Von Sepp Graessner

Um von der für therapeutische Prozesse unbefriedigenden und einseitigen Individualisierung der Folterfolgen abzurücken und um die damit zusammenhängenden ungenügenden Therapieversuche, welche die Gewaltfolgen allein ins individuelle Pathologische verlagern und damit gesellschaftliche Verantwortung unbewusst machen, hinter uns zu lassen, erscheint eine systematische Aufspaltung der in der Folter enthaltenen Gewalt und des daraus resultierenden Schmerzes erforderlich. Ich möchte ein Plädoyer abgeben für meine Überzeugung, dass Traumafolgephänomene[1] nicht oder nur selten  in eine Pathologie gehören, es sei denn, die Existenz von menschlicher Gewalt gegenüber anderen Menschen rechtfertige generell einen pathologischen Status.

Dabei berufe ich mich auf Jean Améry und andere Autoren, die Gewalt und Gewaltfolgen nicht allein im getroffenen oder ausführenden Individuum bemerkten. Hiermit wird nicht bestritten, dass Demütigungen und Erniedrigungen in Einzelfällen zu gravierenden Symptomatiken führen können. Ich wende mich gegen Generalisierungen, die als Subtext von traumatischen Erlebnissen auftauchen. Traumatische Erlebnisse, auch wenn man sie als extrem beschreibt, sind zu allererst Teil des Lebens, der Existenz eines Menschen. Sie sind nicht ohne weiteres akzeptabel und sollten durch zähmende Maßnahmen minimiert werden. Ihre Beseitigung oder ihre therapeutische Auslöschung sind utopische Heilsversprechen.

Einen sehr interessanten Vorschlag, welcher der zunehmend festgeschriebene Unbeschreibbarkeit und Unverständlichkeit von gesellschaftlich produzierter Gewalt Herr werden möchte, hat der (Bildungs-) Bürger Jan Philipp Reemtsma gemacht[2]. Reemtsma kommt in seiner Analyse der Gewaltformen zu meiner Verblüffung ohne einen Verweis auf die Experimente von Milgram[3] und Zimbardo[4] aus. Er unterscheidet drei Formen der Gewalt, die unterschiedliche Ziele bzw. Angriffspunkte mit Bezug zum Körper benennen: lozierende Gewalt, die darüber bestimmt, wie ein Körper sich im Raum anzuordnen und zu bewegen hat. Ferner die raptive Gewalt, die den anderen Körper, zumeist durch sexuell getöntes Begehren, erst zur Sache machen und dann in Besitz nehmen will. Und drittens die autotelische Gewalt, die in der Absicht erfolgt, die Integrität des Körpers zu zerstören. Raptive und  autotelische Gewalt orientieren sich an einer eher unbewussten Konzeption von den „zwei Körpern“, die den meisten Menschen eigen ist, wenn auch quantitativ in unterschiedlicher Weise. Beide Formen sind in der Folter präsent. Die lozierende Gewalt lässt sich als Disziplinierungsstrategie oder allgemein als Erziehung verstehen, indem sie einen Habitus hervorbringt, mit dem ein Mensch seinen Ort in der Gesellschaft anzeigt oder anzuzeigen wünscht[5]. Sie bildet die (soziale) Voraussetzung für die anderen beiden Formen, die unter dem Verständnis einer eindeutigen Täter-Opfer- oder Aktiv-Passiv-Beziehung stehen, während die lozierende Gewalt diese Eindeutigkeit (zumeist unter dem Aspekt der Liebe, Fürsorge, Ordnung und Notwendigkeit) zu verbergen sucht. Zugleich verleugnen raptive und autotelische Gewalt die Präsenz gesellschaftlicher Normen sowie ihre Ambivalenz und Verletzlichkeit, d.h. die Sedimentierung des gesellschaftlichen Körpers im individuellen Körper.

Man könnte nun noch differenzierend hinzufügen: Daneben, und das ist für den „therapeutischen“ Zusammenhang von Bedeutung, existiert ferner eine induktive Gewalt, die zum Ziel hat, mit einer Verzögerung, durch unentrinnbare, allein subjektive Erinnerung und dauerhafte Selbstbeschäftigung sowie Autosuggestion induziert, einen gleichsam autoimmunen Prozess in Gang zu setzen, der im Falle erlittener Folter zu fortgesetztem Leiden und dauerhaft verminderter Selbstachtung führen kann. Mit dem Begriff „autoimmun“ ist jener unabgeschlossene Prozess gemeint, der einsetzt, wenn und weil die individuellen Abwehrkräfte gegen erlittene Gewaltfolgen und zur Integration von solchen Erlebnissen sich gegen das Individuum richten, ihn an seine Erinnerungen fesseln, d.h. Vergessen verhindern, und in langfristige Veränderungen seines Verhaltens und seiner Persönlichkeit münden können. Diese Form der „nachhaltigen“ Gewalt ist nicht direkt mit Reemtsmas Schema zu erfassen. Sie war auch nicht primäres Anliegen der Folterer, hat sich jedoch nach meiner Beobachtung in den letzten Jahrzehnten in den Vordergrund geschoben. Diese Form lässt sich als Nebenwirkung unter die autotelische Gewalt subsummieren, denn ihre Wirkung kann zu einer Zerstörung der Integrität einer Person führen.

Als Inspiration wird auf Kantorowicz[6] und seine überzeugende Abhandlung über die zwei Körper des Königs als der absoluten Macht Bezug genommen. Kantorowicz hat einen natürlichen und einen übernatürlichen Körper des Königs als Rechtsfigur beschrieben, was für unser Anliegen von begrenzter Bedeutung ist, weil wir uns für Könige nicht interessieren. Allerdings setzt der übernatürliche, d.h. unverletzliche Körper des Königs einen anerkennenden Konsens voraus, dem sich eine Gruppe oder Gemeinschaft (zumeist mittels Gewalt und Heilserwartungen) unterworfen hat. Wir sind der Überzeugung, dass gewöhnliche Bürger eines Landes zwar nicht über die explizite Unverletzlichkeit des Königs verfügen, dass jedoch im Körper des gewöhnlichen Bürgers auch ein gesellschaftlicher Konsens und gesellschaftliche Strukturen inkorporiert sind, dass folglich die Gesellschaft in ihm lebt, woraus eine Unverletzlichkeit resultiert. Jede willkürliche Gewalt oder Folter verletzt somit nicht nur den individuellen physischen Körper sondern zugleich die Gesellschaft.

Mary Douglas[7] hat in ihren soziologischen Arbeiten auf die zwei Körper verwiesen, die in der individuellen Entwicklung zum sozialen Wesen eine Bedeutung gewinnen: der individuelle Körper, indem sich (1) physiologische Prozesse, Entgleisungen und Konditionierungen als Lernschritte abspielen und der Körper, in dem sich (2) soziale Erfahrungen ausdrücken und der damit Teil eines sozialen Sinns wird. Damit diese These haltbar ist – sie ist von Foucault und vor allem Bourdieu aufgegriffen und verfeinert worden – muss dem Körper ein Gedächtnis unterstellt werden, mit dem er imstande ist, Normen, gesellschaftliche Gebote und Verbote zu lernen. Unter Körpern werden hier physische Materie und Geist sowie alle Sinne und deren prozessorische Verbindung verstanden. Das Gehirn als Teil des Körpers hat eine koordinierende Funktion, es verharrt arbeitslos ohne Körperrezeptoren oder beschäftigt sich nur mit sich selbst.

Es soll also nicht einer neuen Zweiteilung in Körper und Geist das Wort geredet werden, sondern es sollen die zwei Bedeutungen von Körper, die ja nicht allein vom König als Ausdruck absoluter Macht und Unangreifbarkeit repräsentiert werden, sondern die doppelte Eigenheit jedes sozialen Menschen herausgestellt werden. Die Wirkungen der Folter  erhalten ihre Richtung und ihr Gewicht, indem sie den physischen und den sozialen Körper des Individuums erfassen.

Darüber hinaus erreichen die Folterwirkungen zudem noch den gesellschaftlichen Körper, also die Summe der Einzelkörper, die in einer edukativen und sozial kontrollierenden  Wechselwirkung zum Einzelkörper stehen. Dieses Verständnis vom Körper unter der Folter muss zwangsläufig im „therapeutischen“ Zusammenhang zu anderen Konsequenzen führen, als es eine Auffassung vom individuellen Körper vermag, der lediglich als Hülle für die Seele fungiert. Auf neuere Differenzierungen zwischen Körper und Leib wollen wir uns hier nicht einlassen.

 

Pierre Bourdieu hat den Begriff der Hexis für die Soziologie geprägt.

„Die körperliche Hexis, eine Grunddimension des sozialen Orientierungssinns, stellt eine praktische Weise der Erfahrung und Äußerung des eigenen gesellschaftlichen Stellenwerts dar: Das eigene Verhältnis zur sozialen Welt und der Stellenwert, den man sich in ihr zuschreibt, kommt niemals klarer zur Darstellung als darüber, in welchem Maße man sich berechtigt fühlt, Raum und Zeit des anderen zu okkupieren..“[8]

Christian Papilloud[9] erläutert dazu: Hexis umfasst körperlich gespeicherte Erfahrung, und sie zeigt in Körperhaltung, Gestik und Mimik die soziale Position, die man einnimmt oder einnehmen will. Sie bezeichnet die ererbten Regeln und Kriterien des Selbstverhältnisses zum Körper, die inkorporiert, personalisiert und ausagiert werden. Die Hexis ist Bestandteil des Habitus. Der Habitus ist das „Körper gewordene Soziale.“ [10] . Ererbt bedeutet  hier: durch Konditionierung und Mimetik erworben. Ist Folter als eine Umkehr der primären Konditionierung zu verstehen? Können Menschen überhaupt ohne Schmerzen lernen? Eine Frage, die Nietzsche immer wieder beschäftigte.

Der „doppelte“ Körper wird zum Angriffsziel der Folter, weil er, physiologische Prozesse begleitend, Überzeugungen und ein Verhältnis zur Realität auszudrücken in der Lage ist. Bourdieu geht in „Sozialer Sinn“[11] soweit, selbst dem praktischen Glauben eine Leiblichkeit zu unterstellen, der sich im Gegensatzpaar gerade/krumm ausdrücke. Primäre Bedürfnisbefriedigungen wie Essen, Kommunizieren, Bewegung, Sexualität usw. erforderten eine Inkorporation von muskulären Mustern, die nach sozialen Vorgaben erlernt werden müssten. Die Geschlechtsrollen drücken sich über unterschiedliches leibliches Verhalten aus und reichen bis zur Verhüllung des Körpers.

Wer anderen die Stirn biete, d.h. gerade gehe, verrate über seinen Habitus ebenso viel wie der, der seine Augen niederschlägt.

Diese z.B. in Kurdistan anerzogene Praxis, einem Gegenüber nicht in die Augen schauen zu können, ja, dessen Blick als Provokation aufzufassen, ist nichts weiter als das Ergebnis einer Dressur, welche die Anerkennung von Autorität fordert. Frauen dürfen Frauen ansehen, auch in deren Augen, an Männergesichtern müssen sie, zumindest bei Begrüßung und im öffentlichen Raum, vorbeischauen. Das, was wir leichtfertig als verschämt oder schamhaft interpretieren und zuweilen ignorant mit Anmut konnotieren, ist allerdings Selbstbeschämung, die wesentlich aus der Wut über den Dressurakt resultiert. Frauen schämen sich in allen Kulturen, weil sie einen erniedrigenden Dressurakt, der sie unterwirft, über sich haben ergehen lassen, und sie somit sich gezwungen sehen, zu einer Anerkennung ihrer Unterlegenheit beizutragen. Das bedeutet, der Körper ist Empfänger sozialer Normen, Gebräuche und Rituale und zugleich Ausdrucksmittel (Scham, Gehorsam, Schmerz, Peinlichkeit usw.). Dieser Mechanismus macht den Körper für den Folterer interessant, besonders, seit sich das wissenschaftliche Interesse der Gewaltformen angenommen hat.

Der schwedische Soziologe Charles Westin[12] hat diesen Wirkmechanismus der Foltergewalt einmal „negative Initiation“ genannt, weil sich in der „Folterinitiation“ der Einschluss ins Foltersystem ebenso ausdrücke wie der Ausschluss aus der vormaligen Gemeinschaft. Initiation will üblicher Weise über den Schmerz den Aufstieg in der gesellschaftlichen Hierarchie einleiten. Negative Initiation wäre somit das Gegenteil: der Abstieg oder die erzwungene Regression.

Damit der Körper lernen kann, braucht er ein Gedächtnis. Er hat dazu ein zelluläres System und ein neurochemisches System zur Verfügung. Der Sinn solcher sozialen Lernprozesse und Prägungen wird dabei im Allgemeinen unbewusst gemacht. Man spricht von Gewohnheiten und bewährten Traditionen und verdunkelt so den Mechanismus des Lernens und der zu Grunde liegenden, oftmals gewalttätigen Kriterien, denen man sich nur selten und nicht leicht entziehen kann.

Bei nahezu allen Menschen, die der Folter unterworfen werden, kommt es zu einer Neubeschreibung der Konditionierungsmatrix. Die neuen, durch Schmerz vermittelten Lerninhalte treten zumeist (jedoch nicht bei allen Unterworfenen) in heftigen Gegensatz zu den zuvor erworbenen, besonders deshalb, wenn und weil sie mit Selbstverrat und Selbstverachtung verbunden sind. Aus diesem im individuellen Inneren durch Gedächtnisarbeit erlebten Konflikt resultiert im Wesentlichen das „Foltersyndrom“ mit all seinen Desorientierungen. Dieses Syndrom ist gänzlich verschieden von den mit z.B. Todesbedrohung einhergehenden Ereignissen wie Kriegsteilnahme, Verkehrsunfall, technische oder Naturkatastrophe. Auch eine Analogisierung des jeweiligen Erlebens von totaler Ohnmacht und Hilflosigkeit kann die spezifische Bedeutung der Foltererfahrung kaum in Zweifel ziehen. Erst Selbstzweifel, Selbstbeschämung, Selbstvorwürfe wegen der ins Bewusstsein dringenden Ohnmacht und ihrer begleitenden Körperempfindungen erzeugen nach unserer Auffassung das Syndrom, das in zahlreichen geforderten Kriterien äußerst schwammig bleibt und allerhöchstens als grobe Orientierung, möglicherweise nur zur Sensibilisierung dienen kann.

Die psychologisch wirksamen Techniken der Folter  können nur deshalb heute favorisiert werden, weil sie auf indirekte Weise den Körper und das in ihm inkorporierte Soziale, das Sicherheit versprach und bot, angreifen. Das inkorporierte Soziale lässt sich in Teilen als Objektrepräsentanz verstehen, insofern, als die erfahrenen Normen strukturell unabhängig von personalen Objekten existieren. Die sozial vermittelte Bedeutung des Wertes von Familienangehörigen, von Freunden, von Überzeugungen, von subjektiven Wahrheiten, Normen und Erfahrungen, von Eigenem und Fremdem, die sich in einem psychischen Geflecht als Sinn sedimentieren, werden nach wiederholten Angriffen von den Betroffenen als schmerzlich und unzureichend wahrgenommen und  als gewaltsame Verwandlung in einem psychosomatischen Sinne empfunden. Diese gelernten Bedeutungen können unter der Folter ihren ursprünglichen Sinn verlieren, ohne sinnlos zu sein. Der neue Sinn ist eine Form der Eingemeindung in die homogenisierende Kraft der Gewalt, die ebenso über Generationen hinweg wirksam sein kann, so sagt man, wie das traumatische Gedächtnis.

Insofern ein Mensch in der Welt ist und die  (Teile der) Welt in ihm, ist von seiner Foltererfahrung auch stets die Welt betroffen. Diese Erkenntnis hat in der Aufklärungsepoche zu einer negativen Bewertung der Folter geführt und später dann die darin zum Ausdruck kommende autotelische Gewalt mit rechtlichen Kategorien zu zähmen versucht.

In der Folter einer Person, ist auch immer die Gesellschaft betroffen, die Folter gewähren lässt, sei es, weil die Ähnlichkeit zur  Praxis der Initiation dies nahe legt, sei es aus Mangel an Vorstellung über die gesellschaftlichen Auswirkungen, sei es aus Ohnmacht und Angst oder Unbewusstmachung. Zugleich stellt Gesellschaft aber fest, mit Jean Améry, dass sie außerstande ist, einen Gefolterten zu integrieren oder zu heilen. Wer gefoltert wurde, wird nicht mehr heimisch in dieser Welt. Dies ist nicht nur das Bekenntnis einer individuellen Unfähigkeit, heimisch zu werden, sondern die Klage über die Unfähigkeit der Gesellschaft, ein Folteropfer wieder heimisch zu machen, es nicht in der Ausgrenzung zu belassen.

 

Über dreißig Jahre beobachtete ich die Folterpraxis der türkischen Polizei an politisch aktiven, jungen  Menschen, die oppositionell zur herrschenden Lehre standen, die sich militant zur Wehr setzten oder die lediglich einen muttersprachlichen Schulunterricht forderten. Es ließ sich ohne weiteres erkennen, dass gerade bei Jugendlichen in Polizeistationen eine Angst erzeugende Wirkung auf die Gesellschaft ausgeübt wurde.

Dabei fiel eine gewisse Abstufung in der Systematik der Folter auf: Jugendliche, d.h. Jungen und Mädchen von 13-17 Jahren wurden nicht mit dem gesamten Arsenal der Foltermethoden überschüttet – obschon auch dies vorkam, siehe Manisa – sondern sie erhielten eine Lektion der gesteigerten Angsterzeugung, wodurch ihr Habitus und ihr soziales Selbstbild geschwächt wurde. Zuerst wurden sie verbal erniedrigt, dann wurden ihre Familienmitglieder mit Fäkalienausdrücken belegt. Daraufhin kam ein scheinbar verständiger Verhörspezialist wie ein Vater, der den Jugendlichen in Schutz vor den Grobheiten der anderen zu nehmen schien, der sich mit der Schule in Verbindung setzte, so dass der Rektor eine zeitlich begrenzte Suspension  aussprach. Essen und Unterbringung in der Polizeistation waren karg und verdreckt. Von den groben Wärtern hat es Backpfeifen und Tritte gegeben. Nach 2-3 Tagen, manchmal nach einer Nacht,  kam es zur Entlassung, bei der Jugendliche oftmals außerhalb des Ortes der Polizeistation transportiert und ausgesetzt wurden. Dabei wird die Drohung ausgesprochen, das nächste Mal werde es nicht so glimpflich abgehen. Es wird ferner gefordert, mit niemand über die Umstände der Festnahme zu sprechen. Es wird eine Akte angelegt, und der betroffene Jugendliche muss nun damit rechnen, dass er durch Lehrer, Mitschüler oder Zivilpolizisten beobachtet wird.

Man könnte aus dieser Praxis schließen, Jugendliche verfügten nicht über erwünschte Informationen, oder die Folterpolizisten gingen gnädig mit Jugendlichen um. Richtiger erscheint, dass Jugendliche noch nicht über eine voll ausbildete Hexis und einen entwickelten Habitus gebieten. Somit könnten sie nicht im Doppelcharakter ihres Körpers angegriffen werden, da sie das Soziale, das eine Diktatur und ihre Relikte dem Einzelnen übriglassen, noch nicht komplett inkorporiert haben. Zudem sind Jugendliche eindeutig suggestibler und durch die Kommunikation mit double-bind-Inhalten leichter zu irritieren als politisch Erwachsene.

So werden die betroffenen Jugendlichen zu Botschaftern. Ihr meist verändertes Verhalten nach der Entlassung aus der Polizeistation hat direkte und indirekte Auswirkungen auf ihr soziales Umfeld, dem die Machtfülle und die Bereitschaft des Staatsapparats zur Gewalt signalisiert wird.

Einzelfälle werden leichthin als anekdotisch abgetan. Es liegt keine statistische oder methodologisch begründete Untersuchung  als Grundlage über die Auswirkungen auf das gesellschaftliche Umfeld vor. Das ist insofern ein Mangel, als man aus Einzelbeobachtungen eine Theorie aufstellt, die generelle Gültigkeit beansprucht. Die Behauptung, durch Folter sei auch der gesellschaftliche Körper (über mitfühlende Angehörige hinaus auch die Verlässlichkeit von Normen) angegriffen und verletzt, ist empirisch und methodisch bislang nicht korrekt nachgewiesen.

 

 

 

Folter ist eine soziale Krankheit, wenn man überhaupt klinische Maßstäbe anlegen will. Sie kann sich in symptomatischer Form im Einzelnen sedimentieren. Sie betrifft aber immer auch die umgebende Gesellschaft in dem Maße, in dem diese bereit ist, Macht auszuüben und Macht zu akzeptieren, zu verehren oder unsichtbar zu machen. Aus diesen Gründen halte ich eine soziologisch untermauerte Theorie des Foltertraumas für angemessener als jenen sich in Beliebigkeit verlierenden Psychologismus, dem man heute in Traumatherapien begegnet, in denen das von Gewalt betroffene Individuum nicht nur seine Lasten tragen muss, sondern sich darüber hinaus gezwungen sieht, das drückende Gewicht der Leerstelle der umgebenden Gesellschaft auf seine Schultern zu nehmen. Diese Doppelbelastung ist eigentlich nicht in individueller Behandlung aufzulösen, sondern setzt die Beteiligung der gesamten Gesellschaft voraus.

Wie sehr die Folgen von Folter eine Gesellschaft berühren, erkennen wir z.B. an den Verarbeitungsstrategien in Uruguay, Argentinien und Chile. Noch Jahrzehnte nach den Folterungen polarisieren Folterereignisse die Gesellschaften, d.h. die Koexistenz von Tätern und Opfern (Überlebenden und Angehörigen) wird nicht ohne juristische Beurteilung hingenommen. Wir fragen uns, ob im Falle von Folter von rechtsgestützten Urteilen Genugtuung und innerer Friede in der Gesellschaft ausgehen kann und akzeptieren dies nur als Teilschritt. Ich denke, dass auch das nationale und internationale Recht sich lediglich einem Aspekt von Folter oder Körperverletzung zuwenden und damit eine Eindimensionalität der Betrachtung durch Medizin und Psychologie, letztlich als Unbewusstmachung, begünstigen.

Jahrelang habe ich mich gefragt, was ich bei gefolterten Menschen als Behandlungsgegenstand ansehe. Ursprünglich ging ich davon aus, dass es sich um die Folgen von Schmerzen handeln müsse, die als unaussprechliche den Weg über die Sprache nicht finden und sich daher in verkleideter Form als Symptome ausdrücken. Ersetzen Symptome die Sprachlosigkeit? Sind sie Sprache? Und kann dann die Ermöglichung von Sprechen Symptome reversibel machen? Da bin ich auf das Modell der zwei Körper gekommen, das kein neues ist, sich jedoch möglicherweise gut eignet, die verschiedenen Ansätze eines „therapeutischen“ Vorgehens zu erklären und zu rechtfertigen. Und dieses kann nach meiner Überzeugung nur die Erfahrung von Präsenz, Geduld, Solidarität sein, von gemeinsamem Handeln, ohne „unten und oben“; der gefolterte Mensch ist neben mir, kann sinnvoll nur auf gleicher Höhe erfahren werden. Ein gefolterter Flüchtling muss seine Gleichheit nicht beweisen oder erkämpfen, er hat sie.

Unter der Folter wird der Körper auf unterschiedliche Weise bewegt oder am Bewegen gehindert. Auf der einen Seite, damit ist der physiologische Körper gemeint, handelt es sich um dem Körper zugefügte Schmerzen. Schmerzen sind vorsprachlich, Schmerzen haben keine Worte. Schmerzen lassen sich in kulturell erlernter Form in Metaphern fassen, sie bleiben gleichwohl individuell. Auf der anderen Seite, und hier ist der „soziale Körper“ gemeint, werden in der Folter spezifische Muster aus dem Lernverhalten, der Ausdrucksweise, der Lebensform und der Lebensentwürfe angegriffen. Diese haben sich in einem je unterschiedlichen sozialen Lernen geformt und kollidieren zu Recht oder vermeintlich mit der Macht in einem Staat und den Institutionen der Macht.

„Der Körper als soziales Gebilde steuert die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird; und andererseits wird in der (durch soziale Kategorien modifizierten) physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung manifest.“ (Mary Douglas, S.99)

 

Jean Améry hat sich wiederholt und vehement gegen die Psychologisierung und Klinifizierung seiner Foltererlebnisse gewandt. Er war verwundert, wie sein Empfinden und Verhalten, das er einer Introspektion des Ressentiments unterzog, in eine Pathologie des Überlebenden verwandelt wurde:

„Misstrauisch auskultiere ich mich: Es könnte sein, dass ich krank bin, denn objektive Wissenschaftlichkeit hat aus der Beobachtung von uns Opfern in schöner Detachiertheit bereits den Begriff des „KZ-Syndroms“ gewonnen. Wir alle seien, so lese ich in einem kürzlich erschienenen Buch über „Spätschäden nach politischer Verfolgung“, nicht nur körperlich, sondern auch psychisch versehrt. Die Charakterzüge, die unsere Persönlichkeit ausmachen, seien verzerrt. Nervöse Ruhelosigkeit, feindseliger Rückzug auf das eigene Ich seien die Kennzeichen unseres Krankheitsbildes. Wir sind, so heißt es, „verbogen“. So habe ich denn die Ressentiments nach zwei Seiten hin abzugrenzen, vor zwei Begriffsbestimmungen zu schirmen: gegen Nietzsche, der das Ressentiment moralisch verdammte, und gegen die moderne Psychologie, die es nur als einen störenden Konflikt denken kann.“

Wenn der Schmerz, wie Rorty sagt, sprachlos ist, dann ist der Folterakt die Zurückversetzung in den vorsprachlichen Bereich, in dem wohl Beziehungen knüpfbar und Wahrnehmungen machbar, nicht jedoch formulierbar waren. Der Folterer versetzt sein Opfer in jene Periode der Existenz, in der es noch keine sprachlichen Begriffe für Objekte gab, gleichwohl Empfindungen, die in ihrer neuronalen Registrierung als Schmerzen sich fassen ließen.

„Die wirksamste Weise, Menschen anhaltenden Schmerz zuzufügen, besteht darin, sie zu demütigen, indem man alles, was ihnen besonders wichtig schien, vergeblich, veraltet, ohnmächtig erscheinen lässt.“[13]

An diesem Satz wird deutlich, dass über Schmerzzufügung der sozial gelernte und sozial legitimierte Bedeutungsrahmen, mithin die gesellschaftliche Umgebung, wesentlicher Angriffspunkt von Folterern sind. Der individuelle Körper, der misshandelt wird, steht stellvertretend für einen Bedeutungsrahmen, der von der Foltermacht angegriffen wird.

„Wie ich schon gesagt habe, ist Schmerz nicht-sprachlich: er ist das, was uns Menschen mit den sprachlosen Tieren verbindet. So haben die Opfer von Grausamkeit, Menschen, die leiden, nicht viel Sprache. Deshalb gibt es so etwas wie „die Stimme der Unterdrückten oder die Sprache der Opfer“[14] nicht. Ob Tiere wirklich sprachlos sind, hätte Rorty zu Lebzeiten vor dem Schlachthof überprüfen sollen.

 

Wenn man die Intention von Folter auf „zwei Körper“ bezieht, die Verletzungen erleiden, dann hat diese Zuordnung Implikationen für „therapeutische“, das heißt solidarische Bemühungen. Wenn man darüber hinaus noch eine dritte Komponente, den gesellschaftlichen Körper, einführt, ergeben sich Interventionsansätze, die über das betroffene Individuum hinausreichen. Individualtherapie ist dann unzureichend. Kompensation wird im Allgemeinen in der Verteidigung von universellen Menschenrechten gesehen, deren generalisierter Charakter die individuelle Behandlung ergänzen und einrahmen soll. Der Einsatz für Rechtsnormen kann dem unmittelbar Betroffenen als traumatisiertem Flüchtling nur dann nützen, wenn der Kampf für Menschenrechte im Alltag der Flüchtlinge als konsequent und kompromisslos erfahrbar wird. Und das bedeutet, sich nicht allein auf verbale Bekenntnisse zu beschränken. Die Therapeutin im Exil ist nur dann ein Gegenmodell, wenn sie sich mit den drei Angriffszielen von Folter beschäftigt.

 



[1] Als Trauma bezeichne ich die physische und psychosoziale Verletzung. Posttraumatische Symptomatiken sehe ich als individualisierte Folgeprozesse nach Trauma, die zum Teil in sozialen Kontexten konstruiert werden. Sie sind enger gefasst als Folgephänomene, da diese alle individuellen und sozialen Wirkungen von Folter und deren Techniken sowie deren Interdependenzen zu beschreiben suchen.

[2] Reemtsma, Jan Philipp (2008) Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburger Edition, Hamburg.

[3] Stanley Milgram (2007) Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.

[4] Philipp G. Zimbardo (1975 ) Transforming experimental research into advocacy for social change. In: Deutsch, M., Hornstein, H.A.(Hg.) Applying social psychology, Hillsdale New Jersey: Erlbaum.

[5] So geht z.b. vom Versuchsleiter im Milgram-Experiment lozierende Gewalt aus, indem er durch Kittel, Stimme und die Betonung übergeordneter Interessen (Erfolg des Experiments) eine Rolle oder Position einnimmt, die nicht nur die Anerkennung der Probanden voraussetzt, sondern darüber hinaus den Probanden ihre Position zuweist.

[6] Kantorowicz, Ernst H. (1990, Erstveröffentlichung 1957) Die zwei Körper des Königs, DTV-Wissenschaft München.

[7] Mary Douglas (1981, Erstveröffentlichung 1970) Ritual, Tabu und Körpersymbolik – Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Suhrkamp Frankfurt/M.

[8] Pierre Bourdieu (1982) Die feinen Unterschiede. Zur Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M.: Suhrkamp S. 739

[9] Christian Papilloud (2003) Bourdieu lesen. Bielefeld: transcript-Verlag. S. 42

[10] Pierre Bourdieu & Loic J.D. Wacquant (1996) Reflexive Anthropologie. Frankfurt/M. Suhrkamp S. 161

[11] Pierre Bourdieu (1999 – 3.Aufl.) Sozialer Sinn, Frankfurt/M. : Suhrkamp

[12] Charles Westin (1991) . Torture and Existence. Report No. 20, Center for Research in International Migration and Ethnical Relations, Stockholm.

[13] Richard Rorty (1992) Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt/M. : Suhrkamp. S. 153

[14] Richard Rorty, ebda