Sepp Graessner

Traumapolitik durch Dunkelziffern

Ein Aufruf

Traumapolitik liegt immer dann vor, wenn in spekulativer Weise Prognostik sich mit „Dunkelziffern“ verbindet. Hierbei scheint es sich um eine Nähe zur Wahrsagerei, zur Astrologie und Alchimie zu handeln. Eine öffentlich geäußerte Dunkelziffer setzt eine Dynamik in Gang, bei der zwar jeder weiß, dass es sich um Schätzzahlen handelt, im Alltagsgebrauch nehmen Dunkelziffern jedoch eine schlampig erzeugte Faktizität ein. Dunkelziffern und Prognostik bieten eine Sicherheit, der unsicheren Zukunft selbstbewusst entgegentreten zu können. Sie sind dann Argument und nicht nur Tendenz. Es kommt nicht auf 1000 Personen mehr oder weniger an, wesentlich ist die Tendenz von Personen, die z.B. Drogen-, Medikamenten- oder Alkoholmissbrauch betreiben oder eben von traumatisierten Personen in einem Kollektiv, das von traumatischen Ereignissen betroffen wurde. Geschätzte Zahlen traumatisierter Menschen werden von Experten gern herangezogen, um einen therapeutischen Bedarf zu begründen oder zu effektiven therapeutischen Strategien aufzurufen, die wegen der großen und dunklen Zahl von Betroffenen vor allem kurz und ökonomisch sein sollen. Da heute zahlreiche Selbstbehandlungen über das informelle Internet stattfinden, muss dieses elektronische Medium zu den Experten gerechnet werden. Experten sind eine Gattung in permanentem Wachstum. Man traut sich nicht, das Ende des Expertenwachstums zu prognostizieren.

 

Das Zustandekommen von Dunkelziffern ist von Perspektive und Interesse abhängig. Kriterien müssen selten belegt werden. Bei oft sehr vielen Variablen ist ein Beweis auch gar nicht zu erwarten. Ein Beweis würde ja der Dunkelziffer den Garaus machen. Die Dunkelziffer lebt nur, wenn sie sich einem Nachweis entzieht. (Und da die Zukunft logisch noch keinen Beweis zulässt, kann man alles Mögliche behaupten: Im Jahre 2025 wird ein Aufstand der Feldmäuse die Welt erschüttern.) Die jüngste schludrige Dunkelzifferdebatte hat ein Evolutionspsychologe in die Welt gesetzt: Er bezweifelt eine Zunahme ziviler Toter in den Kriegen des 20. Jahrhunderts.

Einmal in die Welt gesetzt, überlebt die Dunkelziffer in  Zitaten wissenschaftlicher Publikationen. Dunkelziffern sind bedrohlich, weil sie aus dem Dunklen hervorschauen. Niemand traut sich, dunkle Zahlen über glückliche Menschen zu schätzen; sofort entstünde ein Definitionsproblem, was denn Glück sei. Die Polizei warnt wiederholt vor Dunkelziffern bei der Kriminalität. Jede Ziffer aus dem Dunkel  tritt in die Realität ein und erzeugt Wirkung und Handlungsbedarf. Die Abweichungen in wissenschaftlichen Studien fallen als unvereinbar mit den zentralen Thesen ins Gewicht. Sind nach einem potenziell traumatischen Ereignis 15 oder 60 Prozent von psychischen Folgesymptomen betroffen? Wenn dann noch eine unbekannte Latenzperiode bis zur Ausgestaltung von Symptomen ins Spiel gebracht wird, können Aussagen nur über Kontingenzen getroffen werden. In ähnlicher Weise werden Statistiken behandelt, die vorausschauende Hochrechnungen zu erlauben scheinen, also Zahlen mit Eigenleben, mit lebendiger Dynamik. Mit anderen Worten: Dunkelziffern enthalten mystische Elemente und sind zugleich von Interessen gesteuert. Eine bedeutende Dunkelziffer im Traumafeld ist die des sexuellen Missbrauchs in den Familien und in den außerfamiliären Institutionen. Dunkelziffern erzeugen Angst bei vielen Menschen, vor allem aber, wenn es um Gefährdungen und Risiken geht, gebären sie Misstrauen. Der sexuelle Missbrauch in Institutionen der Pädagogik und der Kirchen hat sich deutlich vermindert seit den Skandalen um die Missbrauchspraxis an abhängigen und machtarmen Jugendlichen, lesen wir in Zeitungen. Dies wird aus den geringeren Anzeigen und Offenbarungen geschlossen. Dabei entsteht eine Dunkelziffer, denn die verminderte Zahl von Anzeigen sagt nicht zwangsläufig etwas über die Praxis und die Realität aus. Wir fragen uns daher, ob Dunkelziffern überhaupt etwas über die Realität aussagen. Wir können uns vielleicht darauf einigen: Die Verbindung von Zahlen der Prognostik, die zum Handeln auffordern, zur jeweiligen Realität ist kaum statthaft, mag sie auch noch so verschämt aus dem Dunkel kommen und psychische Prozesse wie Angst oder Empörung in Gang setzen. Ziffern und Zahlen leiten sich vom Markt und der frühen Ökonomie ab. Indem sie auf Zukunft projiziert werden, durchdringt das ökonomische Prinzip über den Weg des Bedarfs und der Bedarfsdeckung auch den Bereich psychischer Gesundheit oder deren Mangel.

Dunkelziffern rufen in ihrem verborgenen Wesen, wenn sie über so etwas verfügen, nach Hilfe. Der Schrei der Dunkelziffer richtet sich an die Realität und sucht sie in suizidaler Absicht zu beeinflussen. Dunkelziffern drängen machtvoll ins Helle, obwohl dies ihr Ende wäre. In der Helligkeit überprüfbarer Verhältnisse, im Licht der Logik und des Beweises verdorrt die Dunkelziffer wie ein vampiresker Graf, der sich das Vergnügen eines Mittagessens an der Côte D’Azur gönnt und dabei die harte Realität verspürt. Auch die Dunkelziffer zerbricht an der Realität, weil sie mit ihr, abgesehen von Interessen, Vorteilsnahme, Ängsten und anderen emotionalen Prozessen, nichts gemein hat.

 

Alle Leserinnen werden hiermit aufgefordert, Dunkelziffern im Traumafeld aus Literatur und Praxis beizusteuern und an den Autor zu senden. Sie sollen an den Gartenzaun gehängt werden und in dieser dunklen Zeit als Illusion der Erkenntnis dienen.