In der Behandlung von extrem Traumatisierten kann man mit Äußerungen von Patienten konfrontiert werden, sie fühlten sich schuldig, weil sie dauerhafte Lebensbedrohung, Entwürdigung und Misshandlung überlebt hätten, während andere in derselben Situation der Ohnmacht durch Gewalthandlungen und Machtmissbrauch gestorben seien. Solche Äußerungen werden z.B. von Überlebenden des Holocaust, Überlebenden von Bergwerksunglücken, Überlebenden von Amok, Massentötungen oder Erdbeben autobiographisch, literarisch oder Zeugnis ablegend gemacht. Ich habe sie nicht von außereuropäischen Patienten gehört. Ich habe sie auch nicht von gefolterten politischen Gefangenen gehört, obgleich sie tief erschüttert waren (und blieben), wenn in ihrer Zelle andere Gefangene an Misshandlungen starben oder bei bewaffneten Überfällen des Wachpersonals auf Zellentrakte ermordet wurden. Statt eines Schuldgefühls wurde eher die Verpflichtung formuliert, die Anliegen der Verstorbenen fortzuführen.

Fiktionen in Romanen oder Filmen, in Gedichten und Gedenkfeiern nähren die Vorstellung, man könne Schuld empfinden, weil man nicht anstelle von anderen oder weil man nicht auch gestorben sei in scheinbar aussichtslosen Lagen. In solchen Fällen ist das eigene Leben eben nicht der höchste Wert. Individuen können in tiefe Irritationen stürzen, indem sie zwischen hingegebenem Leben und Überleben als fiktiver Wunsch sich entscheiden müssen. Einsichtig erscheint, dass in der totalen Ohnmacht der Tod als Ausweg aus einem schrecklichen Leben vor Augen treten kann. Das gilt für zahlreiche Konstellationen ohne Gefangenschaft, wobei die Differenz zwischen Wunsch und Realisierung zu beachten ist.

Die „Überlebensschuld“ mag aus zahlreichen Ursachen empfunden sein. Sie kann erst nach einem feststellbaren oder garantierten Überleben geäußert werden. In einer weiterhin lebensbedrohlichen Lage macht das Wort keinen Sinn. Wenn überhaupt, könne mensch Schuld nur empfinden in sozialen Situationen, sagte eine Freundin, gleichsam als Rechtfertigung des Überlebens.

Das Wort könnte andeuten, dass Menschen, die eine Überlebensschuld empfinden, sich mit anderen Untergegangenen als identische Einheit fühlen, wobei der Untergang der einen zu Schuld der anderen führt, weil die Untergegangenen Teil der Überlebenden geworden sind. Zeugenschaft des Untergangs durch Überlebende holt die Untergegangenen in das zukünftige Leben zurück. Ich vermute, niemand kann sich wünschen, zum passiven Opfer (maximale Ohnmacht) gemacht zu werden. Eine Identifizierung mit dem Tod Anderer oder Gruppenzugehöriger vermag nicht real zu überzeugen. In jedem Fall aber stirbt ein Teil in einem überlebenden Menschen, wenn er Zeuge der Ermordung eines Mitgefangenen wird. Nach dem Überleben soll das Leben einen neuen Sinn erhalten, den es in der Ohnmacht nicht hatte. Aktive Zeugenschaft lässt sich als Sinn verstehen. Wer seine Erlebnisse verschweigt, aus welchen Gründen auch immer, kann keine Distanz zu den Tätern herstellen, trägt diese weiter in sich.

Überlebensschuld ist, wie ich meine, ein Begriff, der die sprachliche Hilflosigkeit von Traumatisierten perpetuiert. Diese Begriffsverbindung enthält einen Widerspruch, der sich allein durch eine paradoxe Wahrnehmung einer paradoxen Realität herleiten lässt. Er erklärt eigentlich nichts, sondern vernebelt den Kontext von Schuld und Überleben bzw. scheint eine Verbindung herzustellen, die wohl symbolisch, aber nicht physiologisch oder psychologisch gerechtfertigt sein kann. Es sei denn, eine Paradoxie sei mit diesem Begriff bewusst beabsichtigt. Wer eine Katastrophe überlebt, kann nicht Schuldgefühle entwickeln (während andere Dankbarkeit empfinden), es sei denn, er/sie habe das Überleben auf Kosten anderer, d.h. durch unsittliches Verhalten, erlangt. Solange Überlebende sicher sind, dass sie Zeugen sind und Zeugnis ablegen, können sie kaum Schuld empfinden, weil Schuldgefühle einer Zeugenschaft ihre Authentizität schmälern. Eingeschränkte Authentizität enthält oftmals ein nur diffus erkennbares Geheimnis: Schuldgefühle sollen dauerhaft eine Verbindung zwischen Tätern und Opfern herstellen. Die als absolut empfundene Ohnmacht der Gefangenen zeigte sich in der lähmenden Unfähigkeit zum Widerstand oder Hilfeleistung. In nicht seltenen Fällen hat es jedoch Fragmente von Widerstand gegeben.

Vordergründig ist die landläufige Produktion von Schuld zu betrachten. Schuld entsteht im Allgemeinen, wenn gegen sittliche und soziale Konventionen verstoßen wird, denen ein Mensch zuvor zugestimmt hat, wenn ferner das Überleben durch erzwungene Anpassungsleistung erlangt wird.

Überlebensschuld ist wahrscheinlich eine in der europäischen Kultur  verankerte Begrifflichkei, deren Sinn aus Bibel und Christentum gebildet wurde. So wie alttestamentarische Figuren oder Jesus von Nazareth ihr Leben für die Menschheit gaben, so knüpft die Schuld, weil man eine Katastrophe überlebt hat, während andere untergegangen sind, am Rettungsmuster des fiktional hingegebenen Lebens an und hinterlässt ein Gefühl, das als verpasste Hilfehandlung nach dem Überleben nur rethorisch geäußert wird, als wäre die Zeugenschaft nichts wert.

 

                   Entgleisung

 

Ich habe noch nie von Reichtumsschuld gehört. In ganz seltenen Fällen kann bei Reichen ein gewisses Unbehagen entstehen, aber doch nicht Schuldgefühle. Dieses eingestandene Unbehagen zeichnet sich dadurch aus, dass es einem rasanten Verwandlungsprozess mit zahlreichen offensiven Argumentationsketten unterliegt. Es ist das Kapital, das selbständung für den Reichtum verantwortlich ist, und natürlich die überlegene Cleverness. Es ist ererbt und bedarf der Pflege. Das ist man seinen Vorfahren schuldig. Sie laufen auf ein „blame the poor“ heraus und sind somit Ausdruck von verkappten Aggressionen. Steigender Reichtum führt nicht einmal zu mehr Glücksgefühlen. Wer seinen Reichtum aus dem Mehrwert bezieht, ist nicht mehr wert als alle übrigen. Das hat unsere Verfassung übersehen.