Immer wieder strande ich bei Überlegungen zu den Symptomen der posttraumatischen Belastungsstörung an den Begriffen der Norm und des Normalen. Ich ereifere mich über Normierungen bei Kindern (ADHS) und will mich nicht abfinden, dass es notwendig sein soll, willkürlich Normales zu bestimmen und Normen des „gesunden Verhaltens“ zu definieren und von pathologischem Verhalten abzugrenzen. Während Industrienormen Konstruktionen erleichtern, kann ich den Sinn im diagnostischen Bereich auf den ersten Blick nicht erkennen. Sobald man aber die drastische Zunahme von pathologisch definierten Abweichungen des Verhaltens in den letzten 15 Jahren betrachtet, kommt einem spontan in den Sinn, hier werden Arbeitsplätze geschaffen. Da Arbeitsplätze zugleich ein Gewinn für Politik darstellen, erfährt die Ausweitung der Diagnosen von dort Unterstützung. Aber reicht diese Erklärung aus? Geht es nicht vielmehr um biopolitische Standards, die latent politisch befürwortete Schuldgefühle in den Bürgern wachrufen sollen, weil diese Schuldgefühle angeblich kreative Motive darstellen? Braucht es nach der Überwindung von Klassenschranken nicht neue Trennschärfe, die nun der Psychiatrie überlassen wird? Und ist die Psychiatrie wirklich geeignet, Grenzlinien in das menschliche Verhalten, vor allem bei Kindern, einzuziehen? Sie kann ja Normen nicht repressiv durchsetzen.
Ein schlagendes Beispiel für politische Intervention im Traumafeld ereignete sich im Juli 1999 im US-amerikanischen Congress. Dort wurde einstimmig eine Resolution verabschiedet, die eine Brandmarkung und Verurteilung eines wissenschaftlich ausgewiesenen Artikels zum Thema hatte. Rund zwei Wochen später befand auch der US-Senat einstimmig den wissenschaftlichen Artikel für „severely flawed“. Richard J. McNally, Psychologe an der Harvard-Universität, machte uns 2003 mit den Fakten bekannt. Das Interesse McNallys war es, neben dezenter Empörung zu zeigen, wie kontrovers die damaligen (und heutigen) Erkenntnisse im Traumafeld rezipiert und gesellschaftlich diskutiert werden.
Was war vorausgegangen? Die Autoren Rind, Tromovitch und Bausermann hatten eine Metaanalyse in der Fachzeitschrift „Psychological Bulletin“ veröffentlicht, in der sie ihre Ergebnisse einer Untersuchung von 59 Studien vorstellten, die sich mit Langzeitfolgen nach sexuellem Missbrauch befassten. Danach waren sie zum Urteil gelangt, dass im Vergleich zu nicht missbrauchten Personen diejenigen, die sexuellen Missbrauch in der Kindheit erlitten hatten, nahezu dieselbe Anpassung geleistet hatten. Weniger als 1% der Abweichungen von psychologischer Anpassung waren auf sexuellen Missbrauch in der Kindheit zurückführbar. Das hatte riesige Empörung bis in die Talkshows ausgelöst, sodass sich der Congress zum Handeln aufgefordert sah. Dabei wurde verurteilt und gebrandmarkt statt gefragt. Es hätten sich zahlreiche Fragen angeboten. Sie wurden nicht gestellt. Man hätte z.B. die untersuchten Studien und deren Fragestellungen und Hypothesen unter die Lupe nehmen können, man hätte fragen können, wie viele der für eine Metaanalyse herangezogenen Studien von Männern und wie viele von Frauen angefertigt worden waren und wie die untersuchten Kollektive beschaffen waren. Rind et al. hatten sexuellen Missbrauch explizit verurteilt.
1.Teil: Vermeidung
von Sepp Graessner
Vorbemerkung
In nicht ganz verbissener Form denke ich über den Katalog der Symptome nach, die sich zur Diagnose: „posttraumatische Belastungsstörung“ verdichten können. Rechthaberei liegt mir fern. Als Rentner kann ich sie mir zwar leisten, mit Rücksicht auf die vielen Praktiker und Praktikerinnen trete ich das Privileg aber bereitwillig ab, nicht aus Bescheidenheit, denn diese führt heute zu nichts, sondern aus guten Gründen. Wer über individuelle Phänomene, die Menschen zu Krankheitssymptomen erklären, nachdenkt, landet eher im tiefen Zweifel als in weiß bekleideter Sicherheit. Wer über den posttraumatischen Symptomkatalog grübelt und nicht andere grübeln lässt und nur Konzeptanwender oder Leser von Beipackzetteln ist, der wird Mühe haben zu urteilen und Zweifel zulassen müssen. Zunächst möchte ich den Begriff Vermeidung, und was er bedeuten mag, durchkneten. Man wird sehen, ob der Teig aufgeht.
Sepp Graessner
Traumapolitik durch Dunkelziffern
Ein Aufruf
Traumapolitik liegt immer dann vor, wenn in spekulativer Weise Prognostik sich mit „Dunkelziffern“ verbindet. Hierbei scheint es sich um eine Nähe zur Wahrsagerei, zur Astrologie und Alchimie zu handeln. Eine öffentlich geäußerte Dunkelziffer setzt eine Dynamik in Gang, bei der zwar jeder weiß, dass es sich um Schätzzahlen handelt, im Alltagsgebrauch nehmen Dunkelziffern jedoch eine schlampig erzeugte Faktizität ein. Dunkelziffern und Prognostik bieten eine Sicherheit, der unsicheren Zukunft selbstbewusst entgegentreten zu können. Sie sind dann Argument und nicht nur Tendenz. Es kommt nicht auf 1000 Personen mehr oder weniger an, wesentlich ist die Tendenz von Personen, die z.B. Drogen-, Medikamenten- oder Alkoholmissbrauch betreiben oder eben von traumatisierten Personen in einem Kollektiv, das von traumatischen Ereignissen betroffen wurde. Geschätzte Zahlen traumatisierter Menschen werden von Experten gern herangezogen, um einen therapeutischen Bedarf zu begründen oder zu effektiven therapeutischen Strategien aufzurufen, die wegen der großen und dunklen Zahl von Betroffenen vor allem kurz und ökonomisch sein sollen. Da heute zahlreiche Selbstbehandlungen über das informelle Internet stattfinden, muss dieses elektronische Medium zu den Experten gerechnet werden. Experten sind eine Gattung in permanentem Wachstum. Man traut sich nicht, das Ende des Expertenwachstums zu prognostizieren.
Sepp Graessner MD –Vortrag vor südkurdischen TherapeutInnen, Berlin 2011
Überlegungen zum Begriff „kollektives Trauma“ in SüdkurdistanZunächst als einschränkende Vorbemerkung: Das kollektive Trauma verstehe ich nicht als spontane Reaktion auf massenhaft auftretende Gewaltherrschaft. Vielmehr bilden sich der Begriff und seine erkennbaren Äußerungsformen in postdiktatorischen gesellschaftlichen Situationen. Ein Traumakollektiv von Menschen unter lebensbedrohlicher Repression kann sich postdiktatorisch verwandeln in ein kollektives Trauma. Meine Überlegungen beziehen sich daher nicht auf einzelne oder multiple Ereignisse, sondern auf die kollektiven Folgephänomene nach traumatischen Erlebnissen, die zugleich Formen der Verarbeitung darstellen. Im Begriff des Kollektiven ist bereits die Coping-Strategie enthalten. Diese liegt wesentlich auf der Bühne des Sozialen, das mit Akteuren wie „kollektives Gedächtnis“ und „kollektive Trauer,“ nicht zuletzt mit „kollektiver Widerstand“ und „kollektive Ressourcen“ operiert. Wie man kollektives Trauma versteht, hängt davon ab, ob man das traumatische Ereignis oder die traumatischen Folgen fokussiert. Das Trauma als dauerhafte seelische Verletzung tritt nicht nach jedem traumatischen Ereignis ein. Gleichwohl kann man in den allermeisten Fällen von schockartigen Erschütterungen sprechen.
von Sepp Graessner
Nach den Überlegungen Derridas zur Autoimmunität des Menschen, der von den Produkten und der Technik, die er herstellt, am Ende aufgezehrt wird, ließe sich das Internet auf seine selbst zerstörerischen Impulse untersuchen. Internet-Therapie kann als Beispiel für die Zerstörung menschlicher Kommunikation durch „gute Absichten“, die Erleichterung herstellen sollen, gedeutet werden. Fast jede Technikinnovation verfolgt die Ziele der Lebenserleichterung für einige, wobei zwangsläufig Kollateralschäden durch Benachteiligung und Zugangsbeschränkungen vieler auftreten, was wiederum den Eindruck der Autoimmunität verstärkt, weil bereits die Idee der Technik von autoimmunen Impulsen durchdrungen ist. Die Zauberlehrlinge von heute halten keinen Besen; sie sitzen hinter einem Computer.
Die folgenden Zeilen mögen als Anregung dienen, über das komplexe und komplizierte Thema „Trauma und Zeit“ nachzudenken. Praktikerinnen wissen, dass sie oftmals mit der „Zeit“ therapieren, zuweilen auch gegen die „Zeit.“ Dass es jedoch mit Bezug auf Zeit ein Schema in Menschen gibt, das nachhaltig durch extreme Traumata wie z.B. Folter beschädigt werden kann, ist eher selten Gegenstand von Überlegungen und Beobachtungen. Das Zeiterleben in einem Zeitschema wird stets als Konstante vorausgesetzt. Hier werden daher zur Diskussion einige Aspekte vorgestellt, die mir bei der Reflexion meiner eigenen Praxis begegnet sind. Meine Überlegungen verzichten auf Beispiele und Zitate, gleichwohl gehen zahlreiche Lektüren in diesen Beitrag ein.
Die Zeit ist nichts, was den Menschen und ihrem psychischen Erleben äußerlich ist. Zeit ist als Prozess in allen sinnlichen Wahrnehmungen und Reaktionen auf Wahrnehmungen enthalten. Daher ist Zeit als Schema nur als Prozess zu verstehen und nicht nach dem isolierten Kausalitätsprinzip, wonach ein isoliertes, plötzlich einbrechendes (z.B. traumatisches) Ereignis für langfristige Folgephänomene verantwortlich zu machen ist, ohne dass weitere (frühere oder spätere) Einflussfaktoren berücksichtigt werden müssten.
Sepp Graessner, – Oktober 2006
Bilder, Zensur, Urteile und die Macht der Psychiatrie/Therapeuten
(für M.)
Im Jahre 1997 hatte sich im Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin eine Tendenz zur Hierarchie herausgebildet. Sie wurde als natürlicher Ausdruck eines schon zuvor entwickelten Machtwillens hingenommen. Die Bildung von Hierarchien berief sich auf therapeutische Erfahrung mit traumatisierten Flüchtlingen und meinte eher die Dauer der Zugehörigkeit zur Einrichtung. Diese Art von „Natürlichkeit“ war mir stets suspekt. Hierarchie bedeutet Machtkonstellationen in der interpersonalen Kommunikation; dies ist ein Kennzeichen von Institutionen. Dazu zählt auch das wortlose Streichen von Textpassagen von Mitarbeitern. Ohne Fragen und Diskussion wandert der Cursor von Vorgesetzten über den Computer und löscht Wörter, Sätze, Bedeutungen von Kollegen. Das habe ich als Ausdruck von Machtspielen, als Kränkung empfunden. In der betreuenden und unterstützenden Tätigkeit ging es neben institutionsdynamischen Aspekten dabei nach meiner Beobachtung immer zugleich um die Rolle und Bedeutung eines breit verankerten und expandierenden Diskurses vom Psychotrauma, um die Wahrheit des einzig richtigen Urteils und sicher auch um einen universellen Aufruf zum sensiblen Umgang mit anderen Menschen. Es ging ferner um taktische und erzieherische Überlegungen und die Produktion eines pathetischen Bildes von der Arbeit im öffentlichen Raum, mit der sich Mitarbeiter den Grausamkeiten der Welt aussetzten. Das Motiv der Sicherung eines Arbeitsplatzes zur Spezialisierung und Weiterbildung im therapeutischen Sektor will ich nur marginal erwähnen.
Um von der für therapeutische Prozesse unbefriedigenden und einseitigen Individualisierung der Folterfolgen abzurücken und um die damit zusammenhängenden ungenügenden Therapieversuche, welche die Gewaltfolgen allein ins individuelle Pathologische verlagern und damit gesellschaftliche Verantwortung unbewusst machen, hinter uns zu lassen, erscheint eine systematische Aufspaltung der in der Folter enthaltenen Gewalt und des daraus resultierenden Schmerzes erforderlich. Ich möchte ein Plädoyer abgeben für meine Überzeugung, dass Traumafolgephänomene[1] nicht oder nur selten in eine Pathologie gehören, es sei denn, die Existenz von menschlicher Gewalt gegenüber anderen Menschen rechtfertige generell einen pathologischen Status.
Dabei berufe ich mich auf Jean Améry und andere Autoren, die Gewalt und Gewaltfolgen nicht allein im getroffenen oder ausführenden Individuum bemerkten. Hiermit wird nicht bestritten, dass Demütigungen und Erniedrigungen in Einzelfällen zu gravierenden Symptomatiken führen können. Ich wende mich gegen Generalisierungen, die als Subtext von traumatischen Erlebnissen auftauchen. Traumatische Erlebnisse, auch wenn man sie als extrem beschreibt, sind zu allererst Teil des Lebens, der Existenz eines Menschen. Sie sind nicht ohne weiteres akzeptabel und sollten durch zähmende Maßnahmen minimiert werden. Ihre Beseitigung oder ihre therapeutische Auslöschung sind utopische Heilsversprechen.