder Misserfolge zu definieren, welche die Menschheit gliedern, braucht es Normen, die offenbar einem ökonomischen Bedürfnis nach Selbstbeschreibung und vergleichender Beurteilung, d.h. Abgrenzung entsprechen und sich an idealisierten Zuständen orientieren. Eine diskursanalytische Durchdringung würde an dieser Stelle fragen, wer und wann den idealen Zustand definiert hat. Meine Definition lautet: Es war in grauer Vorzeit das Gutböse, das noch eins war und das Ziel des Lebensstrebens formulierte. Mit der Aufspaltung fing das Leiden an. Der Ursprung ging verloren.

Nun verlaufen jene Anpassungsstörungen, welche nach extremen Ereignissen auftreten und welche die Psychiatrie normativ formuliert hat, dadurch, dass sie negativ konnotiert sind, einer gewünschten oder gesellschaftlich geforderten Kontinuität zuwider. Dabei ist unerheblich, ob die Anpassung an ein Gleichgewicht innerer Prozesse oder an äußere Umweltbedingungen misslungen ist. Es ist nie ganz klar benannt und bewusst wolkig gehalten worden, welche Anpassung gestört ist: die Anpassung an ein Schrecken verbreitendes Ereignis oder die Anpassung an einen psychischen Scherbenhaufen, jene therapierbaren Symbole extremer Ereignisse oder die Anpassung an den Sinn eines demütigenden Ereignisses, damit es zu einem inneren werde. Bedeutsam scheint allein, dass Anpassungsstörungen eine Kontinuität der Werte und Ordnungsbegriffe, die aus dem Sozialleben durch Macht und Interessen gebildet wurden, verhindern. Streben nach Homogenität ist daher ein wichtiges Prinzip und das erlösende Ziel der Forderung nach Anpassung. Allerdings bringt diese Form der Anpassung keineswegs neue Morphologien hervor. Eher kann sie Leiden verursachen, indem ich als z.B. Kind gezwungen werde, mich ausschließlich mit den Augen der anderen zu sehen. Die Normen der anderen werden zu meinen Maßstäben, was vermutlich mit rhetorischem Freiheitsgesülze abgemildert werden muss. Und eine solche Homogenitätsanpassung kreiert keine positiven inneren Morphologien, wenn man davon ausgeht, dass äußere Veränderungen immer auch innere zur Folge haben. Im Gegenteil: Es entstehen oft handfeste Konflikte, wenn jemand durch eigenwillige Anpassung gegen das Homogenitätsprinzip verstößt.
Allein hierin ist der Grund zu suchen, warum soziale Verbände zumeist willkürlich Normen bestimmen, die, wie in unserem Fall, Anpassung von Anpassungsstörung unterscheiden. Solche Anpassung besteht vornehmlich auf fetischisierter Disziplin, die ihrerseits zu (neurotischen) Störungen befähigt. Sozial operierende Gruppen sind nur in schmalen Feldern, wenn überhaupt, an Heterogenität interessiert. Sie begnügen sich selten mit nur etwas Homogenität. Eine eher unbewusste Totalität wird zum Maßstab für gelungene Anpassungsleistungen. So halte ich das Opfer des eigenen Lebens für die am meisten missratene Anpassung.
Wer sich in der Homogenität einrichtet, verzichtet auf das Staunen, wer Homogenität favorisiert, erhält nicht Sicherheit sondern Langeweile. Die Spannung der Partnerwahl entfällt, Verkümmerung zahlreicher Sinneserlebnisse wäre die Folge. Selbstverständlich sind homogene Gesellschaften leichter zu regieren und zu manipulieren.


Hierin liegt unbestreitbar ein Muster der Ökonomie. Der Markt der Ökonomie ist weit gehend auf Konkurrenz angewiesen. Konkurrieren kann aber nur, was gleich ist oder gleiche Funktionen hat. Ungleiches lässt man weder im Körperlichen noch im Geistigen in Wettstreit treten, sieht man einmal von Sendungen mit Dieter Bohlen ab. Die Gewichtsklassen beim Sport sind ebenso genormt wie die Teilnehmer an Quizveranstaltungen. Der Vorteil im Wettkampf wird heute in mentalen Fähigkeiten, in strategischen Prognosen und Selbstreflexion (Schamvermeidung) gesehen, sodass eine Differenz der Exzellenz resultiert. Man startet als scheinbar Gleiche und entwickelt dann Unterscheidungsmerkmale auf der Basis von Illusionen, die abgrenzen und ausschließen können. Scheinbar, sage ich, weil „natürlich“ immer schon Differenzen im Spiel sind, die den Habitus Bourdieuscher Prägung ausmachen. Unterschiede sind bereits in der Frage angelegt, wer die Spielregeln (Normen) bestimmt und wer bei Verstößen über Sanktionen urteilt.
An dieser Stelle kommt auch der Zwang zur Normierung auf den Plan. Normen begnügen sich nicht mit der Feststellung von Identischem, ja sie widersprechen ihr elementar. Normen haben ambivalenten Charakter. Sie ziehen abgestufte Differenzierungen in das morphologisch und vordergründig Gleiche ein: Güteklassen, Handelsklassen, Werturteile, Preise, Qualitätsunterschiede usw. Bei der diagnostischen Normierung mentaler Befindlichkeiten ist ein ähnlicher Differenzierungsdruck am Werk. In einem positiven Sinne kann man behaupten, Normierungen ermöglichten erst ein Bewusstsein für Vielfalt, indem sie Abweichungen bestimmen. In solcher Vielfalt sind die Normen stets mit bewertenden Urteilen und ihren Antagonismen verknüpft. Gewiss, lieber und leichter wäre uns die Einheitlichkeit des Denkens und Fühlens. Vielleicht aber auch nicht.


Wenn heute von Migranten Anpassung gefordert wird, so meint der Begriff eine tief greifende Assimilation als einseitigen Prozess. Die Minderheit, die morphologisch unterschieden sein kann, soll nicht nur die formalen Gesetze der Mehrheitsgesellschaft achten, sie soll darüber hinaus auch die ungeschriebenen kulturellen Gesetze, Normen und sozialpsychologischen Antriebskräfte inkorporieren und in Handlungen ausdrücken. Das Andere oder das Fremde wird nur toleriert, wenn es auf dem Weg zur sozialpsychologischen Homogenität ist. Vielfalt ist weltweit auf dem Rückzug, wie Franois Jullien wiederholt feststellte. Nun ist Anpassung im Kern keine durch einseitigen Zwang hergestellte Einbahnstraße. Auch die Mehrheitsgesellschaft wird zumeist ohne Zwang von Anpassungsarbeit erfasst trotz ihres trägen Beharrungswunsches. Das führt eben zu den bekannten Konflikten und Zwangsphantasien. Homogenität hat, dem Sinn nach, den Begriff des Volkes ersetzt, meint in weiten Teilen aber dasselbe. Mit dem nicht unbedeutenden Unterschied, dass über den Zugriff nach dem Inneren durch Lebens- und Verhaltensnormen ein totaler Anspruch undeutlich wird. Uniformität kommt nun aus dem Inneren der Menschen, muss nicht mehr über militarisierte Rituale eingepflanzt werden. Das Werkzeug ist die dauerhafte Erfahrung von unterschwelligen Angststimuli. Über die Forderungen der jeweiligen Kultur wird dadurch eine Sicherheit suggeriert, eine Sicherheit, unter Gleichen (mit denselben Problemen) zu sein. Mit dieser authentischen Erfahrung möchte jeder der rein rhetorischen Gleichheit entgehen. Vielfalt wird und wurde schon immer als Unsicherheitsfaktor, als Unordnung konzipiert. Die Forderungen nach universeller Gültigkeit von Gesetzen, vom Wesen des Menschen  und von Betrachtungsweisen der Dinge haben keinen anderen Zweck, als Sicherheit zu schaffen, auch wenn Vielfalt dabei auf der Strecke bleibt. Dieser Wunsch nach universeller Sicherheit wird, wenn er naturalisiert wird, zur Falle, wenn nicht alle Hierarchien verschwinden. Es gibt keine Sicherheit mit Hierarchien. Die Macht, die scheinbar von Normen ausgeht, lenkt von dahinter stehenden Hierarchien ab und verdunkelt diese. Der Vorteil in der Betrachtung von Fremden und ihren verweigerten Anpassungsschritten liegt darin, dass sie die Chance von Anarchie offen halten. Wäre auch diese Chance verstellt, müssten wir einsehen, dass Hierarchie am Beginn aller Traumata steht.