1.Teil: Vermeidung
von Sepp Graessner


Vorbemerkung

In nicht ganz verbissener Form denke ich über den Katalog der Symptome nach, die sich zur Diagnose: „posttraumatische Belastungsstörung“ verdichten können. Rechthaberei liegt mir fern. Als Rentner kann ich sie mir zwar leisten, mit Rücksicht auf die vielen Praktiker und Praktikerinnen trete ich das Privileg aber bereitwillig ab, nicht aus Bescheidenheit, denn diese führt heute zu nichts, sondern aus guten Gründen. Wer über individuelle Phänomene, die Menschen zu Krankheitssymptomen erklären, nachdenkt, landet eher im tiefen Zweifel als in weiß bekleideter Sicherheit. Wer über den posttraumatischen Symptomkatalog grübelt und nicht andere grübeln lässt und nur Konzeptanwender oder Leser von Beipackzetteln ist, der wird Mühe haben zu urteilen und Zweifel zulassen müssen. Zunächst möchte ich den Begriff Vermeidung, und was er bedeuten mag, durchkneten. Man wird sehen, ob der Teig aufgeht.

Zu Symptomen werden diejenigen Selbstbeobachtungen nach traumatischen Ereignissen erklärt, die in gehäufter, signifikanter Zahl von Betroffenen geäußert werden. Da es kaum objektivierbare posttraumatische Beschwerden gibt, muss man zwangsläufig auf posttraumatische Schilderungen zurückgreifen und zugleich einräumen, dass die Berichte von Betroffenen sehr unterschiedlich ausfallen. Extreme Traumata scheinen „unermesslich“ zu sein. Sie sind keineswegs Zustände. Sie schwingen innerhalb einer Bandbreite von Befindlichkeiten. Sie werden als heftig, zuweilen als weniger heftig, zuweilen ohne Heftigkeit bezeichnet. Äußere posttraumatische Einflüsse und Erwartungen aus der Umwelt, situative Erinnerungsauslöser, Kommunikationsstile und –inhalte und emotionale Korrespondenz spielen bei der Selbstwahrnehmung traumabedingten Leidens eine große, oft unterschätzte Rolle.
In einem Zirkelschluss wird mit dem Symptomkatalog argumentiert: Weil das auslösende Trauma Ähnlichkeiten zu dem vieler anderer Menschen aufweist, lassen sich die Folgephänomene nach traumatischen Ereignissen mit den katalogisierten Schilderungen vorausgegangener „Trauma-Opfer“ abfragen. Eine abweichende Reaktion wird nicht in Rechnung gestellt. Wenn A nach dem Erlebnis E die Zeichen XYZ schildert, muss B nach dem Erlebnis E gleichfalls die Zeichen XYZ aufweisen. Beide Menschen haben denselben physiologischen Apparat, folglich fallen auch die psychologischen Folgephänomene gleich aus. Diese Gleichung hat mich stets verwundert, weil sie belegt, dass der Spielraum für Individualität in bedeutenden Fragen offenbar sehr klein ist. Allerdings sind sich einige Psychotherapeuten darin einig, dass hier ein Problem besteht, weswegen sie die „partielle posttraumatische Belastungsstörung“ eingeführt haben. Diese lässt nun alle möglichen Varianten und Zwischenstufen zu. Wenn nun Traumata auslösende Ereignisse jeden Menschen im Verlauf seines Lebens treffen, hat jeder Mensch Anspruch auf eine Behandlung seiner zumindest partiellen Belastungsstörung. Im folgenden Beitrag geht es auch um Lücken eines solchen Pragmatismus.

Allgemeines

Vermeiden ist in scheinbar paradoxer Weise mit Handeln verheiratet. Wann immer Menschen handeln, d.h. aus vielen Möglichkeiten eine Handlung auswählen, selektiv handeln, vermeiden sie die anderen möglichen Handlungen bewusst, unbewusst oder als Automatismus. Vermeiden ist konstitutiv für Menschen. Man vermeidet bewusst nur, was man schon kennt. Insofern stellt Vermeiden eine Handlung dar, der Erinnerung an aufwühlende Ereignisse aus dem Weg zu gehen.
Das westliche Denken und Schematisieren ist von Dualismen geprägt, denen man sich nur schwer entziehen kann. Dualismen haben immer wieder zu Überlegungen geführt, wie Zwischentöne anzustimmen, d.h. vielfältige Zwischenräume in dualistische Gedankengebäude einzuziehen seien, besonders wenn man sich unbehaglich fühlt bei der Feststellung, im dualistischen Denken von Gegensatzpaaren sei der einen Bezeichnung ein positiver Wert zugeordnet, während der andere abgewertet werde. Die hierarchische Beziehung von Gegensätzen fällt bezeichnend am Beispiel von krank und gesund, von verletzt und vernarbt oder von symptomatisch und symptomarm ins Auge. Eine normative Bewertung treibt uns zu Entscheidungen, die niemals eindeutig sind, vielmehr ambivalent erscheinen. Wir vermeiden daher die gleiche Gültigkeit von Dualismen, indem wir wegen der darin enthaltenen Ambivalenz normativen Setzungen folgen, statt Entscheidungen, z.B. im diagnostischen Bereich, für ein Dazwischen zu öffnen oder uns durch Unentscheidbarkeit nicht unter Druck setzen zu lassen. Indem wir Kategorien bereithalten, die posttraumatisches Fühlen und Verhalten als Krankheit qualifizieren, haben wir uns für eine negative Konnotation posttraumatischer Phänomene (nach einer bestimmten Toleranzzeit) entschieden, der eine positive durch wirksame Therapie gegenübersteht. Ein Bisschen Glauben ist immer dabei.
Angemessene Vermeidung setzt einen intakten neuronalen Apparat voraus. Vermeiden ist daher nicht passives (Ver)-Halten, indem wir jegliches Handeln einstellen. Vermeiden im katalogischen Sinne ist posttraumatisch vielmehr Handeln mit Zielen und Zwecken unter Umgehung einer bestimmten Handlung oder Handlungssequenz, denn nur aus Handlungen erwachsen Stimuli für traumatische Erinnerung. Aus vernünftigen Gründen oder weil ausgelöste oder befürchtete Emotionen Vermeidung ratsam erscheinen lassen. Angstgefühle oder konkrete Furcht sind ein wesentlicher Grund für Vermeiden. Vermeiden von Handlungen hat prognostische Dimensionen, die Unlust abwenden wollen. Vermeiden ist die antizipierte Fortsetzung einer negativ konnotierten Erzählung. Was Menschen bedrohlich erscheint, führt im Allgemeinen zur Vermeidung. Was so tief wie die Vermeidung (engl. avoidance) in der menschlichen Orientierung in Raum und Zeit verankert ist, wie kann dies zu einem mentalen Krankheitskriterium werden? Was hat sich die Evolution dabei gedacht, als sie ihre Prinzipien der Wissenschaft überließ? Wenn wir also sagen, dass alle Entscheidungen, die wir treffen, nicht ohne Vermeidung auskommen, an welchem Punkt und für wen schleicht sich dann Vermeidung störend in Entscheidungen und Handlungen? Welche Formen der erkennenden Handlungen sind uns durch Vermeiden verstellt? Müssen wir bewusst das betrachten, was uns Schmerzen bereitet? Der psychotherapeutische Imperativ sagt uns in seinem Argwohn, es gäbe positive und negative Vermeidung. Dafür stünden die Experten mit ihrem guten Namen. Die negative Vermeidung sei die zwanghafte, die positive Vermeidung nennt man Lernen, denn Lernen ist nichts anderes als das Vermeiden gesellschaftlich definierter Fehler. Wenn Hygiene das Vermeiden physischer Infektionen ist, dann ist Psychohygiene ein Vermeiden von „Infektionen“ der Seele. Das große Geheimnis liegt darin, sicher zu bestimmen, wodurch ein Trauma oder Gewalterlebnis eine „psychische Infektion“ hervorruft und wie dieser Mechanismus verläuft. Letztlich natürlich auch, was sich die Evolution dabei gedacht hat, wenn sie denken könnte.

Wer kann und nach welchen Maßstäben sicher feststellen, wann ein Vermeiden von schmerzhaften Erinnerungen, Stichworten und Orten als Teilbereich einer pathologischen Symptomatik anzusehen ist, wann folglich phobisch genannte Züge anzunehmen sind, die sich von „normalem“ Vermeiden als vernünftiges Verhalten in der Realität unterscheiden? Wann also ist ein erlebtes Ereignis geeignet, pathologisch eingestufte Vermeidung zu bewirken? Und wie viel Subjektivität mischt sich auf beiden Seiten in die Beurteilung? Ist die Technik der menschlichen Vermeidung nicht individuell und differenziert zu betrachten, so dass sie sich Schemata entzieht?
Die Antworten stehen im Katalog für posttraumatische Befindlichkeiten und definierte Syndrome, im DSM oder im ICD-10, wo der unruhige, hyperaktive Jugendliche oder ein professionelles, erschöpftes oder traumatisiertes Selbst sich aufgereiht finden wie Kleider in einem Theaterfundus. Es handelt sich um Kriterien, die aus sozialer Absprache und aus regelbewusster Übereinkunft entsprungen sind. Eine gewisse Willkür, eine gewisse Karriereförderung und ein gewisser Innovationsstolz, die durchaus aus differenzierten Beobachtungen stammen mögen, lassen sich kaum leugnen. Jede Beurteilung von Menschen, auch wenn sie ihrem Wohl gewidmet ist, enthält stets eine Machtposition, die vor- und umsichtige Selbsterfahrung der urteilenden Person oder des klassifizierenden Erfinders einfordert. Der Wissende hat immer Macht gegenüber dem Fragenden, der Schnelle gegenüber dem Zögerlichen, der Handelnde gegenüber dem Verweilenden.
In dieser Welt lässt sich der Kontakt mit Macht nicht vermeiden, zumal die Macht tausend Verkleidungen trägt. Wer dauerhaft ohnmächtig ist, zieht Grenzen zur Macht und meidet die Mächtigen. Die Mächtigen vermeiden bewusst weniger Handlungen als die Ohnmächtigen, was schon in ihrem Habitus angelegt ist. Für die Ohnmächtigen scheint Vermeiden konstitutiv zu sein und gleichfalls in ihrem Habitus ausgeformt. Sie würden sonst permanent rebellieren, wenn sie nicht schon bedeutende Anteile der Macht anerkennend und unterwürfig inkorporiert hätten. Allerdings als unbewusstes Vermeiden von Realitätssequenzen aus der psychischen Tiefe können die Mächtigen mit den Ohnmächtigen durchaus mithalten.
Als psychischer Prozess steht Vermeidung mit Abwehr in enger Beziehung. Vermeidung kann sowohl als bewusste als auch als unbewusste Abwehr gedeutet werden. Insofern scheint Vermeidung ein wesentlicher Mechanismus von generalisierter Abwehr zu sein. Eine erfolglose oder vergebliche Abwehr führt zu Vermeidungshandlungen, in denen sich der wiederholte Versuch einer Abwehr zum Schutz des Persönlichkeitskerns ausdrückt. Eine traumatisierte Person kann nur noch vermeiden, was unerträglich war und durch Erinnerung ist, was folglich nicht innerpsychisch erfolgreich abgewehrt werden konnte. Warum sollte dieser selbstgestaltete Mechanismus pathologisiert werden?


Der Katalog

Was sagt der Katalog zum Verständnis von Vermeidungshandlungen? Er hat seit 1980 einige Verwandlungen und Erweiterungen durchgemacht. Er ist nicht präziser geworden. Zahlreiche Autoren zeigen in großformatigen Übersichten, dass trotz der Wandlungen seit 1980 im Kern der diagnostischen Kriterien alles beim Alten bleibt. Ein allgemeiner Zweifel kann mit der Feststellung ausgelöscht werden, dass sich so viele namhafte Wissenschaftler seit über dreißig Jahren kaum im Irrtum haben verfangen können. Die Beschreibungen haben ja etwas Stichhaltiges. Sie eignen sich nach meiner Überzeugung aber nicht zu einer mechanistischen Anwendung. Wenn die Anwendung aber individuelle Abstufungen notwendig macht und zusätzliche Beschreibungen einfordert, warum dann ein Katalog, der dann ja nichts anderes wäre als ein Stichwortgeber?
Der DSM-IV-TR von 2003 führt folgende Merkmale einer pathologisch eingestuften Vermeidungshandlung auf, die zu großen Teilen bereits im DSM-III-R von 1987 enthalten waren:
1)    Bewusstes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen.
2)    Bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten und Menschen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen.
3)    Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern.
4)    Deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten.
5)    Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von anderen.
6)    Eingeschränkte Bandbreite des Affekts (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zu empfinden).
7)    Gefühl einer eingeschränkten Zukunft (z.B. erwartet nicht, Karriere, Ehe, Kinder oder normal langes Leben zu haben).

Diese sieben Unterkriterien teilen sich in direkte Vermeidungshandlungen und zweitens in abgeleitete Empfindungen im Umgang mit einer realen Umwelt. Dabei ist nicht leicht einzusehen, warum die abgeleiteten Gefühle auf posttraumatische Vermeidung zurückgehen. (Auswege bieten die so genannten Komorbiditäten.) In den Katalog schlichen sich die Kriterien unter der Annahme ein, dass sie vor einem Trauma oder einer Traumasequenz als Symptom nicht aufgetreten seien.
Bei 7) wird man zögerlich: Ist es nicht bereits ein Zeichen von Realismus und nicht von posttraumatischen Störungen, wenn ein Soldat nach seiner Ausbildung und Versetzung an die Front von Gefühlen einer eingeschränkten Zukunft beherrscht, zumindest beeinflusst wird. Solch ein Soldat soll – implizite Forderung des Katalogs -  nach Gefechten, die er überlebte, erneut in eine rosige Zukunft blicken können. Seine Erleichterung über sein Überleben soll ihn nicht zu Fragen an die Zukunft provozieren. Sonst hätte er nicht verstanden, wie wenig Gewalt und wie viel Zufall genügt, um die Zukunft zu verdunkeln.
Viele Pharmaka oder Drogen erzeugen die Kriterien 4) bis 6). Sie können auch bei Müdigkeit, Erschöpfung und anderweitig gebundenen Affekten auftreten.
Auch das Kriterium 3) macht unsicher. Es setzt voraus, dass im Moment extremer Bedrohung eine Abspaltung der Wahrnehmung erfolgte, so dass eine Teilamnesie resultierte. Gerade die dissoziative Abspaltung von wahrgenommenen Tatsachen ist ein natürlicher Vorgang zum Selbsterhalt. Da eine Person, die abspaltet und sich dann nicht mehr erinnert, von sich aus nicht generieren kann, was einen wichtigen Aspekt des Traumas charakterisiert, muss der Experte behilflich sein. Hier öffnet sich das Feld der Suggestionen (und über einen kommunikativen Erwartungsdruck das Feld der Autosuggestionen).
Über einer traumatisierten Person schwebt die permanente Unsicherheit, dissoziierte Erlebnisinhalte, die nicht erinnert werden, könnten sich durch situative Trigger zu ungelegener Zeit wieder bemerkbar machen, vor allem, wenn sie nur teilweise abgespalten waren. Wäre aber das Bewusstsein in der Lage, abgespaltene oder gar ausgelöschte Erlebnisse aus dem Unbewussten erfolgreich zu regieren? Warum sollte dieser Mechanismus als Vermeidungssymptomatik pathologisiert werden? Im aufgeführten Katalog stehen grundsätzlich zwei bewusste Vermeidungshandlungen fünf weiteren gegenüber, die als emotionale Weltbetrachtungen und Weltbeziehung in irgendeiner Form den Mandelkern im Gehirn passieren müssen und sich unabhängig vom Bewusstsein ausformen, selbst wenn sie Anschluss an die Hirnrinde finden. Das geforderte Menschenbild, das hier gezeichnet wird, rückt einen Menschen in den Mittelpunkt, der sich und seine Umgebung bewusst kontrollieren und jederzeit zielorientiert handeln kann. Diese autonome Persönlichkeit gibt es nicht. Sie ist genau die Illusion, an der wir uns orientieren sollen, eine Art Leitillusion für Individuen. Bis zu einem extremen Trauma waren wir Individuen oder auf dem Weg zu individuellen Merkmalen. Nach einem solchen Trauma wird uns durch den Katalog der Status des Individuums entzogen, indem Kategorien für Erleben, Wahrnehmen, Erinnern/Vermeiden und Integrieren zu homogenen Resultaten (mit Abweichungen) führen. Nach dem Trauma ist eine Person nicht mehr dieselbe wie zuvor, was sich im Katalog verstärkend niederschlägt. Ich frage mich, wie kränkend sich dieser Homogenisierungsprozess, die Grundlage der Selbsthilfebewegung, auswirkt. Die katalogisierten Symptome stellen nicht Restspuren von Konflikten dar. Sie sind keine symbolischen Verwandlungen. Es handelt sich um eine Summe von alltäglichen und physiologischen Selbstbeschreibungen.
Eine umfassende Debatte der Detailsymptome von Vermeidungshandlungen nach dem Katalog lässt sich hier nicht durchführen. Daher kommt nur eine Anregung zum weiteren Durchdringen des Katalogs zum Zuge.
Allerdings ist ein Wort zur Praxis erforderlich: Eine Pathologie von Zeichen wird konstatiert, wenn eine Summe von Unterkriterien erfüllt ist. Dieses additive Urteil wird in vielen Fällen ergänzt durch eine Batterie an Fragebögen, die durch Selbstevaluation Hinweise auf das Bestehen von Unterkriterien geben. Die Summe von Unterkriterien zu einem bestimmten Zeitpunkt unterscheidet den Kranken vom Gesunden. Der Gesunde hat all die genannten Kriterien auch schon erlebt, nur nicht zur selben Zeit und anhaltend. Die Unterkriterien entstammen aus Wahrnehmungen des Alltags. Das Ergebnis der umfangreichen Fragebögen suggeriert Objektivität, es ist aber nichts anderes als die Bestätigung eines Eindrucks, den ein Diagnostiker aus Erzählungen gewonnen hat. Als Feedback einer traumatischen Geschichte ist die Menge der hinzugefügten Details durch einen Diagnostiker nicht gering. Alles, was vom Klienten nicht angekreuzt, gesagt oder vermieden wird, erzeugt unbewusste Ergänzungen, die allmählich Tatsachenstatus erhalten. Gerade das Vermiedene strebt nach Aufklärung. Schon Freud war der Auffassung, dass der Therapeut eine plausible Rekonstruktion der nicht mehr erinnerten Vergangenheit anbieten darf.

Die Beurteilung  und die sprachlich vermittelten Kriterien von seelischen Veränderungen, über die Klienten nach traumatischen Erlebnissen klagen, lassen sich nicht immer neu entwerfen. Sie stützen sich auf bereitgestellte diagnostische und statistische Konzepte. Sie erfolgen nach den Maßstäben der fernen Anderen und sind pragmatisch aus zahllosen Fragebögen herausgefiltert (sagen wir: einer US-amerikanische Mittelschichtsfamilie aus Idaho). Ein tiefes Glaubensverhältnis des urteilenden Therapeuten zu den Beurteilungsmaßstäben der Anderen, die ihm denkend vorausgegangen sind, bestimmen Urteil und Wertung. Offen gelegte Zweifel sind im diagnostischen Bereich selten, wenngleich sie sich wie Zecken in jedem Urteilenden festsaugen. Der therapeutische Bereich legt Wert auf überzeugende Diagnostik und Sicherheit. Ich empfand zu keiner Zeit die Sicherheit, die mir Andere (der Durchschnittsamerikaner aus der Kleinstadt des Mittleren Westens. Er dient weltweit in den zahllosen Fragebögen und screening-Verfahren als Maßstab.) anboten, wenn es um diagnostische Kategorien posttraumatischer Beschwerden ging, die in aufenthaltsrechtlichen Belangen von Flüchtlingen zum Ausdruck gebracht wurden. Aus eher taktischen Erwägungen und aus Mangel an Alternativen benutzte ich sie. Es lag eine gewisse unentrinnbare Tragik im Gebrauch der posttraumatischen Kategorien. Ich meinte, die teilweise ideologisch geformten Symptombilder und die ideologischen Intentionen einer Katalogisierung körperlich zu verspüren. Sie verwirrten meine eigenen Maßstäbe, und ich war daher abwehrbereit gegen entfremdungsmächtige Urteilsmuster. Im Bereich der Anwendung war die Ausbreitung aller im Katalog aufgeführten Symptome geeignet, bei Verwaltungsmenschen der staatlichen Entscheidungsinstanzen mehr oder weniger tiefe Schuldgefühle (oder massive Abwehr!) zu aktivieren. Wer unter den urteilenden Beamten Scham vermied, schien ein taubes Sensorium zu haben.

Normierung aus Klassifikation

Ich bin nicht generell gegen Normen eingestellt, rüttele aber an den Gitterstäben, wenn es um Beurteilungen und damit um Bewertung von Menschen und  Leiden geht. In der Diagnostik posttraumatischer Symptome geht es nicht primär um Normen sondern um Regeln, die zahlreiche Ausnahmen zulassen. Diese Regeln verwandeln sich jedoch in normative Praktiken, die zu bindenden Vorschriften mutieren. Der landläufige Katalog des DSM erfordert eine Summierung vorgeschriebener Symptome, damit eine Diagnose entsteht. Eine solche Diagnose bezieht sich auf den Verarbeitungsprozess von verwirrenden, schmerzhaften und erschütternden Erlebnissen, der, wie es das Hauptkriterium will, nicht nur nahezu alle Menschen nach extremen Traumata betrifft, sondern „zwangsläufig“ in pathologisch zu nennenden Krisen einmünden kann. Die Möglichkeit erhält den Charakter der Faktizität, wenn Diagnostiker zu Anwendern eines Katalog werden. Klassifizierende Kataloge sagen, wie es ist. Sie sagen auch, wie Du und ich Erlebnisse von Gewalt und Bedrohung verarbeitend integrieren, d.h. bewusst machen. Sie stellen für diagnostisches Handeln Normen auf, die keine Ähnlichkeit mit sittlichen Gesetzen haben, weil sie abgestufte Bewertungen für natürliche Reaktionen einfordern. Während sittliche Gesetze, die ein Selbst formen, von Menschen gemacht sind, sind physiologische Äußerungen der Menschen maßgeblich durch bereits vorhandene Naturgesetze determiniert. Normen als Praktiken, die pathologische psychische Verarbeitung von „normaler“ abgrenzen, müssen sich an einer Vorstellung des Normalen orientieren, wenn sie Grenzen zur Pathologie ziehen. Wenn nun, zumindest für die akuten Reaktionen auf extreme Gewalterlebnisse, nahezu alle Menschen mit posttraumatischen Sofortsymptomen rechnen müssen, erübrigt sich die Grenzziehung zum Normalen. Dann ist diese Reaktion auf akuten Stress nicht abgrenzungsbedüftig. Sie ist die Norm und das Normale. Anders verhält es sich bei der Betrachtung langfristiger Symptomatiken. Während 15-60 % akut Traumatisierter (je nach Heftigkeit der Bedrohung) keine langfristigen Symptome entwickeln oder nicht über Einschränkungen klagen, verbleiben die Übrigen im Interessenfeld der Diagnostiker. (Über die unsicheren Zahlen siehe meine Sottise über Dunkelziffern). Das Interesse von Diagnostikern und Therapeuten hat sich schon früh nach der neu erfundenen Klassifikation (1980) auf die (neben den Ziffern der Vergütung) Zahlen posttraumatischer Fehlintegrationen in der Durchschnittsbevölkerung gerichtet. Dieses Screening ergab sehr unterschiedliche Ergebnisse, abhängig vom ausgewählten Kollektiv. Allan Young hat einige Zahlen und Studienergebnisse in seinem Buch „The Harmony of Illusions“  vorgestellt. Diese Studien mussten mittels Fragebögen Erlebnisse und Symptome in undifferenzierter Form abfragen und dann zwangsläufig Grenzen zwischen normaler Verarbeitung von (lebensgeschichtlichen) Traumata und pathologisch genannten Formen ziehen. (Ist also die mit Fragebögen traktierte Mrs. Miller posttraumatisch krank und behandlungsbedürftig oder ist sie nur subsyndromal betroffen? Wöller, Gast u.a. nennen neun Störungsbilder, die neben und anstelle von PTSD mit traumatischen Einwirkungen in Verbindung stehen.) Sie mussten dazu weiche Grenzregionen definieren, die einen Interpretations- und Ermessensspielraum zuließen: War ein Flashback pro Jahr beweisend für die Diagnose oder sind mindestens drei gefordert usw.? So schlichen sich Normative in innere psychische Prozesse der befragten und untersuchten Populationen. Und anstatt Sicherheit zu gewähren, hinterlassen solche Normierungen Unsicherheit und Fragen, ob man bereits außerhalb der Norm stünde, ob man schon als „verrückt“ einzustufen sei.
Ich blieb immer bei der Frage hängen, ob die Vorstellung vom Normalen, die sich in impliziten Forderungen („Du musst dich erinnern! Du musst rasch verdrängen und vergessen! Du darfst nicht vermeiden! Oder: du musst wieder arbeitsfähig werden!) zu erkennen gibt, als Ausdruck gesellschaftlich produzierter Überforderung, als sittliche Verlotterung und als eine psychische Invasion durch die Definitionsmächte aufzufassen sei, die in paradoxer Weise den Zustand erst herstellt, für den sie dann therapeutische Remedien bereitstellt.

Mein Interesse richtet sich auf die politisch verstandene Art und Weise, in der Symptomkataloge für psychisches und soziales Leid einen Normierungsdruck produzieren und zum Beispiel im Rahmen des DSM vorschreiben, welche subjektiven Symptomausprägungen sich zu einer Krankheitsdiagnose verdichten, wenn die entsprechenden Symptome berichtet und dann angekreuzt werden. Posttraumatische Leiden spielen sich dadurch innerhalb eines normierten Bandes ab, damit sie Anerkennung finden oder überhaupt real werden. Posttraumatisch beklagenswerte Beschwerden mögen subjektiv real und für eine personale Umwelt erkennbar sein. Jedoch erst wenn sie durch einen Experten erfasst und bestätigt werden, werden sie zu einer realen Einflussgröße. Posttraumatische Leiden scheinen im Verhältnis der Diagnostiker zur Realität ständig neue Varianten durch Komorbiditäten, DESNOS oder subsyndromale oder partielle Beschwerdebilder geradezu zwanghaft hervorzubringen. Das wäre ein Hinweis auf die Vorläufigkeit der katalogischen Kriterien. Allerdings sehe ich darin keine Zwischenräume im Dualismus von Krank und Gesund. Ein Trauma lässt kein Dazwischen zu, wenn wir von der Intensität des traumatischen Ereignisses absehen, weshalb das extreme Trauma erfunden und definiert wurde. Mit dem extremen Trauma und seinen exklusiven Folgestörungen wurden recht erfolgreich alle jene traumatischen Erlebnisse des Alltags ausgeschlossen, mit denen jeder zurechtkommen muss, und somit eine Grenze zwischen den extremen und den alltäglichen traumatischen Erlebnissen gezogen. Das Verblüffende an diesem Modell ist, dass es bereits zu Klassifikationen kam, bevor man den Mechanismus psychischer Integration von schrecklichen Erlebnissen überhaupt in einer Theorie verstehen konnte.
Seien wir ehrlich: Ob der verdienstvolle Pierre Janet exhumiert wird, ob komplexe PTSD, Anpassungsstörungen oder traumatische Neurosen als Physioneurosen beschrieben werden, die Zahl der Konzepte zum Verständnis schwerer posttraumatischer Symptome wird immer länger und unübersichtlicher. Klinische Schulen, Definitionsmächte und profilierte Einzelpersonen publizieren ihre Annäherungen an den Mechanismus der Psychotraumata, die Pharmaindustrie offeriert das chemische Heil, Ratgeber quellen aus den Regalen, in Hinterhöfen werden esoterische Therapieformen angeboten. Trauma hat Konjunktur. Wesentliche Welterklärungen bedienen sich des Traumas.
Mich machen alle diese Aktivitäten eher ratlos, zumal die Neurowissenschaften beanspruchen, die Physiologie der Stressreaktion end-gültig entschlüsseln zu können, wobei sie fraglos auch der Natur Normen aufzwingen. Das Problem liegt also dort, wo Normen und mit ihnen das definierte Normale bestimmend werden, auch bei jenen, die sie nur mit Bauchschmerzen befolgen. Die Schmerzen rühren daher, dass die Normen im Bereich des Handelns und Fühlens nicht freiheitsfördernd sind, sondern einer subjektiven Heterogenität des Umgangs mit quälenden Erinnerungen widersprechen, vielleicht wirklich allein konfliktfreie Homogenität herstellen wollen. Das traumatisierte Subjekt kann nach den Lehrbüchern nur auf eine typisierte Weise (Fragebögen!!) sein Leid relevant ausdrücken und verarbeiten. Dichtern und Schriftstellern gestatten wir durchaus Abweichungen von der Norm wie auch uns selbst, wenn wir träumen.

Man mag mir leichtfertig vorwerfen, dass ich die Rolle der sozialen Einflüsse auf die Ausbildung von posttraumatischen Beschwerden als Projektionsfläche benutze („die Gesellschaft ist Schuld“), dass ich den Einzelnen in seinem Leiden nicht wahrnehme. Das erscheint mir falsch. Ich stehe allerdings nicht auf dem Standpunkt, dass es eine vor- oder außersoziale Dimension der Psyche gäbe, die in der Lage wäre, sich der Gewalt gesellschaftlicher Normierung zu unterwerfen oder zu widersetzen und zur Quelle von Dynamik, Innovation und Kreativität werden könne, wie es Sacks und mit ihm Whitebook (Der gefesselte Odysseus, S. 186) behaupten. Vielmehr entstehen nach meiner Auffassung der Widerstand und die Kreativität aus gefühlten, also nicht bewussten Ahnungen von Widersprüchlichkeiten, die in den gesellschaftlich geforderten Normen enthalten sind und ihren fixierten Rahmen durch die Sprache erhalten. In der Tat: Trauma wird entweder unterstellt oder durch Sprache berichtet. Fast alle posttraumatischen Symptome müssen erzählt werden. Sie entziehen sich (und das ist vielleicht gut so!) objektiver Feststellung. Traumatisierte Menschen realisieren in ihrer Verletzlichkeit besonders stark die Widersprüche der sprachlich einbetonierten Normen, weil und nachdem sie durch das Stadium der antizipierten existenziellen Vernichtung hindurchgegangen sind. Indem Gesellschaft die Widersprüche von geforderten und praktizierten Normierungen (Gerechtigkeit, Achtung, Würde, Respekt, Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit) nicht aufhebt, sondern in irritierender Weise darin fortfährt, ruft sie im traumatisierten Individuum eben jene Symptome der Erregung, Intrusion und Vermeidung hervor oder verstärkt sie. (Sie werden landläufig als Reaktionen auf das traumatische Ereignis verstanden. Ich teile diese Auffassung nur in engen Grenzen.) An deren Behandlung durch Professionelle formuliert die Gesellschaft hernach ein projektives Interesse. Als widersprüchlich erfahrene Normen, zu denen unter anderem Hilfsbereitschaft, Empathie, Anerkennung der Gleichheit oder Zugehörigkeit zählen, bilden ein Klima von Unsicherheit, das den Boden für einen inneren Streit eines Traumatisierten bereitet: Er weiß nicht mehr, was er glauben soll, und die normativen (sittlichen) Gesetze, denen er sich einmal untergeordnet hat, sind seine eigenen nicht mehr. Zu den Widersprüchen zählen ferner nicht zuletzt die versagte Anerkennung der traumatischen Situation und ihrer Folgen und die Beteiligung an der Verkennung der Umstände, unter denen sich Symptome, die sonst wohl nur passagere wären, als fixierte bilden. Dazu zählt auch ein oft formuliertes therapeutisches Ziel: Der traumatisierte Mensch soll am Ende einer Behandlung sagen können: „Das ist mir passiert. So war es. Darum ging es mir schlecht. Das Ereignis hat es verursacht.“ Verkennung lauert überall, auch in der traumatisierten Person. Die Gesellschaft, vertreten durch die Therapeutenperson, muss nun nicht mehr anerkennen, sondern kann weiter im Verkennungsprozess („Das traumatische Ereignis war schuld“.) fortfahren. Die Verkennung der Umstände von Verletzungen durch Menschen kann nun als abgeschlossen gelten, weil der Kontext in vorgeschriebener Form wie Weihnachtsplätzchen ausgestochen ist. Wenn sie nicht gerade einem traumatisierten Mensch gegenübersteht, wählt sich eine gesellschaftliche Masse entfernte Katastrophen und Personen, auf deren Schicksale der Boulevard bereits herumgetrampelt hatte. Wie viel Voyeurismus braucht die gesellschaftliche Wahrnehmung traumatischer Situationen, damit hieraus Oberflächenempathie wird?

Gesellschaftliche Rolle bei der Produktion von Symptomen

Mir geht es also vielmehr um eine Annäherung an die Wechselbeziehungen zwischen sozialen Wirkungen und individuellen Verarbeitungspotenzen, wenn es um Gewalthandlungen geht, die Menschen erschüttern können. Ich möchte vermeiden, dass der Begriff und die Bedeutung von Trauma sich immer mehr im Unerklärlichen, Unsagbaren (Es ist erstaunlich, welche wortreichen Publikationen über das Unsagbare gesagt werden!) und einer Mystik verlieren und dadurch die Handlungsmöglichkeiten beschränkt werden, zugleich der ohnehin oft distanzierte Blick vom posttraumatischen sozialen Wirken, das ja nicht selten in der Fortsetzung von  Misshandeln, Bestreiten und Kränken besteht, abgewandt und allein auf das psychische Innenleben des „Opfers“ konzentriert wird. Die Beziehung zwischen dem posttraumatischen Verhalten aus dem gesellschaftlichen Umfeld und der individuellen Orientierung in einem ambivalenten sozialen Rahmen zur Überwindung posttraumatischer Symptomatik muss nicht neu erfunden werden. Sie kennzeichnet eine Reihe von Untersuchungen der vergangenen 50 Jahre. In der deutschen Literatur spielt sie jedoch eine untergeordnete Rolle. Ich habe den Eindruck einer eher gelähmten Betrachtung sozialer, d.h. kommunikativer, Einflüsse bei der Ausbildung posttraumatischer Symptome, und darin sehe ich ein verheimlichtes Element, das möglicherweise auf hartes und eingeübtes Vermeiden zurückgeht, mit dem die Erinnerungen an Krieg und Massenmord in blasse und unfruchtbare Regionen abgeschoben wurden. Das Ereignis mag die Erschütterung bewirken, die später auftretenden und dann fixierten Symptome gehen nicht auf das Ereignis zurück, sondern auf den Umgang mit dem Trauma durch die soziale Umgebung, zumeist durch den Umstand, dass der subjektiven Wahrheit eines Traumatisierten ein objektiver Wahrheitsgehalt und Durchsetzungsanspruch gegenübergestellt wird. Hans Keilson wäre nicht so weit gegangen, aber er und später David Becker haben sich und die Betrachtung einer Symptomentwicklung so weit einer Empirie geöffnet, dass die Wechselwirkung zwischen Individuum und sozialer Umgebung einen Stellenwert bei der Ausformung von Symptomen erlangte. Die durch eine Sozialisation (oder subjectivation, Butler) erworbenen Normen der handelnden Praxis und der Moral behaupten nach der Erfahrung von Willkür und Verletzung nicht ihre Bedeutung für ein Alltagsleben, sondern sie werden leichtfertig aufgegeben, indem sie zwar von Wenigen (Verwandten und Freunden) geteilt werden, jedoch als wesentliche Grundlage der Gesellschaft nur als rhetorisches Bekenntnis existieren. Diese Grundlage wurde in der Sozialisationsperiode gerade als ihre Antriebskraft für moralische Normen ausgegeben. Dies wird vor allem bei kollektiven Traumatisierungen deutlich, bei denen die Mechanismen zur Abwehr der Schuldfrage eine Integration der traumatischen Inhalte bei Betroffenen be- oder verhindern.
Über die Verklärung des Traumas ins Unsagbare und Unerklärliche gelangt die Rolle des Therapeuten in eine priesterähnliche Position, die in paradoxer Weise über die Deutungsmacht des Unerklärlichen verfügt. Meine Erfahrungen mit traumatisierten Folteropfern sagten mir, dass die Klienten sehr wohl eine rationale Erklärung wünschten und auch aktiv herbeiführten – unabhängig von ihrem Bildungsstand und ihrer Fähigkeit zur Abstraktion – und dass ihr Unverständnis sich wesentlich auf das Verhalten der Folterer, die oftmals aus derselben Gesellschaft stammten, und einer hilfsunwilligen Gesellschaft bezog. Unerklärlich blieb ihnen allenfalls die rücksichtslose Aufgabe von sozialen Prinzipien, die den Umgang der Gesellschaft mit dem Einzelnen regeln. Da nun der Folterer sich in seiner Irrationalität im Opfer absiedelt – dies geschieht im Allgemeinen durch die Herstellung absoluter existenzieller Abhängigkeit (und sicher auch inkorporierte Imitation, die so genannte Identifikation mit dem Aggressor) -, besteht im Unterworfenen ein ausgesprochenes Bedürfnis nach rationaler Erklärung. Es geht im „therapeutischen Prozess“ folglich um die Verdrängung und Entfernung des Folterers und seiner Symbole aus dem Opfer als eines rationalen Vorgangs, also einen Exorzismus mittels Rationalität, eingerahmt von Empathie und praktischer Solidarität. Der Folterer ist das „absolut Böse“, nicht weil er malträtiert, sondern weil er das Prinzip einer halbwegs freien Willensentscheidung verrät, vielmehr sich selbst unter echten oder vermeintlichen Zwängen und Konditionierungen ohne Freiheit (und damit ohne Normen) darstellt. Der Folterer vertritt Unfreiheit als konditioniertes Prinzip gewalttätigen Handelns. Für das Opfer zerbricht im Angesicht dieser brutalen Unfreiheit seine eigene Illusion der selbst bestimmten Freiheit. Der Blick in den Abgrund des anderen spiegelt sich in der Tiefe und wirft keineswegs ein ermutigendes Bild zurück.

Ich hatte oben gesagt, dass ich die Reaktionen auf die Widersprüchlichkeiten in den gesellschaftlichen Normen für viel bedeutsamer bei der Ausbildung von fixierten posttraumatischen Symptomen halte, als es das unmittelbare Erlebnis der Ohnmacht und Hilflosigkeit vermag, obschon ich nicht bestreite, dass die Spontanreaktionen vom sinnlich erfahrenen Kontext des Ereignisses ihren Ausgang nehmen. Jede lebensbedrohliche Gewalt trifft auf ein mehr oder weniger sicheres Normengefüge im Individuum. Der Nahbereich produziert Normen von größerer Sicherheit, als es staatliche Institutionen vermögen. Möglicherweise resultiert die Tiefe der Symptome nach Folter aus einem zerschmetterten Vertrauen zu staatlichen Instanzen. Ich habe daher Zweifel, ob die Verhaltensweisen von posttraumatisch beschädigten Menschen wirklich als diagnostische Merkmale in einem Krankheitsprozess angesehen werden können oder ob es sich dabei nicht um willkürliche Konstrukte als Abweichungen einer statistischen Norm handelt. Indem innere Einstellungen und Verhaltensweisen unter Normierungsdruck geraten, geht es m. E. nicht um Krankheit oder Gesundheit, sondern vielmehr um Homogenisierung und um die Macht, in intime Vorgänge normierend einzugreifen, was uns aus dem Bereich der Sexualität hinreichend geläufig ist, indem Gesellschaft repressiv und normierend in natürliche Vorgänge eingreift, somit Biopolitik betreibt. Die Natur, die Biologie des Menschen gerät unter Normierungszwang von Gesellschaften, was ein unerhörter Vorgang ist, denn die Normen der Genetik und Biologie sind ja schon eng genug. Eigentlich sollte seit den Exzessen des Sozialdarwinismus ein Tabu installiert sein, das dem Normierungsdrang von Menschen Einhalt gebietet. Die Norm in der Natur überlebt in der Wissenschaft ebenso wie in bildungsfernen Kreisen und ist mit Ordnungsphantasien nicht allein, sondern auch mit impliziter Machtausübung zu erklären.

Das Symptom Vermeidung

Das lässt sich verdeutlichen an den unscharfen Grenzziehungen zwischen pathologischer Vermeidung und einer unproblematischen Vermeidung, die mit nahezu allen Lernprozessen verbunden ist. Handelndes Vermeiden möchte zugleich immer auch Erinnern vermeiden. Das ist freilich schwer, da das Gedächtnis sich auch ungefragt mit Bildern meldet. Vermeiden (oder der Wunsch nach Vermeiden) ist dadurch eine physiologische Reaktion, die existenziellen Sinn macht. Vermeiden von quälenden Erinnerungen kann durch Drogen vertieft werden. Auf die Erforschung von solchen Drogen richtet Wissenschaft ihr aktuelles Augenmerk. Wie dem auch sei, es braucht immer eine Instanz, die festlegt, wann ein physiologischer Prozess als pathologisch einzustufen ist. Neben der mangelhaften Präzision der Begriffe interessiert mich der Prozess der Beurteilung von krankhaften psychischen Zuständen und wie es dazu aus einem sozialen Diskurs gekommen ist.
Da ist zum einen der Diskurs einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sie definiert in scheinbar objektiver Weise oder zumindest evident das diagnostisch bedeutsame Symptom einer „nachweisbaren“ Vermeidungsreaktion. „Normales“ und tolerierbares Vermeidungsverhalten wird durch die Aufnahme in einen diagnostischen Katalog in scheinbarer Weise von einer pathologischen Variante abgegrenzt. Den Nachbarn, der mich gekränkt hat, nicht mehr zum Gartenfest einzuladen, wird nicht als Vermeidung im Sinne diagnostischer Merkmale verstanden sondern als einsichtiges und begründetes Schutzverhalten. Offenbar muss die Kränkung mit der Erfahrung der Möglichkeit existenzieller Zerstörung verbunden sein, damit ein diagnostisches Kriterium aus Vermeidungsimpulsen entsteht. Vermeidung muss dazu phobischen Charakter mit dauerhafter Alarmierung annehmen. Vermeidung der Begegnung mit dem Folterer kann nun auch in symbolische Akte verwandelt werden, indem Uniformen an die Verletzung erinnern und daher eine Vermeidung der Begegnung mit Uniformierten begründen. Die Wiederbegegnung mit einem Folterer/Misshandler in einem Gerichtsprozess setzt die Aufhebung oder Aussetzung des selbst schützenden Vermeidungsimpulses voraus. Die Verfahrensordnung eines staatlichen Gerichts fordert vom Opfer einer Straftat den Verzicht auf Vermeidungsimpulse und damit auf psychischen Selbstschutz zugunsten einer quälenden „Wahrheitsfindung“. Der Zeuge gilt zu Beginn des Verfahrens noch nicht als anerkannter Geschädigter, der Beschuldigte noch als unschuldig. Vielen solchen Zeugen tritt das Gericht mit seiner Urteilskompetenz in einer Weise gegenüber, die das eigene und spontane Schutzverhalten zugunsten einer abstrahierten Symbolik (Gerichtstheater) aufhebt.
Zwischen der staatlichen Forderung nach zeitlich limitierter individueller Aussetzung von Vermeidungsimpulsen und dem Vermeiden von Kränkungen im Alltagsleben gibt es einen Bereich, der in seiner subjektiven Erlebnisform sich Normierungen zu entziehen droht, weshalb in diese Lücke einzudringen die Psychologie sich anbietet. Die klinische Psychologie operiert daher mit einer gewissen Berechtigung mit Klassifikationen, damit sich Willkür des Einzelnen nicht extensiv ausbreiten kann.
Die Vermeidung von Orten, an denen sich traumatische Willkürszenen abspielten, wird gleichfalls mit diagnostischen Kriterien bewertet. Dahinter steht die Forderung: „Du musst dich erinnern! Heilung gibt es nur, wenn du bereit zur Erinnerung bist. Vermeiden zum Selbstschutz und als umorientierte Vorstufe zum Vergessen wird nicht akzeptiert.“ Ein Behandlungserfolg wird folglich dann gesehen, wenn es gelingt, eine traumatisierte Person wieder an Orte traumatischer, schmerzlicher Erlebnisse gehen zu lassen, d.h. Vermeidung als isoliertes Symptom in dieser Frage zu eliminieren. Das gestützte und normierte Handeln zeigt nicht nur den Behandlungserfolg an, es zeigt zugleich die Macht über das Handeln durch Psychoexperten. Das mag insofern einsichtig sein, als z.B. Gefängnisse oft herausragende Bauwerke sind und  den Augen kaum entgehen und zudem paradoxe Namen führen (Libertad = Freiheit in Montevideo, Evin = Liebe in Teheran), die in diesen Begriffen jede Entwicklung nach Haft in Angst auslösenden Assoziationen erschüttern. Mit dem gesellschaftlichen/therapeutischen Zwang zur Erinnerung wird nicht nur den Selbstheilungskräften oder sozialkommunikativen Einflüssen wenig zugetraut, die Heilung des Inneren kann nur als Neuerschaffung durch Außen erfolgen, was seit der Geburt ein gebräuchlicher Mechanismus ist. Ob als verhaltenstherapeutische Einübung zur Vermeidung von Vermeidungsverhalten oder als Verordnung einer Wallfahrt praktiziert, es besteht ein Grundkonsens, dass einer Statistik geschuldeten Normierung von Alltagsverhalten zwangsläufig auch genormte Bewertungsschritte in der Symptomwahrnehmung, Einordnung und „Bekämpfung“ von statistischen Abweichungen erfordern.
Ich habe sehr viele Menschen nach extremen Traumata kennen gelernt und beobachtet. Die Verläufe ihrer Beschwerden und Symptome, ihre Selbstwahrnehmung und die Einfluss nehmenden Faktoren nach dem Trauma waren so unterschiedlich, dass es sich eigentlich verbietet, diese Vielfalt in einer Klassifikation gefangen zu nehmen. Aus diesem Grunde habe ich immer nur aus taktischen Überlegungen das Ordnungssystem der Symptome angewandt, weil nur darüber eine gesellschaftliche Anerkennung zu erzielen war, so meinte ich.

Zurück zur Vermeidung als Symptom aus dem diagnostischen Katalog, der die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung an das Vorhandensein weiterer Merkmale koppelt. Vermeidungsverhalten reicht nicht aus, um die Diagnose zu stellen. Es stellt nur ein Kriterium unter zahlreichen dar, von denen eine zuvor bestimmte Zahl erreicht sein muss, um zu einer krankheitswertigen Diagnose zu gelangen. Zweckmäßig will ich mich auch den anderen definierten Symptomen des Katalogs in späteren Einlassungen zuwenden. Zur Bedeutung des Flashback habe ich schon Stellung genommen.
Vermeidung wird nach extremen Traumata auch dann diagnostiziert, wenn eine traumatisierte Person Stichworte, Themen oder Filme vermeidet, die eine Erinnerung an das extreme Trauma wachrufen. So kann diese Person bei einem mit dem Trauma assoziierten Thema oder Stichwort den Raum oder das Kino verlassen oder aus solchen Erfahrungen Versammlungen meiden, bei denen Reizworte und Reizthemen oder Bilder von Grausamkeiten erwartet werden. Soziale Isolierung ist dann die Folge. Sie kann mit den Forderungen eines Alltagslebens unvereinbar sein. Ich frage mich, ob hier nicht ein „normaler“ Schutzmechanismus vorliegt, der in einer klinischen Klassifikation eigentlich nichts zu suchen hat.
Die Feststellung sozialer Isolierung bestätigt immerhin die Bedeutung der sozialen Umgebung für das Individuum, wenngleich ohne das gebührende Gewicht. Landläufig geht es allein um Funktionsfähigkeit, und diese fordert gleichfalls normiertes Verhalten. (Ein Hauptaugenmerk richtete sich von Beginn an auf die möglichst rasche Wiederherstellung von Kampffähigkeit bei Soldaten.) Allerdings setzt bei diagnostizierter Rückzugstendenz die Vermeidung erst ein, wenn Erinnerungen bereits auf ein früheres Trauma zusteuern, und es hat oftmals den Anschein, als wolle der traumatisierte Mensch den Gesprächsteilnehmern seine bei ihm ausgelöste Wut, Angst, Erstarrung nicht zumuten oder zeigen. Er ist sich der gesellschaftlichen Forderungen bewusst und resigniert an seiner Unfähigkeit, ihnen zu genügen. Die aufsteigende Hilflosigkeit im Gespräch erzeugt Scham und zugleich die Erwartung, die Gesprächspartner könnten damit nicht angemessen umgehen, vielmehr repräsentieren sie die Normsetzungen. Wer sich unwohl fühlt oder einen Schweißausbruch erleidet und dennoch einem irritierenden Thema zuhört, könnte dies aus unterschiedlichen Gründen tun, die sich einer Klassifikation entziehen.
Bei dieser Form der Vermeidung geht es um Assoziationen, die über individuell ausgelöste Erinnerungen zu einer begleitenden emotionalen Reaktion führen. Davon muss die soziale Umwelt nicht unbedingt Notiz nehmen. Interessant ist wohl die Kausalkette: Assoziationen, Vermeidung von Reizthemen, unzureichende gesellschaftliche Anerkennung und Isolation von sozialen Zusammenhängen. Aber was unterscheidet diese Assoziationen von Scham oder Schuldgefühlen, von Normverstößen und Kränkungserfahrungen? Ist es nicht vielmehr so, dass die begleitenden Emotionen in eine statistisch erfassbare Normierung eingepasst werden sollen, da sie im offiziellen Katalog erscheinen?
Einige Autoren haben darauf verwiesen, dass z. B. Traumatisierte durch Kriegshandlungen sich später in gefährliche Berufe oder Verhaltensweisen verstricken, indem sie Söldner, Polizisten, Bodyguards, Bergsteiger oder Feuerwehrleute werden, also weiterhin ein Leben unter Risiken eingehen, d.h. Gewalt einsetzen, gegen sich oder andere. Darunter kann man bei oberflächlicher Betrachtung das Gegenteil von Vermeidung verstehen. Diese zumeist als Soldaten traumatisierten Personen – und ihre Zahl ist nicht gering – weisen folglich nicht das Kriterium Vermeidung in allgemeiner Form auf oder orientieren es um, weshalb ihr Aufsuchen von bedrohlichen Szenarien in anderer Weise pathologisiert werden muss, wenn ihnen nicht insgesamt eine posttraumatische Belastungsstörung abgesprochen wird. Dies kann nur dadurch geschehen, dass Vermeidung als Kriterium meint, die eigenen traumatischen Erlebnisse und ihre Verwandlungen in bewusster Betrachtung anzusehen. Vermeidung von bewusstem Handeln nach traumatischen Erlebnissen  wird folglich abgegrenzt von Verdrängung ins Unbewusste, von Verschiebung oder Projektion.
Hinter dem Krankheitskriterium „Vermeidung“ steht stets eine implizite gesellschaftliche Forderung nach heroischem Betrachten der eigenen Hilflosigkeit, Ohnmacht, des Widerwillens und des unzulässigen Wunsches nach Desertion und des zulässigen nach rascher Überwindung im Kollektiv. Man erkennt die auf Vietnam-Soldaten gemünzte Absicht. Der therapeutische Imperativ erfordert den Blick in den Abgrund. Heilung geht durch das Stadium homöopathisch gereichter Quälereien. „Du musst jede Sekunde deiner Erstarrung, schmerzlichen Ohnmacht und Todesbedrohung erzählen und wieder erleben. Das, was du spontan in deinem Organismus machst, nämlich Vermeidung, ist nicht das korrekte Verhalten. Wir sagen, was gut für dich ist. Wenn du nicht willst, dass Symptome durch die Hintertür dein Haus betreten, so erinnere dich an alles und erzähle, offenbare dich.“ Solche oberflächlichen und oftmals fremdbestimmten Ungereimtheiten mit impliziten Forderungen haben mich immer in Verwirrung gestürzt, weil ich beobachtete, dass sie Anlass für weitere verzwicktere Erklärungen und die Erfindung von Ko-Morbiditäten  boten. Zum einen wurde die Ebene der katalogischen Psychologie verlassen und das Heil in der Psychiatrie und dann in der Neurophysiologie gesucht:
Es waren die Endorphine, die nun die Erklärung brachten. Lebensbedrohlichen Situationen ausgesetzte Personen, die wiederholt Stress induzierte Endorphine ausgeschüttet hatten, wollten sich nun den erneuten Kick holen, der von diesen Stoffen ausging. Sie waren abhängig von körpereigenen Substanzen geworden, vielleicht in einer Weise wie der pyromanische Feuerwehrmann oder der Bergsteiger, der wegen der Wirkung von Endorphinen nicht adäquat um seinen abgestürzten Kollegen trauern kann. In Bezug auf symptomatische Vermeidung handelt es sich bei Risikosüchtigen vermutlich um eine Vermeidung von adäquater Vermeidung, die einer realistischen Einschätzung gerecht wird.
Umorientierte Vermeidungshandlungen in Gestalt von Risiken, die Erinnerungen heraufspülen, sind nun keineswegs subjektive Angelegenheiten. Vielmehr stehen hier gesellschaftlich akzeptierte Grenzen von Vermeidung zur Debatte. Diese unscharfen Grenzen bilden eine Trennlinie zwischen Begriffen wie erschöpft, depressiv oder ängstlich nach Trauma und Risikowetten oder Bankerspekulationen, die von Vermeidungen der sozialen Folgen geprägt sind. Diese Beurteilung ist ebenso wahrscheinlich wie die Schlussfolgerung, solche Karrieren ließen eine posttraumatische Belastungsstörung vermissen, eben weil sie angeblich keine Vermeidungsreaktion zeigen. Die posttraumatische Belastungsstörung argumentiert weit gehend zirkulär. Wir wissen nie mit Sicherheit, ob eine vermeidende Haltung einer traumatischen Situation zugeordnet werden muss oder aus früherer und anderer Ursache aufgetreten ist. Der Schutz des psychischen Kerns soll nicht der betroffenen Person überlassen werden. Die Klassifikation der Symptome und ihre praktische Anwendung sichern nur scheinbar die Diagnose. Vermeidung – das ist mir bewusst – ist keineswegs nur das einzige Symptom, das eine Diagnose wie posttraumatische Belastungsstörung gestattet.
Das bringt uns zu der Frage, wer die Zuordnung von Vermeidung (und anderen Symptomen) nach einem extremen Ereignis vornimmt. Ist sie ein Konstrukt einer traumatischen Situation mit zumeist mehreren Beteiligten, oder eher ein Konstrukt einer Person, die Willkür, Lebensbedrohung und Gewalt entkommen ist, oder handelt es sich um ein anerkennendes und empathisches Konstrukt eines professionellen Zuhörers? Wem gehört die Regierolle? Der posttraumatischen sozialen Umgebung, zu der sicher auch Therapeuten zählen?

Zornig

Die katalogische Form der Gesamtsymptomatik in psychologischer Literatur scheint dafür zu sprechen, dass der Psychologe/Psychiater die entscheidende Instanz für die Diagnose ist, weil er aus vielfältigen Beschreibungen eben jenen Katalog aufgestellt hat, welcher universelle Anwendung beansprucht. Dadurch dass Trauma und klinische Klassifikation sich in kürzester Zeit zu einem Diskurs entwickelt haben, der über Fachliteratur, Literatur, Medien (Fernsehen) in alle gesellschaftlichen Bereiche vorgedrungen ist, wird das Sprechen über extreme Erfahrungen (besser: Erlebnisse, weil Erfahrungen eine Arbeit des Bewusstseins voraussetzen) im Alltagskontext auf Bahnen reguliert, die durch die Klassifikation normierend bereits vorgebahnt wurden. Jedermann kann heute aus einem Ereignis und einigen Symptomen, d.h. geschilderten Zeichen, eine klinische Diagnose zusammensetzen bzw. für Selbstdiagnosen sensibilisiert werden. Dennoch verbleibt die Deutungshoheit über den Diskurs bei den Experten. Ein wenig Entmündigung müssen Laien immer in Kauf nehmen. Kein Diskurs der letzten zwanzig Jahre hat uns so überrollt wie das Sprechen über Trauma als Psychotrauma, und es hat sich im strukturellen Gitterwerk von Wahrnehmung, Bedeutung und Praktiken eingenistet. Das hat etliche Menschen empfindlich gemacht für die Positionen von Opfern, andere berühmt, wohlhabend oder ausgebrannt. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Die uferlose Ausdehnung der Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung erfordert nicht nur einen gesteigerten Bedarf an Professionalität, Workshops, Zertifikaten. Zugleich wird der Gesundheits- und Präventionsbereich beflügelt, das extreme Trauma (Auschwitz!) relativiert, die Kontrolle über das Alltags- und Entwicklungstrauma intensiviert, d.h. Delinquenz produziert, die offenen zivilen Gewaltformen angegriffen oder diffamiert, d.h. dein und mein Trauma sind bedeutungslos, es zählt zur Zeit vordringlich das Trauma „unserer Aufbausoldaten“, ein bestimmtes Maß an Empathie wird zu Recht gefordert (Empathie nach Vorschrift) und zugleich solidarische Muster innerhalb der Gesellschaft diskriminiert und minimiert. Der Blick soll sich richten auf prioritäre Ereignisse, und jene alltäglichen Gewaltformen, die als gesellschaftlich hingenommene Traumata den Boden für extreme verstörende Traumata bilden, werden marginalisiert.
(So erleben wir als herausragende berichtete Ereignisse derzeit den sexuellen Missbrauch von Kindern in kirchlichen Einrichtungen. Dahinter steht ein Bild von Autonomie, über das nicht zu streiten ist, wenn diese erwünschte Autonomie nicht so verlogen daherkommen würde. Autonomie meint im Kern Homogenität, weil wir uns alle dem Gesetz und den Regeln, die wir angeblich selbst gemacht haben, unterwerfen! Ich finde, das individuelle Ich kann durchaus dem sozialen Ich widersprechen, und nicht nur in der Pubertät. Skandale  ziehen unsere Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Feld, das die öffentliche Debatte beherrscht. Dabei kommt es zu Vermeidungen der Betrachtung alltäglicher Gewalt an Kindern, Frauen, Abhängigen.)
Das Ziel solch widersprüchlichen Verhaltens, das hat Foucault schon historisch belegt, ist der Zugriff nach dem Inneren, dem Intimen des Individuums, nach den Relikten seiner magischen Existenz. Es ist der Zugriff nach dem, was selbst in der Beichte verheimlicht wird, was der Schwur verdeckt und Loyalitäten unsicher macht. Dieser Prozess kennt keine intentionalen Täter oder Verschwörer. Er geschieht innerhalb eines höchstflexiblen Systems.
Es ist sehr fraglich, ob man mit kategorialen Bezeichnungen weiter kommt als mit Deskriptionen. Kataloge belegen kaum ihre Überlegenheit, allerdings gestatten sie die Infiltration ökonomischer Prinzipien in die Kommunikation. Beschreibungen haben den Vorteil, dass sie individuell und differenzierter mit der verursachenden und resultierenden Gewalt umgehen können. Es gibt nämlich nicht wenige Fälle, in denen überhaupt die Betrachtung der Realität vermieden wird, und schreckliche Erlebnisse wie sexualisierte Gewalt einem gnädigen „Vergessen“ (einer Verunwirklichung) anheim fallen. Vermeidung wird hierbei zu einer „Vorstufe zum Vergessen“, so dass eine von extremer Gewalt betroffene Person gar nicht glauben mag, dass ihr das Schreckliche passiert sei, oder sie in Lebensgefahr schwebte. Insofern ist in den Gestalten der Dissoziation bereits die natürliche und physiologische Vermeidung angelegt. Und zwar als überlebenswichtiger Anteil, der Orientierung in der Realität gestattet. Solche Formen der Vermeidung, die eigene Vernichtung in der Realität wahrzunehmen oder zu fühlen, lassen sich keineswegs in Katalogen zur Diagnosestellung heranziehen. Wer es dennoch tut, spekuliert an der Deutungsbörse.
Ich habe diesen Beitrag „Geliebter Ankreuzkatalog“ genannt. Darin soll sich Ambiguität ausdrücken, die in praktischer Befolgung der katalogisierten Vorschriften für eine Krankheitsdiagnose ebenso besteht wie in einer distanzierten Ironie und Vorläufigkeit, die jedoch zu einem einflussreichen Diskurs der Moderne geworden ist. In dieser Zweideutigkeit kann das Ziel des Diskurses nur darin bestehen, Menschen in den Kategorien von „Gut“ und „Böse“, von „Tätern“ und „Opfern“ zu bestimmen, soweit es um von Menschen ausgeübte Gewalt geht.

Exkurs ins Persönliche

Wer einmal beobachtet, wie Menschen, die in einem Gefängnis oder einer Polizeistation gequält wurden, diese Bauwerke einreißen und in kollektiver Wut alles darin zertrümmern (in Deutschland: Stasizentrale, in Kirkuk/Kurdistan der Folterknast), mag nicht so recht an Vermeidung des traumatischen Ortes oder traumaassoziierter Symbole als ein kardinales Symptom posttraumatischer Leiden glauben. Vielmehr drängen sich andere Assoziationen auf. Da ist einmal die Beseitigung der repressiven Macht und ihrer Symbole. Da ist aktives und widerständiges Handeln aus unbezähmbarer Wut, die keine Rücksicht auf die widerständigen Akteure nimmt. Die Wut wird nicht sanktioniert, weil sie sich in Massen äußert. Kollektiver Widerstand überwindet Vermeidung. Das Ergebnis kann dann eine vorübergehende Beruhigung erlauben. Man kann aber auch vermuten, mit dem Einreißen und Einebnen des Gefängnisses wird der zukünftige Stimulus für negative Erinnerungen vermieden, zumal, wenn anstelle des Gebäudes ein Erholungspark oder Einkaufszentrum entsteht, die Erinnerungen hemmen oder zerstreuen können. In zwanzig Jahren weiß niemand mehr, was sich an diesem Ort zugetragen hat. Nur das kollektive Gedächtnis hindert das Vergessen. Kollektives Erinnern und rituelles Trauern sind dadurch dem Vermeiden entgegengesetzt. Erleichterung erfasst aber auch die erregten Täter. Für sie verschwindet der Ort der ihrer Schande.
Die Bebauung des Potsdamer Platzes in Berlin habe ich für unangemessen gehalten. Wenn es um Erinnern geht, wäre eine schmerzende Brache in der Innenstadt, die sich selbst überlassen bleibt und sich ökonomischen „Zwängen“ dauerhaft widersetzt, nach meinem Erachten die adäquate Form des Gedenkens gewesen. Nur was schmerzt, bleibt im Gedächtnis, sagte Nietzsche. Der Kapitalismus hat seine eigenen Formen der Erinnerung hervorgebracht, die hintergründig stets an die kapitalistischen Prinzipien erinnern, selbst wenn sie vordergründig einem Ereignis gewidmet sind. In der kapitalistischen Erinnerungspolitik stoßen Dinge Schauder erregend zusammen, die nicht zusammen gehören, z.B. ein Kaufhaus (Auschwitz) oder ein Baumarkt (Sachsenhausen) im oder am Vernichtungslager.