Teil 2 - Der posttraumatische Symptomenkomplex Übererregtheit

von Sepp Graessner

 Vorbemerkung:

2011 nennt Alain Ehrenberg das DSM-III die Bibel der Diagnostiker. Diese „Seligsprechung“ ist das Resultat einer gläubigen Hinwendung an zeitlose, angeblich universelle Kategorien von Gefühlen, Verletzung, Erinnerung, Erstarrung, Erschrecken und kognitiven Ressourcen wie Gerechtigkeit, Menschenrechte. DSM-IV erlebte dann eine Heiligsprechung. Im kommenden Jahr wird ein noch voluminöseres DSM-V erscheinen. Werden wir dann eine erleuchtende Erscheinung haben? Kann uns diese Aus- und Zurichtung durch Experten zu denken geben, wenn der Glaube jeden Common sense „traumatisch“ überwältigt hat? Kernüberzeugungen („die Welt ist gut.“) und extreme Traumata („dem Tod ins Auge gesehen“) können nicht zugleich für wahr gehalten und geglaubt werden, wie Bolton und Hill urteilen. Eins von beiden wird immer auf der Strecke bleiben, und der resultierende Konflikt bildet den Auftakt zu Symptomen. Sicher, Menschen haben Gefühle, können erstarren, sind zu erinnerten Bildern fähig, auch die Schreckensäußerung und Erregung teilen Menschen. Die Bedeutung, die sie diesen Phänomenen geben, beurteilen Menschen nicht nur graduell in feinen Unterschieden.

 

Kultur bemächtigt sich natürlicher Prozesse in unterschiedlicher Art und Weise; das ist ihre Funktion, der Zweck ist Kontrolle und Vermeidung eines Ausgeliefertseins. (Hören natürlicher Phänomene - Musik, Töne, Lärm – bildet ein Beispiel, wie natürliche Prozesse der Wahrnehmung unterschiedliche Kategorien kultureller Bewertung hervorbringen. Die katalogische Differenz liegt nicht in der sinnlichen Wahrnehmung, sondern in der Bedeutung, die wir der Differenz beimessen.) Natürliche Reaktionen, z.B. auf Stress, werden mithin kulturell im Stressdiskurs überformt (z.B. allein dadurch, dass sie als Allgemeinwissen Gegenstand von Wissenschaft werden). Sie sind nicht mehr Natur pur. Es handelt sich vielmehr um hierarchisch geordnete Hybride, denen universelle Eigenschaften abgehen.

Im Folgenden geht es immer um Betrachtungen der Folgephänomene von Gewalterlebnissen und Stress, die nach der herkömmlichen Definition menschliche individuelle Verarbeitungsmöglichkeiten übersteigen. Es wird keineswegs bestritten, dass therapeutische Interventionen den posttraumatischen Prozess abkürzen und entschärfen können, vor allem in jenen Fällen, in denen eine zur Entlastung verpflichtete Umwelt die Anerkennung versagt, Empathie zeitlich begrenzt und Handlungsfähigkeit ohne psychische Optionen fordert.

 

Allgemeines zu Erregung

In ähnlicher Form, wie ich es für das Symptom Vermeidung beschrieben habe, möchte ich zu einem weiteren Symptomenkomplex der posttraumatischen Belastungsstörung Stellung nehmen: der Übererregtheit (engl. Hyperarousal) nach traumatischen Erlebnissen. Übererregtheit wird in den einschlägigen Katalogen als D-Kriterium aufgeführt und in irritierender Weise neben Intrusion und Vermeidung gestellt, obschon die „pathogenen“ Mechanismen völlig unterschiedlich sind. In Erklärungsnöte gerät man, weil Erregung und Erstarrung (engl. Numbing) sich nebeneinander nicht gut vertragen. Sie können folglich nur nacheinander oder alternierend auftreten. Während Erregung als überlebenswichtige, biologische Reaktion auf einen Stressor oder traumatisches Ereignis zu betrachten ist, stellen Intrusion und Vermeidung abgeleitete oder sekundäre Symptomkomplexe dar, die unbewusste und teilbewusste Impulse vereinen und posttraumatisch ebenso wie Erregung persistieren können. Es handelt sich generell bei den Symptomkomplexen der posttraumatischen Belastungsstörung um individuelle psychophysische Reaktionen, die auf ein bedrohliches und schreckliches Ereignis in unterschiedlicher Intensität erfolgen können. Meine Irritation rührt unter anderem daher, dass bewusstes oder unbewusstes Vermeiden von Stimuli, die biologische Erregtheit erzeugen, gleichfalls (und zirkulär) unter den Symptomclustern genannt und gleichsam eine spontane und schützende Reaktion pathologisiert und biologische Erregung dadurch negativiert wird.

 

Die wissenschaftliche Gestalt der pathologisierten Erregung als „Hyperarousal“ entsteht notwendigerweise aus zwei Zutaten: aus der Stresstheorie Hans Selyes von 1936 und späteren Modifikationen und aus der Funktion des Gedächtnisses, durch Querverschaltung von Kognition und Emotion zu belastenden Wiederholungen fähig zu sein. Stressoren wie z.B. Gewalt oder Gewaltandrohung replizieren sich szenisch durch spontane Bilder, die konditionierten Reizen entsprechen. Sie sind von emotionalen Qualitäten eingerahmt, die peritraumatisch erlebten Gefühlen entsprechen. Dies erscheint wegen der natürlichen, biologischen Reaktionsweise unausweichlich. Wenn das natürlich Unausweichliche zu einem (Krankheits-) Symptom der Psyche wird, erheben sich ernste Fragen. Das Natürliche, das Biologische und Unausweichliche tolerieren keinen Schlussstrich oder eine Grenzziehung durch individuelle Entscheidung oder menschliche Übereinkunft. Herrschafts- und Kontrollaspekte charakterisieren das Verhältnis von vielen Menschen zur Natur, wodurch es ein entfremdetes, weil nicht reflexives wird. Oftmals erhalten Bedrohungen aus der (menschlichen) Natur  nur Etikett-Namen, die ambivalent Kontrolle und zugleich Abhängigkeit andeuten sollen. Bei antiken Griechen und Hindus sind es dann jeweils Gottheiten, denen man angstvoll ausgeliefert sein kann. Etikette sind keine Diagnosen.

Woher stammt historisch und kulturell diese Tendenz, Ängste zu schüren und zugleich das Heil zu versprechen, wenn Menschen in  genormter Form auf die Ängste und Schrecken reagieren?

Das Bild der Hölle, das im christlich gebrauchten Sinne für Sünder bereit gehalten wurde und gleichsam die Angst vor dem extremen Trauma transzendierend repräsentierte, hat sich unmerklich in ein gleichfalls Schrecken verbreitendes Bild in der realen Welt verwandelt: in die Forderung nach seelisch einwandfreier Funktionalität, in ein Muster kontinuierlich erweiterter Abweichungen vom „Normalen“ und Akzeptablen, das Schuld zu produzieren in der Lage ist wie Religion. Und wie in der Religion wird die Schuldursache in das Individuum verlagert. Ob es sich um motorisch unruhige Kinder, um Essstörungen, um histrionische Persönlichkeiten, Anpassungsstörungen u.a. handelt, von Jahr zu Jahr tauchen innovative Diagnosen/Etikette auf, die über eine implizite Schuldzuweisung moralische Standards verbreiten wollen. Und in dem gleichen Maße funktionieren trotz rhetorischer Dementis auch der Traumadiskurs und seine Therapiekonzepte. Die früher übliche, religiös motivierte Forderung nach Reinheit hat sich in ein Normverhalten und Normempfinden verwandelt. Auch die Wahrheit existiert ja nur im schmalen Band der Norm. In Verbindung mit ungeschriebenen Leistungsgesetzen ist in der Tat eine Form des innergesellschaftlichen Terrorismus entstanden, der sich dadurch auszeichnet, dass, angesichts des Schreckens, man könnte vielleicht nicht zur Norm gehören, die Abwehrmechanismen versagen und eine erhöhte Suggestibilität für externe Rettung resultiert, weil in den verschreckten Individuen keine Kraft und kein abgerundetes, reifes Selbst steckt. Man wird den Eindruck nicht los, dass die Menschheit nicht sehr viel weiter gekommen ist als zu jenen Zeiten, als in Europa noch die Inquisition herrschte. Heute jedoch trägt die Inquisition keine Kutten sondern Kittel.

 

Kulturelle Gründe für Skepsis

Übererregung als Symptom eines Syndroms erzeugt in mir dieselben skeptischen Betrachtungen wie Vermeidung und Teile von Intrusion oder inneres Wiederholungserleben, und zwar aus nahezu den gleichen Gründen. Eine Differenz besteht darin, dass im Gegensatz zur physiologisch generierten und immerhin messbaren posttraumatischen Erregung die Intrusion einer psychologischen Deutung aus Empirie folgt, weshalb heute durchaus Teile davon als „alternativlos“ anerkannt werden. Unabhängig von der modernen Genesis des posttraumatischen Symptomkatalogs begegnet uns auch in der Gestalt der Übererregung eine gewisse normative Willkür, die ihre Verwurzelung im westlichen Denken, in westlichen Wissenschaften und Glauben sowie westlichen Praktiken hat.

Oft hat mich die Frage erregt, warum Menschengruppen in z.B. Afrika oder Kurdistan, die seit 200 Jahren unter kolonialer Herrschaft mit Mord, Verfolgung, Diskriminierung, Versklavung lebten, keine Strategien gegen ihre permanente Traumatisierung entwickelt, keine Erholungs- oder Verdrängungstechniken ausgebildet haben sollten, die auch für uns im Westen nützlich sein könnten, also eine Elastizität der Reaktions- und Verarbeitungsmuster hervorgebracht haben, mit denen die betroffenen Menschen emanzipatorische Deutung, Reifung und Beruhigung erzielten und dem fortgesetzten Opferstatus zu entkommen suchten. Sind der afroamerikanische Blues nicht solch eine Trauertechnik oder das kurdische Katastrophenlied, in dem Kurden durch Text und Gesang kollektiven Katastrophen in sozial erlebtem Kontext innerlich erneut begegnen? Wovon man gemeinsam singen kann, das büßt viel von seiner zerstörerischen Kraft ein. Katastrophale Ereignisse sind daher nicht nur individuell in den Betroffenen lokalisiert, sondern zeigen Spiegelungen in der äußeren Realität. Sind etwa Afrikaner, Kurden und alle Gemeinschaften fernab vom Westen zu taub und emotional oder intellektuell zu beschränkt, dass sie unfähig waren, für ihre beschädigten Psychen Heilmittel (Symbole in Sprache, Klängen, Witzen, Theater und Ritualen) zu erfinden oder wurden sie nur überheblich und vorsätzlich als unfähig klassifiziert? Und inwieweit lässt sich von kollektiven Coping-Strategien Nutzen für eine individuelle Integration von Leid ziehen? Und dauert die westliche Superiorität an? Haben Vietnamesen, Aborigines, Kurden oder Afrikaner etwa nur seit Jahrhunderten geduldig darauf gewartet, dass westliche Wissenschaft ihnen den Weg in eine Therapeutik weist, mit der sie im 21. Jahrhundert ihre posttraumatischen Syndrome inklusive denen der vierten Generation überwinden können? All das erschien mir abwegig, zumal in autobiographischen Schilderungen betroffener Ferner durchaus Techniken eines Wachstums und einer reaktiven Elastizität zum Ausdruck kommen (z.B. Mandela, Soyinka). Wie sind diese Menschengruppen mit einer dauerhaften posttraumatischen Erregung umgegangen? Welche Bedeutung haben sie ihr zugemessen? Kommt der neue Imperialismus in der Gestalt wohltätiger Therapeutik daher, wie schon Missionare ihren Glauben in wohltätiger Rhetorik gewaltsam verbreiteten? Es ist unmöglich, über etwas zu sprechen, was man nicht sicher kennt. Wir bleiben in unserem Denken und Ordnen gefangen und können versuchen, die Prinzipien unserer psychischen Mechanismen zu entschlüsseln und Interessen zu benennen, die sich mit unseren Klassifikationen verbinden. Für mich erhebt sich die Frage, wie viele Schuldkomplexe in den westlich dominierten Kategorien von Trauma und Posttrauma heimlich verborgen sind. Wer Elementares versteckt, braucht tarnende Ideologie. Die Ideologie des Traumas muss folglich Gegenstand von Forschung werden, was Allan Young seit 1980 fordert.

 

Noch mehr Fragen

Ich habe mich in meiner praktischen Tätigkeit immer wieder gefragt, ob es berechtigt sei, einen Katalog von psychosozialen Phänomenen, die durch physiologische Stressprozesse ausgelöst wurden, für so unterschiedliche Personengruppen oder Individuen wie Soldaten, Bergarbeiter, Verkehrsteilnehmer, Gefangene, Kinder, Frauen, Seeleute, Vulkanbewohner zu konstruieren; d.h. von z.B. traumatisierten Soldaten auf traumatisierte Flüchtlinge (oder andere traumatisierte Personen) normativ zu übertragen. Dass so unterschiedliche Menschengruppen in ihren Reaktionen auf bedrohlichen Stress so annähernd gleich antworten sollen, betont eher die physiologische Unausweichlichkeit dieser Reaktionen. Es handelt sich hier jeweils um spontane heftige Erregung/Erstarrung als menschliche Reaktion aus sehr unterschiedlichen Ausgangslagen. Die Erlebnisse einer akuten, erschreckenden und/oder lähmenden Gefährdung des Lebens stellen die essentielle Verbindung her. Wer im überwältigenden Schock psychisch einfriert, kann Realität nicht mehr konzentriert beurteilen, da seine kognitiven Prozesse sich (Vorsicht! Metapher.)„verknäueln“ und eine ordnende Instanz ihren Dienst versagt, sodass Kampf oder Flucht als Handlungen verstellt sind.

Ich konnte also nicht akzeptieren, dass der Integrationsprozess  traumatischer Erlebnisse bei Soldaten, Flüchtlingen oder Unfallopfern derselbe sei, weil es bedeutet hätte, dass der wahrgenommene Kontext (Umstände, Gewalttäter und Vorgeschichte) ohne Einfluss auf die kognitive Anteile der  Verarbeitung bliebe. Kognitive Anteile werden posttraumatisch schon deshalb benötigt, um erneute Gewaltexposition zu vermeiden, d.h. (aus Geschichte und Geschichten) zu lernen. Sicher erscheint mir lediglich, dass auf den Reaktionsmechanismus nach lebensbedrohlichem Stress, d.h. die Ausschüttung einer stofflichen Kaskade mit den Zentren Sinnesorgan/Gehirn/Nebenniere kein Bewusstseinsprozess nachhaltig Einfluss nimmt, außer im flüchtigen Moment der Gefahrerkennung. Bei lebensbedrohlichem Stress übernimmt blanke Physiologie die Regie. Alle diese unterschiedlichen Prozesse vereinheitlicht ein Begriff: Stress.

Ob „Predictability” als Prozess des Bewusstseins die physiologische Reaktion beeinflusst, scheint bislang nur in repetitiven Experimenten mit Ratten (und äußeren Beobachtern) belegt. Bei Soldaten in Kampfeinheiten muss man in hohem Maße von Vorbereitung und Vorhersehbarkeit, Traumata zu erleiden und mit Tod konfrontiert zu sein, ausgehen. Wir werden nie erfahren, ob fehlende Vorhersehbarkeit in militärischen Einheiten eine höhere Rate an Traumata bewirkt hätte. Predictability oszilliert in hohem Maße zwischen der Person, die ein traumatisches Erlebnis hatte, und der später hinzutretenden menschlichen Umgebung, die mit kognitiver Vernunft den Begriff ganz anders auflädt als eine traumatisierte Person. Ob Erwartung und Vorhersehbarkeit wirklich einen Nutzen für eine von Traumata betroffene Person entfalten, steht bislang dahin. Es scheint sich eher um einen akademischen Begriff zu handeln.

 

Erster Schritt in der Schuldfrage

Es ist guter Brauch, wenn nach individuellen oder kollektiven Katastrophen aufgeräumt wird, die Schuldfrage zu stellen. Sie wird umso drängender gestellt, je mehr materielle Entschädigungen im Spiel sind. Die Schuldfrage führt in den kausalen Kontext von Ursache und Wirkung, in die Triade von Opfer, Tat=Stress und Täter. Andauernde Erregung ist ein Symptom, das für sich allein nach Überzeugung des Katalogs ein bedeutendes und zugleich messbares Indiz für traumatische Erlebnisse liefert. Wenn nun nach man-made Desastern Täter und Opfer scheinbar vergleichbare physiologische Mechanismen von Erregung durchlaufen (die einen durch ihre Erinnerungen an Demütigungen, die anderen aus permanenter Angst vor Gerichtsverfahren und aus der Furcht, ihre Faszination von Gewalt anzuerkennen und öffentlich am Pranger zu stehen), dann relativiert sich vom Pathomechanismus der Erregung betrachtet die Schuldfrage, weil andauernde Angstgefühle Erregung, ja Übererregung in beiden Gruppen produziert und weitere Zeichen generiert. Die für kollektive Integration massiver Demütigung notwendige Klärung der Schuldfrage wird durch katalogische Teilauflistung von Erregungssymptomen vernebelt. Sicher, es ist nicht Aufgabe und Zweck einer Diagnose, Schuldfragen zu klären. Durch eine einseitige Beschreibung von geschädigten Personen  als Opfer hat die Frage nach kausal bestimmten Folgephänomenen wie z.B. Erregung aber einen Akzent erfahren, der Zuordnung einengt. Es ist nicht Sinn von (Teil-) Diagnosen, in die Beliebigkeit abzurutschen und durch Klassifikation von psychischen Zeichen unfähig zu machen, „Opfer“ von „Tätern“  zu differenzieren. Wenn aktives und passives Verhalten oder gute und böse Impulse mit Blick auf die psychischen Folgen keine eindeutige Unterscheidung erlauben, dann müssen andere Zeichen als die permanente Erregung herangezogen werden. Ich gehe nämlich davon aus, dass auch Faszination von Gräueltaten eine dauerhafte oder intermittierende Erregung bewirken kann, die solange währt, bis eine neue Geschichte die erlebte  ersetzt und diese für wahr und real gehalten wird.

 

Zum Stress

 

Kein Symptomcluster der posttraumatischen Belastungsstörung hat so innige Beziehungen zum Stressdiskurs wie die peritraumatisch einsetzende Erregung. Sie ist in erster Linie durch subjektive Unentrinnbarkeit charakterisiert. Der Stressdiskurs und seine späteren Erscheinungen sind (in Bezug auf man-made-disasters) ein sozialer Diskurs auf der Grundlage natürlicher prozesshafter Abläufe. Trotz und wegen seiner biomedizinischen Analogien ordnet der Stressdiskurs in seiner modernen Ausdeutung gesellschaftliche Orientierung, indem er natürliche Prozesse an gesellschaftliche Fragestellungen adaptiert (Young, 1980). Stress wird zu einem der wirkungsmächtigsten Begriffe des 20.Jahrhunderts, der in viele gesellschaftliche Bereiche diffundiert, wegen seiner auf Alltagswissen gründenden Verständlichkeit rasch anerkannt wird und eine Selbsthilfeindustrie sondergleichen ins Leben gerufen hat.

Die ursprünglich beforschte Verbindung von Stress und Stressantwort stellte noch den sofortigen Mechanismus und seine evolutionäre Bedeutung in den Mittelpunkt. Posttraumatischer Stress kommt durch das traumatische Gedächtnis zustande. Er ist in enger Verbindung zum Auslöser zu betrachten und  folgt  dem primären emotionalen Reaktionsmuster ohne kognitive Korrektur. (Ist das wirklich so?) Während eine traumatisierte Person (wie ihre Umwelt) bewusst erkennen könnte, dass sie posttraumatisch in Sicherheit ist, weigern sich ihre emotionalen Zentren und ihre Erinnerung, „objektive“ Sicherheit anzuerkennen und zur Ruhe zu kommen. Flucht, Verletzung oder Verfolgung dauern subjektiv an. Die aktuelle Wirklichkeit wird von der vergangenen eingenommen. Kognition rangiert nach Emotion. Kognitive und emotionale Potenzen zeichnen auf getrennten Wegen ein unterschiedliches Bild von Realität. Das hat Forscher zur Hypothese geführt, dass zwei Arten von Gedächtnis angenommen werden müssten, nämlich das Gedächtnis für Alltagserlebnisse und das traumatische Gedächtnis, die erst im therapeutischen Akt interagieren können. Bei traumatisierten politischen Flüchtlingen kann man feststellen, dass solche Dissoziation (von Trauma und Alltagswissen) auch nach Flucht oder Vertreibung andauert. Weil traumatische Erlebnisse zu einer Senkung der Reiz-Reaktionsschwelle führen, wird erneuter und eher geringer Stress durch so manches Behördenverhalten heftige und unangemessen erscheinende Reaktionen bewirken. Immer dabei: Erregung und Übererregung, die aber nicht zu Kampf oder Flucht führen, sondern in der Regel zu Resignation und Erschöpfung. Manche nennen diese späte Stressantwort Depression.

Allerdings war, historisch betrachtet, das Stresskonzept Wandlungen ausgesetzt. Da Stress zur conditio humana gehört, und das schließt auch Stress durch Lebensbedrohung ein, ließ sich die Tatsache, dass von außen einbrechende Ereignisse zu krankmachenden Folgephänomenen führten, nicht einfach linear pathologisieren. Der Maßstab pathologischer Zuordnung ist die grenzenlose Illusion einer sicheren Welt. Man hätte z.B. auch den „gerechten Krieg“ für pathologisch erklären können, weil er der Illusion widerspricht. Da die post-war-Politik dies nicht wollte, verfielen speziell eingerichtete Kommissionen in den 1960er Jahren (Vietnamkrieg) auf die Idee, pathologisch bewertete Symptome nicht im Stressereignis und den vorausgegangenen politischen Entscheidungen zu verorten, sondern in missglückten Copingstrategien, die als Anpassungsstörung beschrieben wurden und bereits im DSM-I von 1952 auftauchten. Damit war bestätigt, was schon seit Jahrzehnten hartnäckig anerkannt war, dass es sich, wenn die post Stress Spontanreaktion andauerte, um eine Charakterpathologie handeln musste, die ihren Ursprung in zuvor bestehenden Komorbiditäten hatte. (Das alte Thema „konstitutionelle Schwäche“ hat lediglich den Namen geändert: Komorbidität.) 1968 beschrieb das DSM-II noch verharmlosend die „temporary situational disorder,“ die sich interessanter Weise von ungewollter Schwangerschaft bis zur Todesstrafe erstreckte. Die Stresstheorie fand durch langfristige Symptomatiken von „Opfern aller Arten“ ihre Grenzen, denn jede Energietransformation konnte als Stress interpretiert werden, weshalb eine weitere Neuakzentuierung her musste: Stress wurde zum Trauma. Der neue Begriff erlaubte am Beispiel von Veteranen (US-Veteranen Organisationen, Pharmaindustrie!) und sexuellem Missbrauch (Frauenbewegung!) tendenziell folgendes: Das Stigma einer Psychiatrisierung wurde vermieden, weil ein benennbares Verletzungsereignis am Ursprung stand, und Kompensation und Rehabilitation im nachweisbaren Verletzungsfalle wurden erleichtert. Mit der Diagnose PTSD, der posttraumatischen Stress Störung, wurde dann eine Mixtur erfunden, die sowohl „Trauma“ als auch „Stress“ benannte. Der alte Begriff Trauma hat den Vorteil, dass er (in seiner Bedeutung im Altgriechischen) sowohl Verletzung als auch Narbe bezeichnet. Verletzung und Narbe umfassen einen Prozess, der von der Gewalteinwirkung bis zur Geweberestitution reicht. Was irgendwie aufgemotzt klingt, sagt, dass der Stress posttraumatisch aus der unwillkürlichen Erinnerungsfähigkeit eines Menschen rührt, der lebensbedrohlichem Stress ausgesetzt war und ein Trauma seiner Psyche/Physis erlitt, das definitionsgemäß seine Integrationsfähigkeit (Narbenbildung) überforderte. Denselben Mechanismus unwillkürlicher Erinnerung durchläuft ein Mensch mit entwickeltem Gewissen, wenn Schuldgefühle, Normverstoß und verheimlichte Scham sich unaufgefordert melden, weil sie Ursache oder Folge begleitender Erregung sind. Integration meint Ausstattung mit Sinn und gedämpfte emotionale Antwort. Phantomschmerz wäre als verwandter Prozess zu betrachten: die innige Integration und cerebrale Repräsentation eines schmerzenden Organs reproduziert Schmerzempfindungen nach Amputation. Das willkürliche und unwillkürliche traumatische Gedächtnis des individuellen Körpers sind der Ort und Anlass andauernder Symptomatiken. (Bislang ist noch niemand auf die Idee verfallen, für Phantomsensationen nach traumatischer Amputation ein Extragedächtnis in der Großhirnrinde zu postulieren.) Betroffene machen sich selbst Stress, weil sie nicht verdrängen oder vergessen oder neue Bedeutungen an die Stelle der verletzten alten setzen können. Diese Auffassung scheint einer biologischen Erklärung ziemlich nahe zu kommen, da, wie neuere Erkenntnisse sagen, die wiederholte Ausschüttung von Adrenalin (Erregung!) zu einer Vertiefung und Verfestigung von Erinnerungsbildern führt, also in einen malignen Zirkel. Wenn dieser biologische Prozess wiederholt so wäre, könnte sich eine traumatisierte Person von Flashback und Bildersturm eigentlich nie erholen, weil jede erneute, als quälend empfundene Erinnerung in eine tiefere neuronale Fixierung führen müsste, gäbe es nicht den Mechanismus der Resilienz. (Zu den elastischen posttraumatischen Reaktionsmustern in einem zukünftigen Beitrag.)

Zur stofflichen Kaskade, die durch lebensbedrohliche Ereignisse in Gang gesetzt wird, lässt sich heute Gesichertes  lediglich insofern sagen, als die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse daran beteiligt ist. Die rasche und vermehrte Ausschüttung von Adrenalin im Falle eines solchen Stresses ist erst einmal als physiologisch zu betrachten. Bestimmte Untersuchungen von Yehuda und Resnick haben nun gezeigt, dass Kampfsoldaten mit PTSD eine erhöhte Basisausscheidung von Noradrenalin im Urin aufweisen, die sich nicht bei Veteranen ohne PTSD oder Kontrollpersonen feststellen ließ. Ferner lässt sich eine erhöhte Produktion von Glucocorticoiden (Cortisol) bei „normaler“ Stressantwort registrieren, wogegen sich bei PTSD-diagnostizierten Personen eine Verminderung des Cortisols erwies und damit geringere Immunabwehr. Derselbe Effekt sei bei Frauen nach einer Vergewaltigung nachzuweisen. Das zentrale Problem für die Feststellung einer PTSD bleibt das Nebeneinander von biologischen Reaktionen auf Stress und pathologisch gewerteten  Zeichen.

 

Katalog, Kriterium D

Bevor wir weiter abdriften in allgemeine Betrachtungen, sollten wir uns dem geliebten Katalog, Kriterium D, konkret zuwenden.

Übererregtheit äußert sich in folgenden Ausprägungen nach DSM-IV-TR (2003), zusammengefasst von Liebermann, Wöller, Siol, Reddemann.

 

  1. Schwierigkeiten ein- oder durchzuschlafen;
  2. Reizbarkeit oder Wutausbrüche;
  3. Konzentrationsschwierigkeiten;
  4. Übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz);
  5. Übertriebene Schreckreaktion.

 

 

Jedes einzelne der genannten Unterkriterien ist schon einmal von allen Erwachsenen erlebt worden, vermutlich auch von Jugendlichen oder Kindern. Bei hochfieberhaften Erkrankungen sind es auch schon mal vier. Wer die Unterkriterien zusammengefasst liest, mag nicht glauben, dass in diesen Allerweltserfahrungen ein Schlüssel zu mentalen Störungen liegt. Entscheidend für die Vergabe der Diagnose PTSD ist das gleichzeitige Auftreten von mindestens zwei Zeichen aus den D-Kriterien. Die Unterkriterien 1) und 4) sind im Allgemeinen bei Müttern (Eltern) mit Säuglingen gegeben, und es können weitere wie Konzentrationsstörungen als Folge von Schlaflosigkeit hinzutreten. (Geburt ist allerdings kein Trauma, und daher nicht entschädigungspflichtig.)

Die Unterkriterien bilden zusammen das Leitsymptom Übererregtheit, das freilich über einen langen Zeitraum wiederholte und quälende Wirkung entfalten muss. Daher ist festgelegt, dass ein Diagnostiker bestimmen muss, ob die Unterkriterien weniger (akut) oder länger (chronisch) als drei Monate andauern. Bei verzögertem Beginn tritt gemäß dem Katalog die Symptomausbildung sechs Monate nach den Belastungsfaktoren auf. Zugrunde liegt hierbei die Vorstellung einer Latenz, in der sich Symptome aus Konflikten der inneren Bearbeitung mit der menschlichen Umwelt bilden. Sechs Monate erscheinen als willkürlich bestimmter Zeitraum. Über die Festlegung der Zeitrahmen wird kaum etwas Nützliches gesagt. Statistiken können kaum herangezogen werden, da sie nach meiner Kenntnis nicht für alle traumatischen Ereignisse erstellt wurden, aber auch im Falle vorhandener Statistiken keine normative Bedeutung für den Einzelfall erhalten. Meistens erfolgt normative Bewertung durch die Intuition der Experten.

Wie schon beim Symptomkomplex Vermeidung kommt auch beim Kriterium D normative Willkür ins Spiel, die nur bedingt durch Empirie gedeckt ist. Die willkürliche Festlegung von Normen im Rahmen der D-Kriterien ist umso fragwürdiger, als es sich hierbei um eine primär physiologische und schützende Reaktion handelt, deren Verwandlung in eine Pathologie kein überzeugendes Fundament besitzt. Das wird vielleicht an einer Beobachtung deutlich: niemand kann mit Sicherheit darüber befinden, ob sich das Spätsymptom Übererregung allein aus der Reproduktion von Bildern des Traumas oder der traumatischen Situation entsteht oder sich als Folge sekundärer Erregungen darstellt, die aus intrusiven, von Konflikten bestimmten inneren Prozessen aufgefasst werden müssen. Intrusion und Vermeidung haben keine primäre Beziehung zum traumatischen Ereignis. Sie sind im Allgemeinen später auftretende Reaktionsmuster.

Das Leitsymptom muss definitionsgemäß nicht nur für die personale Umwelt und deren Forderungen nach korrekter Funktionalität störend sein, auch die Betroffenen selbst sind in ihrer Persönlichkeit, d.h. in ihrer Identität, Fähigkeit zur psychophysischen Präsenz, Offenheit für differenzierte Affekte usw. beschränkt. Sie bemerken die Defizite bewusst, erfüllen daher nicht soziale Erwartungen, worunter sie leiden können. Wenn sie ihre an sich wahrgenommenen Veränderungen mit traumatischen Erlebnissen in Verbindung bringen, was ihnen wegen der unwillkürlich auftretenden Bilder nicht schwer fallen sollte, dann haben sie ein zweifaches Problem. Sie haben nicht nur Erstarrung und Hilflosigkeit peri- und posttraumatisch zu verkraften, sondern sie müssen auch mit der Wahrnehmung ihrer permanenten Störung sozialer Interaktionen zurechtkommen. Ihr Schuldkonto erhöht sich dadurch. Ein weiterer Stimulus für Erregung bereitet Unbehagen: Im Vergleich zu anderen Betroffenen schämen sie sich (möglicherweise) ihrer verminderten Funktion.

Grundsätzlich geht in die Bewertung der Kardinalkriterien eine Differenz ein, eine Differenz zu anderen vom selben traumatischen Erlebnis Betroffenen, eine Differenz zum gewohnten und Sicherheit bietenden Selbstbild und zu sozialen Erwartungen, die als Normen internalisiert wurden. Nun hat man sich lange nicht für die Symptomarmen interessiert und ihre Mechanismen der Bearbeitung von Traumata studiert. Man hat schlicht gemeint, die Auffälligen wieder „normal“ zu machen, ohne dass man die „Normalen“ oder „Symptomfreien“ in ihren Techniken verstanden hätte. (Vielleicht gibt es die „Normalen“ auch gar nicht.) Der sich viel zu langsam ausbreitende Zweifel hatte nie genug Kraft, Alltagskonzepte wie Stress und Poststress in Frage zu stellen. Paradox: Die Vertreter von Normkonzepten fächern Normalität so weit auf, dass sie heute radikal umschlägt: nun gibt es keine Normalität mehr, nun sind alle Menschen Abweichler und anormal und behandlungsbedürftig.

Der bedeutsame Einwand gegen meine Argumentation liegt darin, ich hätte mich an einem Symptomcluster festgebissen, während doch erst die Summe von drei Clustern plus spezifiziertes Trauma plus definierte Dauer zur Diagnose PTSD führe. Ich habe daher neben Übererregung sowohl Intrusionen wie den Flashback als auch Vermeidung auf den Prüfstand gestellt. Dabei war mir wichtig zu belegen, dass die Symptomcluster bei PTSD zwar Aussagen über individuelles Befinden erlauben. Ihr posttraumatisches Befinden erlebt eine Person jedoch nicht in einer menschenleeren Wüste, sondern in sozialen und kommunikativen Zusammenhängen. Posttraumatische Umwelteinflüsse haben bedeutsame Effekte auf das Befinden einer traumatisierten Person, wozu auch der Traumadiskurs und die eingeforderten Entschädigungen zählen. Wir begegnen bei PTSD einer Reihe von willkürlichen Normierungen von natürlichen Prozessen, die nach Maßgabe gesellschaftlicher Bedürfnisse eingegrenzt werden. An diesen Normierungsprozessen lassen sich Interessen ablesen, die in einem kapitalistischen Rahmen Hauptakzente auf Maximierung eines Wohltätigkeitslohns und Effektivität psychischer Funktionen legen und diese Interessen machtvoll durchzusetzen imstande sind.

Insgesamt ließe sich inhaltlich trefflich über Angst sprechen, die mit Erregung und im Falle von Panik mit Übererregung verknotet ist. Ich habe das in Übereinstimmung mit dem Katalog unterlassen, obwohl ich der Überzeugung (wie so manche) bin, dass eine Emotion wie Angst nicht nur eine Verbindung von Kognition und Gefühlen herstellt, sondern im Kern posttraumatischer Symptomatik steht.