Auch die Nervengeflechte des Darms haben bei Menschen eine Fähigkeit zur Wahrnehmung und ein Gedächtnis, vermutlich auch sämtliche Körperzellen, wenn sie mit der Umwelt in Kommunikation treten. Vor allem das Immunsystem kann wahrnehmen und erinnern. Von diesen soll aber hier nicht die Rede sein, sondern von den konstruierten und imaginierten Formen eines cerebralen Gedächtnisses.
Ohne Zweifel sind traumatische Erlebnisse und ihre Persistenz geeignet, das Arbeiten des Gehirns in einigen Parametern zu studieren. Dabei hat der Schritt, unterschiedliche Modalitäten von Gedächtnis anzunehmen, dazu geführt, auch für das traumatische Gedächtnis zwei Wege der neuronalen Fortleitung zu postulieren.
Widersprüchlich zeigen sich Studien von Menschen mit PTSD, die eine Verkleinerung der hippocampalen Volumina nach Ausschüttung von Corticosteroiden im Anschluss an militärische Kampfhandlungen posttraumatisch nachwiesen. Besonders deutlich sei der Effekt der Volumenverminderung, wenn vor den traumatischen Kampfhandlungen des Erwachsenenalters in der Kindheit Missbraucherlebnisse zu eruieren waren. Die Ergebnisse verminderter Hippocampus- Volumina konnten in manchen ähnlichen Studien nicht verifiziert werden. Sie waren freilich in Übereinstimmung mit Tierversuchen. Nun ist aber gerade der Cortisolspiegel bei PTSD-diagnostizierten Personen nachweislich erniedrigt, sodass man nicht von einer verlängerten Phase der Einwirkung von Corticosteroiden auf den Hippocampus sprechen könne, es sei denn, die traumatischen Erlebnisse hätten eine verbrauchende endokrine Wirkung zur Folge gehabt.
Verminderte Volumina des Hippocampus orientieren sich an einem statistischen Durchschnitt. Sie werden erst posttraumatisch registriert, sodass eine bereits früher bestehende Verkleinerung nicht erfasst würde. In Fällen, in denen eine Volumenverminderung festgestellt wurde, geht man nunmehr eher davon aus, dass die Verminderung einen Risikofaktor darstellt, später eine PTSD zu erleiden. Zwillingsforschungen legen diesen Schluss nahe. Allerdings mag man solchen Behauptungen nur zustimmen, wenn die Durchschnittsbevölkerung ihre Hippocampus-Volumina hat ausmessen lassen. Denn das verminderte Volumen eines eineiigen Zwillings ohne heftige traumatische Stimulationen (Kriegsdienst) belegt im Vergleich zu seinem Zwillingsbruder, der auch eine Verminderung des Hippocampus, jedoch nach Kampfeinsätzen, aufweist, dass entweder genetische Präformation oder eine unbedenkliche Vielfalt als Abweichung vom Durchschnitt im Spiel sind. (Analogie: Sind „rote“ Haare dunkle blonde oder helle braune?) Danach wäre ein intellektuelles Defizit, das Menschen mit geringerem Hippocampus-Volumen zugesprochen wird, (solche Menschen lösen im Test Aufgaben schlechter als solche mit durchschnittlichem Volumen) ein Hinweis darauf, wie Interessen und Fragestellungen, die sich an Statistiken mit kleinen Zahlen orientieren, das Outcome beeinflussen. Die Literatur gibt keine eindeutigen Erkenntnisse: z.B.
Bremner,J.D. (2002) Does Stress damage the brain? Understanding trauma-related disorders from a neurological perspective. New York: W.W. Norton.
Yehuda, R. (2001) Are glucocorticoids responsible for putative hippocampal damage in PTSD? How and when to decide. Hippocampus, 11, 85-89.
Die Auf-und Erlösung vom Mythos der posttraumatischen Belastungsstörung wird heute im Wesentlichen in der Konzeption unterschiedlicher Gedächtnisfunktionen gesehen. Die genetische Fraktion hat sich des Themas noch nicht angenommen. Genetik und Gedächtniskonzeptionen haben Vorteile, die darin bestehen, dass sie die vorherrschende Verantwortung des Individuums zu einer Schicksalhaftigkeit ummünzen. Die heutige Gedächtniskonzeption beruht auf Pierre Janets Mutmaßungen, wonach traumatisches Gedächtnis sich vom narrativen oder autobiographischen dadurch unterscheidet, dass es in anderer Form gespeichert werde, ohne willkürliche Kontrolle und dissoziiert von bewusster Wahrnehmung. Traumatisches Gedächtnis sei starr, nicht so flexibel wie narratives Gedächtnis, das sich viel mehr erfinderisch an die Umstände anzupassen in der Lage sei. Leonore Terr ist der Auffassung, traumatisches Gedächtnis zeichne sich durch besondere Klarheit, Detailreichtum, längeres Andauern aus. Traumatisches Gedächtnis beinhalte eine Komposition von Gefühlen und körperlichen Sensationen. Traumatisches Gedächtnis führe automatisch durch sinnliche und sprachliche Trigger in eine traumatische Vergangenheit, wogegen das narrative Gedächtnis als Antwort auf bewusste Versuche der Erinnerung aufzufassen sei. Mir will all dies nicht einleuchten.
Van der Hart, van der Kolk und andere Autoren haben ein System des traumatischen Gedächtnisses identifiziert, ohne erkennbar machen zu können, in welcher Weise gewöhnliches und traumatisches Gedächtnis nebeneinander koexistieren. Denn zwei Formen der Speicherung setzen voraus, dass eine komplexe Konstellation von Gefahr, Schrecken, Gefühlen und Stressreaktion für die Lagerung im traumatischen Gedächtnis verantwortlich wäre, indem es zu entsprechenden neuronalen Bahnungen und endokrinen Begleitern komme. Man muss dann jedoch voraussetzen, dass eine übergeordnete Instanz die Entscheidung trifft, was ins traumatische und was ins gewöhnliche Gedächtnis gehört. Vermutlich hat die Besetzung von Rezeptoren eine Schlüsselrolle. Diese übergeordnete Instanz wäre dann auch in der Lage, die schnellen subcortikalen Bahnen zum präfrontalen Cortex genauso zu aktivieren wie die eher langsamen, die zum Hippocampus und von dort zur Amygdala verlaufen und die als hemmende Funktion bei konditionierter Angst auftreten, obwohl die Situation, der Kontext, von kortikaler Betrachtung als sicher eingestuft wird.
In etwas anderer Weise stellt sich die Erfindung neuer Gedächtnisfunktionen dar, wenn man die Annahme zugrunde legt, der Mensch verfüge über ein Wahrnehmungsgedächtnis (perceptual memory) und ein sprachliches Gedächtnis. Verkürzt ließe sich konstatieren, ein extrem traumatisches Ereignis wird von einem Menschen noch wahrgenommen. Die Wahrnehmung ist die Voraussetzung dafür, dass eine Stressantwort erfolgen kann. Es gelangt aber wegen seines extremen Schreckens nicht bis ins sprachliche Gedächtnis, weshalb eine verbale Expression des Horrors in manchen Fällen nicht möglich sei. (Es könnte auch sein, dass aus dem Reservoir der eigentlich armen Sprache kein Wort oder Begriff passt.) Es stellt sich bei dieser Gedächtniskonstellation die Frage, warum nicht alle Betroffenen neuronal „hängen bleiben“ und ob es nicht ein Altzentrum des Gehirns gäbe, das aus übergeordneter Position wegen der Intensität der Wahrnehmung mit hemmenden Impulsen entscheidet, was weitergeleitet wird und was nicht und damit einen evolutionär unterstützenden Standpunkt einnimmt. Diese Impulse erfolgen auf der Basis zur Verfügung gestellter chemischer Stoffe, und diese Stoffe sind zahlreich oder gemindert vorhanden, was als unterschiedliche Reizantwort imponiert. Reizhemmung ist der Mechanismus, der einen Organismus befähigt, einen Schutz zu installieren, damit ein Mensch nicht permanent durch Furcht gequält wird. Daher braucht es eigentlich nicht die Hilfskonzeption unterschiedlicher Gedächtnisse für unterschiedliche Reize. Hierin liegt auch das Argument, lokal angereicherten und farblich sichtbar gemachten Gehirnarealen in PET-Darstellungen nach Reizexposition komme keine sichere Entscheidbarkeit darüber zu, ob die vermehrte Aktivität durch umwandelnde Farbgebung einer Hemmung oder einer Bahnung entspricht, denn Hemmung und Bahnung stellen Aktivitäten dar, die einen intensiveren Stoffwechsel, d.h. Sauerstoffaufnahme erfordern. Man kennt das vom Autofahren: Bremsen und Gasgeben.
Die Annahme zweier Nebengedächtnisse, die das Hauptgedächtnis beeinflussen können, indem sie als verbal und als situativ zugängliche Gedächtnis (VAM und SAM) für die Produktion von Flashbacks als nichtsprachlich, bildhaft bzw. für Nachdenken, Konstruieren und Grübeln verantwortlich seien, vermag nicht zu überzeugen. Dieses Konstrukt setzt voraus, dass der Prozess der Integration als zu gewinnendes Bewusstsein vom traumatischen Erleben (möglichst vollständig) und seiner Funktionsstörungen ein sinnvolles Ziel repräsentiert, obwohl das Bewusstsein, gleichsam aus dem narrativen Gedächtnis, zudem es Zugang durch Psychotherapie erhalten hat, Wiederholungen des traumatischen Erlebens befördern kann, aber dann seine stimulierende, rekapitulierende Wirkung einbüßt, weil es eine Bedeutung erzielt hat, die nun das traumatische Erlebnis und seine Begleitemotionen zumindest abschwächt. Wandert das traumatische Ereignis neuronal durch das Bewusstsein, das in mehreren Orten lokalisiert ist, dann verliert es seine quälende Kraft, während das vor der Therapie im SAM gefangene Material sehr wohl quälen kann. Hier erscheint noch großer Aufklärungsbedarf. Wenn VAM als ein Gedächtnis, in dem Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart enthalten sind sowie Vorwissen, das die traumatische Situation begleitet, gespeichert sind, dann wäre in der Tat der unwillkürliche Flashback als bildhafte Reinszenierung vom verbal zugänglichen Gedächtnis dissoziiert. Ich bezweifele jedoch, dass Flashbacks nur nach traumatischen Erlebnissen eintreten. Vielmehr sind jede Gewissensbildung und existenzielle Problemstellungen von bildhaften Erinnerungen begleitet, wenngleich nicht von Vernichtungsszenen und Erniedrigungen. Flashbacks sind für mich nicht speziell beweisend für traumatische Situationen. Irgendjemand (APA ?) hat Flashback als Spezifikum des posttraumatischen Erlebens erklärt, und seither gilt dieses Diktum als unbefragte Wahrheit, weil Betroffene neben der szenischen Wiederaufführung auch die gleichen Gefühle reproduzieren wie in der ursprünglichen traumatischen Situation. (Triumphgefühle können m. E. immer wieder Siegesbilder begleiten, die unangemeldet oder durch Trigger stimuliert vor Augen treten.) Ob sie in ihrer Ausprägung und in ihrem Auftreten ein spezifisches Gedächtnis benötigen oder nicht vielmehr mit Schuldgefühlen gekoppelt sind, also Einflüssen aus dem sozialen Alltag entspringen und unterliegen, ist für mich weiterhin eine unbeantwortete Frage. Immerhin ist denkbar, dass allein die Intensität der endokrinen Kaskaden als Reaktion auf äußere Reize das menschliche Gehirn veranlasst, ein Ereignis zu speichern oder nicht aufzubewahren oder abzublassen wie eine vergilbte Zeitung.