von Sepp Graessner

 „The current discourse on trauma has systematically

sidelined this social dimension of suffering; instead

it promotes a strongly individualistic focus presenting

trauma as something that happens inside individual

minds.”

(Patrick Bracken 1998)

 Es gehört zum Alltagswissen, dass verstörte, leidende Personen nach einem extremen Trauma auf andere Menschen treffen, die gar nicht oder mehr oder weniger zum Mitleiden befähigt sind. Wenn man Bracken in diesem Sinne versteht, dann läge die soziale Dimension des Leidens im erfahrenen Mitgefühl, in der wahrgenommenen, stützenden Empathie, sicher auch in der kulturellen Bedeutung, die dem Leiden und der leidenden Person beigegeben wird und nicht zuletzt in gemeinsamen Trauer- und Abschiedsritualen. Empathie ist nicht in gleichem Maße in Menschen verteilt. Man muss sie lernen, indem man Spiegelneuronen aktiviert. Die Existenz, Funktion und Bedeutung der Spiegelneuronen sind allerdings eine nicht hinreichend abgesicherte Hypothese. Empathie zeigt sich in hierarchischen (selektiven) Wertungen gegenüber Tieren oder nahen und fernen Mitmenschen. Empathie befähigt nicht nur zu Vorstellungen, wie es in einer traumatisierten Person aussehen könnte, sondern auch zu präventivem Verhalten, weil sie eine auf Zukunft gerichtete intrinsische Dimension, d.h. einen eher unbewussten, evolutionären Zweck aufweist. Jedenfalls verstehe ich den Satz Brackens in diesem Sinne.

 

Wie kommt der Satz zustande, wonach geteiltes Leid halbes Leid sei? Ist dies die soziale Komponente von Leiden und stimmt der Satz überhaupt? Oder beschreibt er einen Wunsch, eine Illusion, ein Ideal? Kann man am Leid eines Anderen teilhaben, Sympathie empfinden, Mitleid haben und worauf bezieht sich die Anteilnahme? Nun, Bracken scheint Gemeinschaften beobachtet zu haben, in denen traumatische Erlebnisse von Mitgliedern nicht zu einem auf Individuen zentrierten Traumakonzept geführt haben.

Idealistisch darf man abwehrende Überlegungen nennen, die sich aufdrängen im Anblick und in der Gegenwart von Gewalt, die Menschen tagtäglich anderen Menschen intendiert antun, obwohl sie unter anderen Umständen auf diese Gewalt verzichten könnten.  Sie bräuchten, so möchte man kurzschlüssig annehmen, ihre eigene Verletzlichkeit nur auf andere Menschen zu übertragen. Vorsätzlich und grausam praktizierte Gewalt schädigt einen Menschen, der nach dem DSM – wie nahezu alle Menschen – in seinem Reaktions- und Verarbeitungsprozess überfordert, weil überwältigt werde und schon unmittelbar nach dem traumatischen Ereignis beginne, sich in seinem Verhalten zur Welt zu verändern, zuerst im Schock, später mit fixierten und charakteristischen Symptomen. (Selbstverständlich verändert uns jedes Erlebnis, das uns nicht langweilt. Wahrscheinlich aber auch die langweiligen. Trivial, denn überall dort, wo Stoffwechsel abläuft, verändert sich das Gefüge. Kein Mensch ist zu irgendeiner Zeit mit sich identisch. Nur das sozial geprägte Bewusstsein gaukelt Identität vor.) Bei der einseitig kausalen Betrachtung des DSM hat sich nicht das Verhalten der Welt zu einer gepeinigten, ohnmächtigen Person verändert, sondern die ohnmächtige, hilflose Person ist in ihrem Verhalten zur Welt gestört. Entsprechend findet sich das, was intendiert war, nämlich die Veränderung einer Persönlichkeit durch massive Gewalt, nun als diagnostizierbare Kategorie affirmativ im DSM wieder. Jede soziale Dimension kommt dabei abhanden. „Die Welt“ ist zwar kein wissenschaftlicher Begriff des DSM, nicht einmal eine Zeitung. Erlebte extreme Gewalt und Lebensbedrohung werden der Welt offenbar als unabänderlich zugerechnet, während deren Folgen individualisiert und aus den prägenden Kontexten gelöst werden. Aus solcher Betrachtung spricht eine gewisse Identifikation mit der Unausweichlichkeit von Gewalt, Macht, Willkür. Da lässt sich ein idealistischer Standpunkt mit Imaginationen von Welt-Verbesserung nicht länger einnehmen! Nur in Märchen und Fiktionen kann eine idealistische Betrachtungsweise überdauern.

 

Wer manifeste Symptome nach extremen Traumata im Sinne von PTBS als sich allmähliche entwickelnde Prozesse auffasst, die vor allem durch Wiederholungen charakterisiert sind und permanent Aufmerksamkeit abziehen und auf ohnmächtig erlebte Vergangenheit richten, und wer sie allein im Individuum lokalisiert, hat wegen des klinischen Anspruchs auf die Symptomatik der PTBS folgendes zu erklären:

Wenn Symptome zu Beginn posttraumatischer Befindlichkeiten noch nicht voll ausgebildet sind (nach allen einschlägigen Hypothesen setzen Symptome posttraumatisch nicht schlagartig ein), sondern sich entweder allein intrapsychisch entwickeln oder durch Kommunikation mit anderen ihre prägende (und quälende) Form erreichen, muss man sich im therapeutischen Zugang entscheiden, welche Prozesse zu welchem Zeitpunkt bedeutsam werden. Vielleicht ist eine Mischung aus beiden Vektoren verantwortlich. Damit soll keineswegs gesagt werden, dass therapeutische Ansätze vor einem Entweder-Oder stehen. Beide Prinzipien – das Individuum in seinem Leiden ernst zu nehmen und soziale Verantwortung zu übernehmen – sind nicht gegeneinander auszuspielen. Wegen der Vernachlässigung sozialer Dimensionen des Leidens bei einer ausschließlichen Fokussierung auf das Individuum ergeben sich immer wieder Fragen an die Vertreter des westlichen Traumakonzepts.

Durch welche Prozesse ist der Übergang von der Diagnose einer akuten Belastungsstörung (ASD) in eine Diagnose „chronische posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS) verursacht? Ist die akute Symptomatik durch Reaktionen auf Schrecken und Hilflosigkeit charakterisiert (akuter Stress und Stressreaktion) und ist die später diagnostizierte PTBS nur die Verlängerung der akuten Symptomatik in eine unbestimmbare Zukunft? Ist die akute Lebensbedrohung ein konditionierender Reiz? Beide Diagnosen, ASD und PTBS beziehen sich auf posttraumatische Entwicklungen. Ist also die akute Form der Diagnose ein Risikofaktor für eine nach einem definierten Zeitraum festgestellte chronische Form, die komplexe Zeichen wie z.B. Realitäts-, Identitäts- und Persönlichkeitsstörungen aufweisen kann, die jeweils nur in sozialen Beziehungen auftreten können? Oder kann die akute Symptomatik sich nur dauerhaft im „psychischen Gewebe“ festhaken, weil eine betroffene Person verstörenden Einflüssen posttraumatisch ausgesetzt ist? Verstörend können z.B. folgende Erlebnisse und Wahrnehmungen sein: Befehle von anderen und von sich selbst, belastende Erwartungen, Bestreiten, Relativieren und Bagatellisieren von Verletzung und Verletzungsfolgen, Verweigerung von Zuständigkeit und Solidarität, Abweisen von Ansprüchen, Schuldzuweisung, induzierte Schamgefühle usw. Alle diese posttraumatischen und häufig anzutreffenden Erlebnisse fallen in jene Phase des Übergangs von der akuten in die chronische Belastungsstörung und bilden in individuellen Integrationsbemühungen nach meiner Überzeugung mit hoher Wahrscheinlichkeit jene Wirkmechanismen, die landläufig den „falschen“ Verarbeitungsstrategien einer traumatisierten Person zugeschrieben werden. (Ich denke, man kann falsch handeln, aber Reize falsch verarbeiten?) Die Wirkungen kommunikativer Einflüsse auf die Fixierung der posttraumatischen Symptomatik sind aus ethischen und methodischen Gründen jedenfalls nicht für Individuen wissenschaftlich nachweisbar. Obwohl der soziale Charakter posttraumatischer Erlebnisse durchaus von Autoren anerkannt wird (Keilson, Becker, Brewin u.a.), scheint er im Mainstream ätiopathogenetisch unbedeutend zu sein. Es handelt sich bei diesen kommunikativen Begegnungen offenbar allein um Störeinflüsse, die den Heilungsverlauf behindern. Eine Pathogenese wird ihnen nicht zugeschrieben. Zugleich lässt sich empirisch belegen, dass die „Störeinflüsse“ genannten sozialen Unterstützungen sehr wohl positive Effekte entfalten können, indem sie Schutz, Mitgefühl und Fürsorge gewähren.

Jedes gravierende Erlebnis von Lebensgefährdung hinterlässt einen Menschen, der mehr oder weniger erschütternde und beängstigende Veränderungen an sich wahrnimmt. Die Veränderungen, die eine Person nach extremem Trauma scheinbar unbeeinflussbar erlebt, spielen sich in dieser Person ab, in ihrem Gedächtnis, ihrer Psyche und ihrem Stoffwechsel. Bindungsfähigkeit, Sicherheitsempfinden, Vertrauen und Gefühle zeigen ein gewandeltes Niveau. Eine solche veränderte Persönlichkeit wird sich im Vergleich zu vorherigem Status fremd, und sie registriert die Wandlungen, deren Dauer anfangs unbegrenzt erscheint. Zuweilen wird eine Person nachweislich während eines Gewalttraumas und/oder post Trauma vorsätzlich sich fremd gemacht. Die extreme traumatische Situation bildet den Anlass. Die nachfolgenden intrapsychischen Prozesse lassen sich als Resultat einer Selbstentfremdung beschreiben, die dadurch charakterisiert ist, dass Leiden an traumatischen Erlebnissen als das Leiden einer für sich verantwortlichen Person verstanden und akzeptiert und je nach sozialem Kontext mit Sinn ausgestattet wird. Der gesamte posttraumatische Verlauf fällt weit gehend in die Zuständigkeit, in die Regie und Verantwortlichkeit der Symptome bildenden Person, in der bereits Risikofaktoren und „Komorbiditäten“ wühlende Dispositionen bereitstellen. Ferner sind auch enttäuschende oder mangelhafte Kommunikationen und Kontakte nach einem traumatischen Ereignis zu berücksichtigen, denn auch diese Einflüsse bedürfen individueller Bearbeitung und Integration. Selbstentfremdung bedeutet, dass eine Person nicht mit sich identisch ist (schlussendlich auch nicht sein kann). Posttraumatische Forderungen der sozialen Umwelt richten sich stets auf eine Kohärenz der Identität, die eine traumatisierte Person zu leisten oder wiederherzustellen hat, aber nicht leisten kann oder nicht will.

Soweit eine für die Gegenwart charakteristische Haltung, welche die Bedeutung sozialer Bedingtheit von Schmerz, Trauer, Empathie und Solidarität verleugnet, ja bekämpft. Man trifft Personen mit dieser Einstellung in Institutionen. Sie sind an Weisungen gebunden und verwalten engherzig drei oder vier Paragraphen. Sie stehen für die sozial genannte Verrechtlichung von Schmerz, Leid und Trauer. Ihr Blick richtet sich wie bei Strafrichtern (auch das Vorurteil ist ein Urteil!) auf die Schuldfrage. Sie werden mit ihren Zweifeln und ihrer Abwehr im widerspruchsreichen Leben traumatisierter Personen immer fündig und fühlen sich rasch in ihrer misstrauischen Haltung bestätigt, vor allem, wenn es um die Bewilligung von Leistungen und Geld geht. Natürlich sind richtende Menschen in Institutionen sich auch zumeist fremd, weil sie ihre Loyalität aufzuspalten gezwungen sind. Bedürftiger, leidender Mensch oder Politik der Vorgesetzten? Am Ende jedoch gehört ihre Identität stützende Loyalität in der Regel der Institution. Angesichts von Menschen mit extremen Traumata können sich Menschen in solchen inneren Konflikten ihrer Verletzlichkeit und Selbst-Entfremdung bewusst werden. Diese zwei Einsichten müssten Empathie und Solidarität begründen. Tatsache ist wohl aber, dass die Rede von Humanität in vielen Institutionen nicht angekommen ist,

Die Bedeutung sozialer Interdependenzen in einem posttraumatischen Prozess, in der Entwicklung einer prätraumatischen Persönlichkeit und in der Zuschreibung von Leidenssinn ist aber wohl schon bereits als ein (bewusst in Kauf genommener?) Mangel in der definierten Diagnose enthalten, ein Geburtsfehler, wie ich finde. Insofern bezeichnet die Diagnose im DSM als Individualdiagnose eine Abwehr des Sozialen als Ressource, Prägung, Geheimnis, Rahmen. Die Diagnose PTBS listet individuelle Defizite auf, tritt als Mängelliste auf den Plan. Dadurch wird ein körperlicher und psychischer Apparat akzentuiert, der zu seiner Reparatur in Therapeutik einwilligen müsse. Therapeuten verkörperten stellvertretend das  gespaltene Soziale. Sie sind nicht für aggressive Gewaltpraktiken aus dem sozialen Rahmen verantwortlich, sondern stehen für das „hilfreiche Prinzip,“ das man angesichts so mancher aggressiver Impulse bei Therapeuten nicht glauben mag. Unterlassene Hilfeleistung in der Wahrnehmung einer durch Gewalt traumatisierten Person mutiert zu individueller und exklusiver Unterstützung. Solidarisches Soziales kann man therapeutische Interventionen aber nicht nennen, da sie spät kommen, von zu vielen Regeln und durch Undurchsichtigkeit des Kontextes und des Settings begrenzt sind und die lindernde Wirkung der Interventionen als Ware anbieten. Solidarität ist keine Ware, und zu viele Regeln vertragen sich nicht mit der Gabe von Solidarität.

Derek Summerfield hat 1997 darauf hingewiesen, dass die Konzentration auf allein psychologische Folgephänomene nach Gewalt und Willkür (bei Helfern und Therapeuten) zu eigentümlichen Verkürzungen führe, da durch solche verengte Sichtweise die Ursachen von Gewalt oft nur in individualpsychologischen Kategorien erkannt werden können. Das Überleben extremer Traumata erfordere jedoch breitere, differenzierte Erklärungen und Korrekturen, eben wie das Leben selbst.

Ich plädiere daher für die Bezeichnung: „Posttraumatische Kommunikations- und Bindungsstörung,“ aber nicht als klinische Diagnose, sondern als (Selbst-)Aufforderung, die sozialen Dimensionen posttraumatischen Leidens zu berücksichtigen und zu stärken. Selbsthilfegruppen deuten zwar in diese Richtung. Allerdings versammeln sie Menschen mit einem oder mehreren „Makeln.“ Bindung wird durch Kommunikation unter Ähnlichen erzielt. Die scheinbar unauffällige, „normale“ Gesellschaft bleibt außen vor.

Es besteht eine Tendenz, alle menschlichen Handlungen und Befindlichkeiten in den Bereich psychologischer Aufklärung, Ausdeutung und normativer klinischer Bewertungen zu rücken, wodurch die Psychologie einen Primat vor den übrigen Humanwissenschaften zu beanspruchen glaubt. Derzeit beobachten wir in Gestalt der Neurowissenschaften einen Anspruch, mit Zahlen und Daten und so genannter Objektivität nicht nur die lang währenden psychoanalytischen Verfahren zu diskreditieren, sondern ökonomische Prinzipien von Effizienz und Effektivität noch tiefer im psychotherapeutischen Alltag zu verankern.