Sepp Graessner MD –Vortrag vor südkurdischen TherapeutInnen, Berlin 2011

Überlegungen zum Begriff „kollektives Trauma“ in Südkurdistan

Zunächst als einschränkende Vorbemerkung: Das kollektive Trauma verstehe ich nicht als spontane Reaktion auf massenhaft auftretende Gewaltherrschaft. Vielmehr bilden sich der Begriff und seine erkennbaren Äußerungsformen in postdiktatorischen gesellschaftlichen Situationen. Ein Traumakollektiv von Menschen unter lebensbedrohlicher Repression kann sich postdiktatorisch verwandeln in ein kollektives Trauma. Meine Überlegungen beziehen sich daher nicht auf einzelne oder multiple Ereignisse, sondern auf die kollektiven Folgephänomene nach traumatischen Erlebnissen, die zugleich Formen der Verarbeitung darstellen. Im Begriff des Kollektiven ist bereits die Coping-Strategie enthalten. Diese liegt wesentlich auf der Bühne des Sozialen, das mit Akteuren wie „kollektives Gedächtnis“ und „kollektive Trauer,“ nicht zuletzt mit „kollektiver Widerstand“ und „kollektive Ressourcen“ operiert. Wie man kollektives Trauma versteht, hängt davon ab, ob man das traumatische Ereignis oder die traumatischen Folgen fokussiert. Das Trauma als dauerhafte seelische Verletzung tritt nicht nach jedem traumatischen Ereignis ein. Gleichwohl kann man in den allermeisten Fällen von schockartigen Erschütterungen sprechen.

 

Niemand kann daher präzise beschreiben, was ein kollektives Trauma, das keineswegs gleichzusetzen ist mit einem Traumakollektiv, definiert. Die Zuständigkeit für den Begriff „Kollektives Trauma“ teilt sich die Psychologie und Psychotherapie mit einigen anderen Disziplinen: mit Historikern, Politikern, Soziologen und vor allem Experten des internationalen Rechts. Da es kein kollektives Trauma ohne kollektives Gedächtnis gibt, – Trauma ist in erster Linie eine Störung des sich selbständig machenden Gedächtnisses – mischen sich immer mehr Kulturwissenschaften in die Auflösung des Rätsels vom kollektiven Trauma.

 

Bei den Symptomen kollektiver Traumata sprechen wir hauptsächlich von Angst und Depressionen sowie ihren Komplikationen für die Bewältigung des Alltags während einer gesellschaftlichen Neuordnung nach der Befreiung von einer Tyrannei. Diese Symptome generieren in Individuen alle weiteren posttraumatischen Erscheinungsformen.

 

Um zu einem erweiterten Verständnis vom „kollektiven Trauma“ zu gelangen, ist es vielleicht sinnvoll, wenn wir die spezifischen Merkmale im Vergleich zum individuellen Trauma herausarbeiten. Das Individualtrauma ist in programmatischer Weise durch einen Katalog posttraumatischer Symptome charakterisiert. Dazu ergeben sich für mich zwar zahlreiche Fragen. Die internationale, überwiegend westlich orientierte, Gemeinschaft der Diagnostiker und Therapeuten hat sich mit der Klassifikation des DSM abgefunden und zur praktikablen Realität erklärt. So wurden denn die Spätfolgen traumatischer Erlebnisse als behandelbare Krankheiten in die Individuen verlagert; allerdings wurden durch die Individualisierung

die traumatischen Folgen für soziale und moralische Systeme zuweilen nicht einmal erkannt. Als sie dann durch die Überlebenden des Holocaust und die internationale Frauenbewegung auf die Tagesordnung kamen, entstand der Begriff des „kollektiven Traumas“ als sozialpsychologische Kategorie, als Entsprechung zur eher juristisch eingegrenzten Bezeichnung des Genozids oder der Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Von politischer Willkür verursachtes kollektives Trauma wurde zum Sammelbegriff für ungeheuerliche, einzigartige Verbrechensfolgen. Die Verbindung von Trauma und massiven Menschenrechtsverletzungen inklusive Massenmord wurde von den Psychowissenschaften als ihr Feld adoptiert. Es wurde zugleich mit dieser Einverleibung signalisiert, dass Therapeuten in der Lage seien, Verbesserungen am Zustand der überlebenden Bevölkerung nach Angriffen mit Massenvernichtungswaffen zu bewirken.

Es ist daher in allen historisch belegbaren Fällen der überlebende Anteil eines Volkes oder einer Bevölkerung, der auf die Bezeichnung „kollektives Trauma“ Anspruch erhebt, auch wenn internationale juristische Instanzen das letzte Wort einer Definition von Genozid oder Verbrechens gegen die Menschlichkeit noch nicht gesprochen haben. Dadurch, das sollte festgehalten werden, ist der Begriff „kollektives Trauma“ in erster Linie eine Selbstbeschreibung, die sich unabhängig von internationaler Anerkennung macht. Die Selbstbeschreibung folgt allein einem Narrativ, das die Überlebenden in einem kollektiven Akt zusammentragen. Dadurch resultiert aus einem kollektiven Gedächtnis eine kollektive Geschichte, die zuweilen etwas glatt geschliffen wirkt.

Kollektiv orientiert sich nicht an Zahlen von Verlusten und Menschenleben, sondern vor allem daran, was darüber hinaus durch eine Gewalt zerstört wurde. An erster Stelle nennen westliche Autoren ein Ur- oder Weltvertrauen. An herausragender Stelle nannte das Behandlungszentrum Kirkuk in seinem ersten Jahresrückblick Misstrauen als sozial auffälligste Symptomatik. Es scheint also die Zerstörung von Vertrauen, das ja nur in sozialer Kommunikation entwickelt werden kann, auch in Kurdistan ein Kollektivschaden zu sein.

Dann ist zweitens die Auflösung der familiären und Stammesbeziehungen zu nennen, die Sicherheit garantierten. Wenngleich die sozialen Bezüge bereits durch den Kolonialismus ihre Kraft einbüßten und Transformationen durchmachten, war im Gegensatz zum Imperialismus und die Fremdbestimmung, die durch erzwungene Assimilation Wirkung erzielten, die Saddamsche Gewalt und permanente Überwachung durch Spitzelwesen der Grund für die weit gehende und irreversible Zerstörung der Dorfgemeinschaften und der darin wirkenden sozialen Gesetze. Die Dörfer müssen als Orte der Tradition angesehen werden. Sie wurden deshalb zerstört und die Bevölkerungen wo nicht vernichtet so verschleppt und gedemütigt. Modernisierung durch Saddam setzte nachhaltig auf erzwungene Urbanität. Vertriebene oder umgesiedelte Familien gingen in die Städte, waren in der Anonymität eher zu kontrollieren und konnten nicht mehr auf die soziale Kontrolle des Dorfes vertrauen. Sie hatten nicht ihre traditionellen Einkommen aus Arbeit in der Landwirtschaft und scheiterten oft an den Rändern der Vorstädte.

Zuvor war bereits das Nomadentum reduziert worden. Das Ziel der Bewegung vom Dorf in die Städte war die Prävention von Widerstand gegen Fremdherrschaft, der genauso traditionell zu Kurden (wie auch zu anderen Völkern) gehörte wie die Berge.

Nun bleiben von solchen Beschädigungen der sozialen Beziehungen auch die moralischen Systeme von Völkern nicht unberührt. Der Umgang mit offen ausgesprochener Wahrheit, das Verhältnis der Geschlechter oder der Erziehungsstil und das, was Werte genannt wird, erleiden einen Assimilationsdruck, der durch physischen Zwang bewirkt wird.

Es ist allgemein von alters her bekannt und heute wissenschaftlich belegt, dass Orientierung in der Fremdherrschaft durch Imitation ermöglicht wird. Imitation des Aggressors, die durch Nachahmung von Handlungsbewegungen und begleitende Emotionen, Mimik und Gestik zu einer Identifikation mit dem Aggressor führt. Nicht nur Kinder suchen die Bewegungen und Ausdrucksformen (wozu an erster Stelle die Sprache gehört) von Erwachsenen zu imitieren, Kinder versuchen auch zu erraten, was Erwachsene wollen und was sie fühlen. Die heutigen Beobachtungen deuten nun darauf hin, dass auch Erwachsene nach dem gleichen Muster in der interpersonellen Kommunikation, z.B. zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen, verfahren, und dass geradezu ein physiologischer Zwang zur Imitation treibt. Dies mag, als These formuliert, auch für Kollektive gelten, die Handlungen und Prinzipien von Aggressoren nachmachen und dabei in innere Konflikte geraten, wenn sie feststellen, dass eine Imitation durch physische Gewalt und Bedrohung verstellt ist und allein Unterordnung unter eine Hierarchie gefordert ist. Aus den resultierenden Konflikten resultiert eine Strategie, die Mächtigen zu akzeptieren und ihre Forderungen heimlich zu unterlaufen. Allerdings wird man nicht umhinkommen, zuzugeben, dass durch Imitation und spontane Spiegelung die Prinzipien der Fremdherrschaft in die Kollektivmitglieder eindringen und es sich im psychischen Leben der Beherrschten bequem machen. Dann kämpfen traditionelle Werte gegen neue, durch Imitation erzeugte. Das ist es, was der libanesische Autor Jalal Toufic als das Drama der autoritären Fremdherrschaft, vor allem nach unermesslichen Desastern, beschrieb, nämlich den Verlust von Tradition bei den ursprünglichen Bewohnern. Alle die genannten Faktoren bilden so etwas wie Identität, die als Wort locker von den Lippen geht, jedoch ein äußerst schwer zu definierender Begriff ist.

Traumatisierte Personen suchen stets nach sprachlichen Symbolen, um ihre Erlebnisse in Verstehen zu verwandeln. Was nicht präzise verstanden wird, wählt die Form der Metapher. Während Individuen durchaus nach schrecklichen Erlebnissen die Sprache fehlt, das Geschehen auszusprechen, ist das staatliche Verbot der Muttersprache in Schule und öffentlichen Institutionen ein entscheidendes Hemmnis für die Entwicklung und Modernisierung der Sprache. Die Sprache der Mutter als Sprache der Emotionen behält unter Fremdherrschaft und Tyrannei ihren Charakter, während die (väterliche) Sprache als Erkenntnis der Wirklichkeit stagniert. Drei Staatssprachen im kurdischen Siedlungsgebiet dominieren die kurdische Muttersprache und zersetzen allmählich ursprüngliche Bedeutungen. Die Zersetzung des vertrauten Kommunikationsmediums ist eine schleichende Folgewirkung für eine Bevölkerung. Ein breites Kollektiv nach kolonialer Herrschaft und Diktatur bemerkt nicht, welche Bedeutungsverluste, gerade im emotionalen Bereich, die Fremdherrschaft hinterlassen hat. Man konnte dieses Phänomen in allen jungen Nationalstaaten  oder Befreiungsbewegungen beobachten, die lange unter kolonialer Herrschaft standen und deren erster analytisch präziser Beobachter der Arzt Frantz Fanon war. Diese posttraumatische Wirkung ist nicht direkt als Schmerz spürbar, jedoch als Verursacher komplexer Traumata zu verstehen, zumal sie sich wie in Kurdistan über Jahrzehnte erstreckt und in vielen Fällen zum Stammeln verurteilt.

Es gibt im Bereich des kollektiven Traumas so viele Arten von Schmerzen, so viele Auslöser von Schmerzen und keine angemessene Sprache, wenn die traumatischen Erlebnisse einzigartig erscheinen und sich über lange Perioden erstrecken. Der Philosoph Richard Rorty hat einmal gesagt, Schmerz habe keine Sprache. Auch mit Metaphern lasse sich das Erlebnis von seelischen Qualen, Folter, Vernichtung, Vertreibung, Giftgasattacken nicht annähernd beschreiben. Die Qualen permanenter Lebensbedrohung angemessen zu benennen ist mit den Mitteln aller Sprachen kaum möglich. Um so mehr ist ein Verbot von Sprache, eine Verkümmerung von sprachlichen Ausdrücken oder der zwangsweise Gebrauch der Herrschaftssprache kollektiv traumatisch zu nennen, weil Unterdrückte über diese Sprache auch die in der Sprache verborgenen Bedeutungen inkorporieren und zuletzt auch akzeptieren. Das muss zwangsläufig zu einer kollektiven Verwirrung führen, wenn die Sprache der Repression unter Zwang von den Verfolgten gesprochen wird. So sollten Kurden überhaupt nicht mehr von Anfal-Operationen sprechen. Sondern vielmehr einen Begriff in ihrer Sprache wählen, der die Attacken adäquat benennt und zu einer internationalen Chiffre wird.

Orte können solche Chiffren werden wie Auschwitz, Hiroshima usw. Halabja ist dagegen eine Verkürzung und Verkleinerung der Mordaktionen, da an sieben weiteren Orten Giftgas abgeworfen wurde. Es war folglich das dritte Mal, dass eine kurdische Bevölkerung durch Giftgas verletzt und getötet wurde: 1920 als Senfgasangriff auf Sulaimani (Churchill war damals Kriegsminister, „Bomber-Harris“ sein lokaler Befehlshaber), ferner während des Krieges zwischen Iran und Irak von 1980-88 und drittens  durch Saddams Truppen im Februar 1988. Nicht unerwähnt bleiben sollte der allerjüngste Angriff mit toxischen Substanzen durch türkisches Militär vor rund vier Wochen in Nordkurdistan.

Sprachlosigkeit (von Liedern abgesehen) war ja wohl für die Älteren die Situation in Südkurdistan, während die heute Jugendlichen fast 24 Jahre nach den Vernichtungs-Operationen aus solchen Erfahrungen keine Lehren mehr zu ziehen in der Lage oder bereit sind. Die jungen Leute von Halabja sind wütend auf den Erinnerungstourismus, sie wünschen sich Entwicklung, Projekte, die ihnen sichtbar machen, dass eine Zukunft sich lohnt. Ihr Blick richtet sich wie bei Fußballern nach einer Niederlage nach vorn. Sie wollen nicht zurückblicken, sondern mit beiden Beinen aus der Vergangenheit steigen. Gehören sie, unter Berücksichtigung der Probleme, die der zweiten oder dritten Generation zugeschrieben werden, gehören sie zum kollektiven Trauma, das ja eher ein Ereignis beschreibt, das viele Menschen betroffen hat und eigentlich keinen zeitlichen Endpunkt festlegt? Vermutlich muss man hier sehr genau differenzieren. Es ist nicht ohne weiteres klar, wer unter der soziologischen Diagnose (nicht im klinischen Sinn) kollektives Trauma zu fassen ist.

 

Bei der Frage nach den Verletzungen durch ein kollektives Trauma ergeben sich zahlreiche Schnittpunkte zum Individualtrauma durch Willkür und Gewalt. Ich hatte schon auf die expressiven Probleme der Sprache verwiesen. Sie liegen im Wesentlichen darin begründet, dass Menschenrechte zu besitzen ein Merkmal von Individuen ist. Sprache ist keine notwendige Bedingung. Dadurch, dass ein Kollektiv in Individuen teilbar ist, sind die verletzten Rechte der Individuen auch im Kollektiv vorhanden, das Kollektive Trauma ist dadurch die Summe der verletzten Individualrechte. Dabei wird bei einem kollektiven Trauma davon ausgegangen, dass es mehr und anderes repräsentiere als die schlichte Summe der Individualverletzungen. Ich persönlich glaube, dass dies aufgrund der emotionalen Dynamik des kollektiven Traumas offensichtlich ist. Eine solche Dynamik ist ein ambivalenter Prozess: Einerseits kann er zu heftigen Entladungen führen, andererseits besteht die Chance eines Trostes, einer Selbstvergewisserung und der Erfahrung einer Zugehörigkeit. Das Ziel einer Selbstbeschreibung als kollektives Trauma ist es, ein Verständnis (nicht das bestimmte) von den verletzenden Ereignissen und ihren psychophysiologischen Folgephänomenen zu bekommen. Da Verständnis des Einzigartigen (und wundervollen Überlebens) schwer zu erlangen ist und zudem Wandlungen unterliegt, werden kollektive Erinnerungszeremonien immer und immer wieder aufgeführt. Als Selbstzuschreibung „Kollektivtrauma“ durch die Betroffenen betrachte ich einen Vorgang, der nicht nur durch Reden sondern durch Handlungen charakterisiert ist und durch Aktivität (und aktive Erinnerung) der passiven Rolle als Opfer zu entkommen sucht. (Nebenbei: Aus just diesem Grunde bin ich weiterhin sehr skeptisch gegenüber deutschem Gedenken an den Holocaust in Form von ästhetischer Darstellung als Stelenfelder. Die aktive Überwindung der Opferrolle ist keine deutsche Angelegenheit. Ob die Gedächtnisstätte in Berlin hilfreich dabei ist, wage ich zu bezweifeln. Solidarität oder Enteignung, Entsorgung der Schuld oder Festschreibung der Opferrolle? Erinnerungskultur kann in viele Fallen tappen.)

Denn wir müssen uns klar machen, dass es Denk- und Handlungsweisen waren, die in Kurdistan zur absolut illegalen und menschenrechtswidrigen Verletzung und Verfolgung geführt haben. Traumatisierte Personen in Kurdistan sind nur in den seltensten Fällen ohne Widerständigkeit im Denken und Handeln verletzt worden. Alle Kurden und Kurdinnen standen unter Generalverdacht. Im Begriff „Kollektivtrauma“ und in den kollektiven Zeremonien des kollektiven Gedächtnisses schwingt immer auch die Identifikation mit den aktiven Anteilen eines Widerstands oder oppositionellen Denkens und Fühlens mit. Das kollektive Gedächtnis hat eine Tendenz, die Opferrolle vermutlich ebenso zu beenden wie auch Täteranteile, was man in Deutschland gut beobachten konnte. Indem eine „Stunde Null“ proklamiert wurde, gab es jene Ereignisse, die mit einem negativen zeitlichen Vorzeichen versehen wären, nicht mehr oder kaum noch, und der gesamte Kontext war in eine Strategie des Vergessens verpackt. Dieses Strategiebündel machte erfolgreich rund 50 Jahre „Winterschlaf,“ bis man es in Deutschland vorsichtig aufschnürte. Das wird mit dem größtenteils arabischen Tätervolk und den kurdischen Kollaborateuren in Ihrem Land nicht viel anders sein. Rechnen Sie in dieser Zeit der Entschuldigungen erst in vierzig Jahren mit einer ernsthaften Abrechnung der schuldhaften arabischen Bevölkerung mit ihren Verbrechen. Immerhin hat das irakische Parlament vor rund vier Wochen eine Entschuldigung ausgesprochen.

 

Wir haben jetzt mehrfach von kollektivem Gedächtnis gesprochen. Auch das kollektive Gedächtnis bildet den Gegenpol zum Individualgedächtnis genauso wie kollektives und individuelles Trauma. Im kollektiven Gedächtnis sind nicht bei allen Mitgliedern eines Kollektivs die gleichen Ereignisse und Erlebnisse gespeichert, sondern es handelt sich um eine Summe je subjektiver Ereignisse und subjektiver Verarbeitungen. Die Verarbeitungspotenzen sind nicht in gleicher Weise verteilt. Einige traumatisierte Personen kommen nicht mit ihren Erlebnissen und Verlusten zurecht, andere wiederum werden nicht in derselben Weise von ihren Erinnerungen und Erschütterungen gequält. Die posttraumatische Politik sucht überall, so auch in Kurdistan, die Meistererzählung zu generieren, die in den Ritualen präsentiert wird. Die Meistererzählung kann in vielen Details von der individuell erlebten Geschichte abweichen und macht dadurch deutlich, dass in den Individuen gleichsam zwei Erzählungen der Verfolgungs- und Leidenszeit nebeneinander existieren. Zum einen die individuelle, die sich in psychischen Verwandlungen äußert und die andere, kollektive, die in gemeinsamen Ritualen aufgeführt wird und ein Bewusstsein kollektiver Trauer in den Mittelpunkt stellt. Dabei darf man nicht davon ausgehen, dass hinter diesem Bewusstsein einer öffentlich geäußerten Trauer zugleich ein Verstehen des Gesamtkontextes und der Frage steht, warum das Trauma den jeweils Einzelnen getroffenen hat und weiterwirkt. Auf solche Fragen gibt es keine rationale Antwort. Der kollektive Trauerprozess stiftet nun nicht nur Ansätze für ein Verständnis, sondern kann durch erlebte Zugehörigkeit Trost bieten. Man kann sagen, dass es emotionale Qualitäten in ihrer besonderen Dynamik sind, die Linderung für betroffene Individuen verschaffen bzw. das Individuum so vorbereiten, dass verarbeitungswillige Personen profitieren. Dadurch unterscheidet sich der kollektive Coping-Prozess vom individuellen Bemühen, das traumatische Geschehen im Rahmen einer verbindlichen Erzählung zu überwinden. Das Ziel einer kollektiv aufgeführten Trauer besteht darin, wie in einer rituellen Selbsthilfegemeinschaft durch aktive Handlungen den hemmenden und individuell  paralysierenden Einfluss der Erinnerungen zurückzudrängen oder zeitweilig zu überlagern.

Etliche Autorinnen gehen davon aus, dass traumatisierte Kollektive eigentlich dieselben Symptome produzieren wie Individuen. Insofern stellen Kollektive lediglich eine Summe von Individualsymptomen dar. Auch Kollektive können wohl dissoziieren, sie können verdrängen, sie können sich nach extremen Traumata für die Bewältigung von Realität untauglich zeigen. Sie können zudem vermeiden oder dauerhaft alarmiert auf äußere Reize reagieren. Auch Kollektive können nach multiplen Traumata, wie man für Individuen als Binsenweisheit formuliert, nicht mehr dieselben sein wie vorher. Der Begriff des kollektiven Trauma weist jedoch in andere Richtung, wenn man sich einzelne verstörende Symptome vor Augen führt: So gibt es wohl keinen kollektiven Albtraum außer literarisch. Auch Flashbacks, ein bezeichnendes Reaktionsmuster nach extremem Stress mit Lebensbedrohung, lassen sich nicht in Kollektiven, sondern narrativ nur in Individuen nachweisen.

Die unzureichende Übertragbarkeit der DSM-Kriterien auf Kollektive wird von diesen Autorinnen übergangen, die Parallelen überzeichnet. In der Literatur schwenken Autoren beim Thema Kollektivtrauma sofort auf die Liste der Verarbeitungsmechanismen für Individuen. Dabei stellt gerade die Spezifität der Intrusionen einen gravierenden Unterschied zwischen traumatisierten Kollektiven und Individuen dar. Erst nach einer Auflösung des Kollektivs in Individuen funktioniert die Feststellung von Intrusionen. In verwandter Weise sehe ich die Rolle von Ressourcen. Individuelle Ressourcen, die sich lebensgeschichtlich gebildet haben, sind zu unterscheiden von kollektiven Ressourcen der sozialen Konventionen, Höflichkeitshandlungen, ungeschriebenen Gesetzen des Alltags, der Kindererziehung, der Hochzeitsarrangements usw. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass die lebensgeschichtlichen Ressourcen vom Individuum erlebt und weiterentwickelt werden, während die kollektiven Ressourcen bereits da waren, als die individuellen sich zu entwickeln begannen.

Dies führt uns zur Frage, warum ein Begriff wie Kollektivtrauma überhaupt eingeführt wurde und benutzt wird. Ich denke, der Begriff bindet sich (neben anderen Funktionen) fest an die Feststellung eines Verursachers, der die Intention der Schädigung oder Vernichtung eines Kollektivs mit politisch motivierter Gewalt verfolgte. Dadurch wird der Begriff ein Instrument der Politik, des internationalen Rechts, von Universalrechten (?) und von Reparationsforderungen. Eine therapeutische Orientierung im psychologischen Sinne erfolgt an den Bedürfnissen von Opfern grausamer und illegaler Angriffe. Das Kollektivtrauma wünscht zu seiner „Heilung“ dagegen die Anerkennung und die ausgleichenden Handlungen der verursachenden Mächte, garantiert durch übergeordnete Instanzen. Im Falle von Staatsterror wie in Kurdistan wären Anerkennung und ausgleichende Reparation auch für Individuen hilfreich, allerdings durch die Anonymität der Täter und ihre undurchsichtigen Befehlsketten erschwert. Solche internationalen Instanzen können juristische und zuweilen militärische ebenso sein wie etwa ein internationales Gewissen. Staatlicher Missbrauch von Gewalt bedarf also einer Reaktion der Völkergemeinschaft. Nur sie kann Einfluss auf Staaten nehmen und den Kreislauf der Gewalt durchbrechen. Dazu muss eine Massenverletzung durch Tötungen, Vertreibungen, Verschleppungen, Demütigungen, Machtmissbrauch usw. erst einmal festgestellt und einem Verursacher zugeschrieben werden. Eine kollektiv traumatisierte Gemeinschaft tritt als Ankläger auf. Dies ist eine aktive Handlung, die aus der Opferrolle drängt. Ob sie mit ihrer Anklage erfolgreich ist, hängt weit gehend von der internationalen Anerkennung der Vorgeschichte ab. Zwar ist eine Diagnose wie Kollektivtrauma noch nicht Bestandteil des Völkerrechts, der unscharfe Begriff des Genozids dient hier als rechtliche Kategorie. Alle mir bekannten Abhandlungen über Genozid vermeiden die Anerkennung der Massenmorde an Kurden als Genozid und belegen die Unzulänglichkeit rechtlicher Kategorien für die Beurteilung der Massenmorde in Kurdistan. Nun mag man vermuten, dass hier das Prinzip „blame the victims“ eine tiefgründige Rolle spielt, denn den Kurden wird in internationalen Statements stets eine entscheidende Mitschuld an der politischen Verfolgung ihrer Bevölkerung gegeben. Sie wolle sich mit den Entscheidungen und gebrochenen Zusagen der 1920er Jahre einfach nicht abfinden. Für Kurden wird hier mit zweierlei Maß gemessen. Die Emanzipation aus kolonialer Knechtschaft ist eine Reaktion auf westlich dominierte Teilung ihres Siedlungsgebiets. Wir können also festhalten: Auch die historischen Dimensionen nehmen psychologisch Einfluss auf die Bewertungen der Verbrechen Saddams. Die von massiver Schuld beladene Politik der Kolonialmächte steht am Beginn einer fortgesetzten Kette von Repressionen, und diese Mächte, von Einzelpersonen abgesehen, verweigern den Kurden heute den Status eines Genozids mit den entsprechenden Forderungen nach Reparation, Wiedergutmachung, Anerkennung und Entschuldigung, Bestrafung der Täter. Wir können uns darauf einigen: Das Kollektivtrauma ist ohne historische Bewertung und politische Folgebetrachtungen nicht zu verstehen.

Wenn aber Heilung oder Linderung kollektiver Traumata nur durch Verstehen und Bewusstwerdung erzielt werden kann, dann benötigen die Rituale kurdischer Trauerarbeit eine anerkennende Entsprechung auf internationaler Ebene. Solange der Genozid an Südkurden aus unterschiedlichen Motiven bestritten wird, dauert der Schmerz an. Und eine resignierende Haltung stellt sich ein, die in Sätzen wie „wir Kurden haben keine Freunde in der Welt“ zum Ausdruck kommt.

Wut ist eine normale Reaktion der Überlebenden. Wenn Wut ins Leere geht, wenn die Anerkennung der Ohnmacht inkorporiert wird, resultiert Depression. Eben dagegen richtet sich der kollektive Verarbeitungsprozess. Kollektive Trauerarbeit ist bei kollektivem Trauma über lange Perioden nicht nur ein Schritt zur Integration und zu Verständnis, es ist auch ein Angebot zum innenpolitischen Frieden, der jenen Kollaborateuren des Regimes gemacht wird, die unter den traumatisierten Landsleuten leben und zuweilen Täter- und Opferaspekte verkörpern. Koexistenz in diesem Milieu fördert oder erhält Misstrauen. Wer als ehemaliger peshmerga einen Verwaltungsbeamten oder einen djash von Saddams Regime (oder einen korucu im Norden) zum Nachbarn hat, wird nicht sicher zur Ruhe kommen können. Er wird sich durch sein eigenes Misstrauen erregt fühlen, und Hypervigilität wird ihm den Schlaf rauben. Eine solche gereizte Person wird darauf bestehen, dass der Kollaborateur nicht am kollektiven Trauerprozess teilnimmt.

Diese Situation erfordert erneut die Beantwortung der Frage, wer zum Kreis des Kollektivtraumas gehört. Das Problem der Koexistenz von Traumatisierten und Kollaborateuren nach einer Diktatur ist nicht individuell oder aus dem Familienkreis zu lösen. Es ist offenbar nur durch soziale Organisation, Schaffung von nicht korrupten Institutionen und öffentliche Zeremonien zu beenden, oder man vertraut ganz auf die auslöschende Wirkung der Zeit. Jedenfalls muss eine individuelle Therapeutik sich dieser Dynamik bewusst sein. Es handelt sich um dauerhafte Störeinflüsse, und nach den Erfahrungen von Hans Keilson ist diese permanente Störung der Integrationsbemühungen einer traumatisierten Person für die langfristige Ausbildung von Symptomen, auch nach langer Latenz, verantwortlich. Möglicherweise nicht nur bei Individuen sondern auch bei größeren Gruppen. Wir stellen also ferner fest: Es besteht hinsichtlich der Symptomentwicklung eine Beziehung zwischen Kollektivtrauma und Individualtrauma. Sie ergibt sich aus dem posttraumatischen Sozialleben, aus Erwartungen an die Politik und die Funktion der Öffentlichkeit und aus einer verunglückten Neuerfindung von Tradition. Denn jede Gemeinschaft sucht nach der Zerstörung von Traditionen nach neuen, Sicherheit bietenden kollektiven Ankern. Traditionen werden entweder neu belebt oder neu erfunden. Diese Erfindungen gründen auf Initiativen von aktiven und demagogischen Interessenvertretern oder Interessengruppen, in Südkurdistan sind es vermutlich zwei Stammes- bzw. Parteigruppierungen. In allgemeiner Form haben dies Hobsbawm und Ranger entschlüsselt. Wer mit der Erfindung von Traditionsinhalten oder der Praxis dieser Macht bildenden Gruppen nicht einverstanden ist, wird mit seinen individuellen Bearbeitungen traumatischer Erlebnisse nicht recht vorankommen. Er wird die Frage stellen, wofür er seine Leiden in Kauf nehmen soll. Wenn nach der Diktatur nicht für viele Menschen eine positive Neuorientierung ermöglicht wird, werden kollektive Rituale an Gedenkstätten, mit Gedenkreden und Begleitmusik, die Enthüllung von Gedenksteinen und Heldenverehrung hohl und wenig hilfreich für kollektives Coping sein.

Ich möchte abschließend einige Punkte zusammenfassen:

  1. Das kollektive Trauma hat in der posttraumatischen Bewertung Wurzeln in zahlreichen Disziplinen.
  2. Wer unter dem Begriff zu subsummieren ist, ist nicht leicht in der Realität festzustellen, weil und wenn Täter- und Opferaspekte in einen spezifischen Zusammenhang gebracht werden. Wie viele Menschen der zweiten und dritten Generation sind betroffen?
  3. Kollektives Trauma und Traumakollektiv sind zu differenzieren.
  4. Es besteht eine Interrelation zwischen Kollektivtrauma und Individualtrauma.
  5. Die klassischen Kategorien posttraumatischer Symptomatik sind nicht auf beide Traumaformen anzuwenden. Es regiert in beiden Ausformungen eine unterschiedliche Dynamik bei der Entstehung von Symptomen und der expressiven Darstellung.
  6. Kollektives Trauern ist ein notwendiges Instrument der Integration traumatischer Erlebnisse, das von nahezu allen Gemeinschaften zur Verfügung gestellt. Es beruht auf Zugehörigkeit und Empathie.
  7. Kollektive Trauer kann erst zu einem vorläufigen Ende gelangen, wenn alle Massengräber geöffnet und die Toten identifiziert und würdig beerdigt sind.
  8. Rituelles Coping kann Verstehen ermöglichen. Voraussetzung ist eine allgemein akzeptierte Meistererzählung des Leidens.
  9. Neuerfindung von Helden und Tradition kann den Umgang mit individuellen traumatischen Erlebnissen erschweren. Die Geschichte ist nicht von den postdiktatorisch Mächtigen zu erzählen, sondern aus dem Widerstand. Dies gilt übrigens auch für die Brüder und Schwestern aus dem Norden. Ein bedeutendes Instrument sind die Anamnesen traumatischer Situationen und Personen. Sie bilden ein Archiv, das den oft manipulierenden Transformationen der vergangenen Realität durch die Mächtigen widerstehen kann.
  10. Gesellschaftliche Entwicklung ist von der Anerkennung der Täter abhängig. Nach glaubwürdiger Anerkennung und Entschuldigung durch die Täter muss die internationale Gemeinschaft einen Begriff akzeptieren, der die Einzigartigkeit der Verbrechen und Leiden beschreibt, ähnlich dem Begriff des Holocaust. Hieran müssen vor allem Kurden ein Interesse haben, denn erst ein unverwechselbarer Begriff bedeutet Realität.
  11. Reparation muss den Entwicklungsprozess voranbringen. Aus den Einnahmen für Öl muss ein Teil für Rehabilitation aufgewandt werden. Seelische Rehabilitation ist kein Luxus. Sie stellt wieder Selbstvertrauen als Volk her. Sie muss parallel zur ökonomischen Entwicklung verlaufen.

 

Der ursprüngliche Begriff des Kollektivtraumas war eine Benennung jüdischer Überlebender nach den Naziverbrechen. Von ihm wird seit den 1980er Jahren gesprochen. Auf die Lage in Kurdistan übertragen enthält der Begriff eine Bewertung: Kurden wurde der Status des Menschseins abgesprochen und sie wurden mit abgespaltenen negativen Anteilen der arabischen Bevölkerung identifiziert. Diese abgespaltenen und destruktiven Anteile haben sich nicht ins Nichts aufgelöst. Sie sind lediglich in den Untergrund abgedrängt. Die Verstrickungen der Ba’ath-Partei müssten in der arabischen Nutznießerbevölkerung Schuld- und Schamgefühle auslösen. Erst ein aktiver Umgang mit den Fakten und was sie emotional verursacht haben, ließe eine zukünftige Annäherung der Bevölkerungsgruppen zu. In großen Teilen des Irak kann man heute noch feststellen, dass Schuld und Scham eingekapselt sind oder nur Aggressionen zulassen. Eine begründete Hoffnung auf Mitmenschlichkeit lässt also auf sich warten und ist in naher Zukunft ebenso wenig in Sicht wie die Hoffnung, dass Präsident Talabani schlanker wird.

Verehrte Kollegin und verehrte Kollegen, Sie mögen erkannt haben, wie komplex sich der Begriff des kollektiven Traumas darstellt. Ich habe einige Facetten beleuchtet, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Ich sehe mich außer Stande, Ratschläge zu geben. Werfen Sie daher keine Schuhe nach mir, weil ich vielleicht nur wiederholte, was Sie schon wussten.