Schimpfen als Alltagsbewältigung und Zeitvertreib
Die mit zahllosen Ängsten verbundene aktuelle Pandemie hat einen großen Vorhang vor die reale Wirklichkeit gezogen, wie es bei vielen Ängsten der Fall ist. Niemand mag die hinter dem Vorhang liegenden Realitäten ansehen, die sich zu den Pandemieängsten addieren würden. Wenn man den Vorhang öffnet, kommen unerwartete und erschreckende Bilder zum Vorschein.
Eins dieser Bilder ist die zerrüttete Verfassung des Staates und ihrer parteipolitischen Helfer. Die Politik hat im Rahmen des Neoliberalismus auf Sparmaßnahmen im Sozialsektor gesetzt (Austerität) und seine kreativen Gestaltungspotenzen in der Besenkammer verrotten lassen. Wenn heute noch etwas kreativ gilt, dann wird es weitgehend von einer und für eine Oligarchie und ihre Denkfabriken gemacht. Der Vorsorgestaat hat ausgedient.
Ein weiteres Bild kommt zum Vorschein: Die vertikalen Verwaltungsinstanzen funktionieren nicht mehr. Sie sind personell und materiell mangelhaft ausgestattet. Ein Triumpf besteht darin, dass wir das Zeitalter der reitenden Boten hinter uns gelassen haben. Der überwiegende Teil der Bevölkerung hat die Verscherbelung von Gemeineigentum zugelassen und ruft 25 Jahre später nach Korrektur. Wir nähern uns mit großen Schritten dem „arabischen Kreisel“, der etwas flapsig den Weg beschreibt, auf dem man morgens von einer Behörde zur nächsten geschickt wird, bis man abends bei der ersten wieder anlangt. Bei uns kann es allerdings öfter dazu kommen, dass unser Anliegen registriert wird, und die Bearbeitung in die Länge gezogen wird. Kontrollen von Behördenmaßnahmen finden aus Personalmangel nur stichprobenartig statt und verraten öfter ein rassistisches Muster.
Auf der Hinterbühne erkennt man ferner einen abstoßenden Prozess, der die positiven und negativen biopolitischen Strategien verbindet. Als positive biopolitische Maßnahme wird die Migrationspolitik verstanden, die Beschäftigung und Renten und damit innenpolitischen Frieden garantieren und gezielt Qualifikationslücken schließen soll. Damit werden die Ausbildungskosten anderen überlassen, was zur Verarmung bei anderen führt und letztlich globale Strategien in Gleichberechtigung ausschließt.
Die negative biopolitische Seite wird erkennbar, wenn man die Zahl der Pandemietoten betrachtet, die durch die Politik trotz zweijährigen Vorlaufs zu keinen präventiven Strategien geführt haben. Offenbar hat sich neben Unwissenheit keine Angst bei den Entscheidungsträgern und ihren Hintermännern eingestellt.
Das, was Foucault als Paradigmenwechsel die machtvolle Übernahme der menschlichen Biologie durch den Staat (étatisation) nennt, ist fähig, in vielen Menschen Angst auszulösen, die von der staatlichen Macht ausgeht. Selbst unter der Annahme, dass Macht weder gut noch böse ist, resultiert stets eine gewisse Gefahr, sie könnte missbräuchlich benutzt werden. Wir haben bereits ein Geburts- und Sterberegister und stehen unter einer statistisch ermittelten durchschnittlichen Lebenserwartung. Das Vertrauen in den Staat ist ramponiert, weil er über keine fachliche Souveränität verfügt, und es sinkt weiter durch die elektronische Gesundheitskarte. Ich muss die Verfügung über meinen Körper mit einigen Instanzen teilen, die Register aufstellen. Von der Wiege bis zur Bahre – registrare, registrare.
Wenn Hierarchien über Vulnerabilitäten postuliert werden, ist der erste Schritt zu Hierarchien im Sinne von Triage gemacht. Die eine Hierarchie bildet die Entscheidungsgrundlage für die andere. Die Willkür regiert. Der Gleichheitsgrundsatz wird durch unterschiedliche Vulnerabilitäten ausgehöhlt. Im partiellen Ausnahmezustand entscheidet der Staat mit seinen Fachgremien wie in der altgriechischen Tragödie , wer eine Chance zum Leben erhält und wer zum Sterben verurteilt wird. Es gibt folglich unterschiedliche Wertigkeiten von Leben. Das ist das Charakteristikum vom Ausnahmezustand.
Im Ausnahmezustand haben die meisten von uns nur noch ihr nacktes Leben, das, erst vom Virus gefährdet, dann von den staatlichen Maßnahmen zu einem vogelfreien Leben werden kann, zumindest schichtenspezifisch entwertet wird. Die psychosoziale Reagibilität fällt sehr unterschiedlich aus. Die Abstandsforderung war in Villen und Einfamilienhäusern immer schon gewahrt.
Was ist sonst hinter dem Vorhang verborgen? Es gibt immer Politiker, die mit zwei, drei Telefonaten um eine halbe Million Euro reicher werden. Das hilft ihnen beim Inflationsausgleich, während andere vom Sparstrumpf zur Sparsocke und dann zum Sparfüßling wechseln müssen.
Der Profilierungszwang macht die ganze Aufgeregtheit sichtbar, die in unserer Gesellschaft zu Widerspruch auch ohne Sachkenntnis herausfordert. Zu viel Adrenalin macht Erkenntnis verschwommen, was bei Politikern zu entgegen gesetzten Positionen innerhalb eines Tages führt und sich als Lernschritte ausweist. Jens Spam befragte für Versprechen und Prognosen offenbar die Glaskugel. Der Kampf um Aufmerksamkeit macht Teile der Gesellschaft zu permanenten ADHS-Kandidaten.
Europa bleibt in Pandemiezeiten auf der Strecke, weil kein überregionales Problem zu einer Lösung gelangt. Statt dessen plustert sich Europa mit Menschenrechten und Rechten auf, die nichts als eine Gefährdung des Kontinents bewirken und uns der Kriegsgefahr näher bringen. Europa fürchtet sich und baut daher Grenzwälle gegen Flüchtlinge und Migranten. Damit überlässt man den Rechten die Sorge um die Menschenrechte. Wen dieser Widerspruch um den Schlaf bringt, findet Entlastung in der Pharmaindustrie als Vorbereitung zur langen Ruhe.
Der Umgang mit der Klimakrise hat rhetorische Dimensionen, die das Ziel verhöhnen. Digitalisierung fordert enorme Strommengen, die nicht mit erneuerbaren Energien gedeckt werden können. Die herangezogene Kohleverstromung verteuert die Kosten bei Verbrauchern und verlängert die Abhängigkeit von der Kohle.
Das ist beileibe nicht alles, was hinter dem Vorhang verborgen ist. Aber mir ist jetzt schon übel.