Sepp Graessner, Oktober 2006

Bilder, Zensur, Urteile und die Macht der Psychiatrie/Therapeuten

(für M.)

Im Jahre 1997 hatte sich im Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin eine Tendenz zur Hierarchie  herausgebildet. Sie wurde als natürlicher Ausdruck eines schon zuvor entwickelten Machtwillens hingenommen. Die Bildung von Hierarchien berief sich auf therapeutische Erfahrung mit traumatisierten Flüchtlingen und meinte eher die Dauer der Zugehörigkeit zur Einrichtung. Diese Art von „Natürlichkeit“ war mir stets suspekt. Hierarchie bedeutet Machtkonstellationen in der interpersonalen Kommunikation; dies ist ein Kennzeichen von Institutionen. Dazu zählt auch das wortlose Streichen von Textpassagen von Mitarbeitern. Ohne Fragen und Diskussion wandert der Cursor von Vorgesetzten über den Computer und löscht Wörter, Sätze, Bedeutungen von Kollegen. Das habe ich als Ausdruck von Machtspielen, als Kränkung empfunden. In der betreuenden und unterstützenden Tätigkeit ging es neben institutionsdynamischen Aspekten dabei  nach meiner Beobachtung immer zugleich um die Rolle und Bedeutung eines breit verankerten und expandierenden Diskurses vom Psychotrauma, um die Wahrheit des einzig richtigen Urteils und sicher auch um einen universellen Aufruf zum sensiblen Umgang mit anderen Menschen. Es ging ferner um taktische und erzieherische Überlegungen und die Produktion eines pathetischen Bildes von der Arbeit im öffentlichen Raum, mit der sich Mitarbeiter den Grausamkeiten der Welt aussetzten. Das Motiv der Sicherung eines Arbeitsplatzes zur Spezialisierung und Weiterbildung im therapeutischen Sektor will ich nur marginal erwähnen.

 Jeder Mensch macht sich auf dem Grund seiner Erfahrungen ein je eigenes Bild von der Realität, in der er sich zum lebendigen Handeln und zu erregenden Emotionen motiviert, womit er wiederum Realität kommentiert. Solche Bilder sind keine Abbildungen von Wirklichkeit. Sie enthalten Kompositionen, neuronale Mixturen und Verknüpfungen, und sie verraten ausschließlich die Verfassung der Person, die sie entwirft. Diese Bilder werden subjektiv fast immer für die Realität gehalten oder als Abbildungen mit ihr gleichgesetzt, spiegeln jedoch oftmals nur Ausschnitte der Realität wider und sind sogleich mit persönlichen Konstrukten versehen. Mit diesen individuell geformten Bildern werden andere Menschen, ihr Verhalten und ihre Äußerungen, folglich auch ihre Texte und Handlungen beurteilt und bewertet. Es handelt sich also um den Vorgang, den man landläufig deutende und bewertende Interpretation zu unterschiedlichen Zwecken nennt. Die individuellen Bilder der Realität können a priori  nicht richtig oder falsch sein, weil sie nicht aus völlig freien Stücken gewählt werden. (Richtiger scheint: Die Realität in ihrer unübersichtlichen Komplexität wählt sich Personen, zwingt ihnen zum Handeln motivierende Bilder auf). Realitätsbilder sind mithin beeinflussbar, verformbar und manipulierbar. Hiermit bezeichnet man Lernprozesse, die mit Bildern operieren. Sie sind stets aus einem sozialen Kontakt, d.h. aus sozialer Kommunikation entwickelt worden und werden sprachlich, bildlich, musikalisch oder sinnlich, also instrumentell vermittelt.

Ein besonders eindrückliches Beispiel stellt die Figur des (fiktiven) Don Quijote dar. Er hat aus der Lektüre von Ritterromanen eine Realität entwickelt, die seine Betrachtung in den Mittelpunkt rückte und die seinen Zeitgenossen fremd blieb. Seine Bilder haben zu Handlungen geführt, die aus der Welt der Ritter entsprangen, jedoch mit der von Cervantes geschilderten Realität (einer weiteren Fiktion) nur Berührungspunkte hatten. Entsprechend wurde Don Quijote von der Mancha von seinen Zeitgenossen für verrückt, antiquiert oder als aus der Zeit gefallen gehalten. Wäre er heute ein Prominenter, so würde er für einen Exzentriker gehalten, Wäre er ein durchschnittlicher Bürger, müsste er fürchten, in Gurten und Zwangsjacke abgeholt zu werden. Don Quijote erkennt am Ende eine entzauberte und trübselige Realität. Er stirbt in heiterer Gelassenheit.

Auf eine gleiche Weise wie die identifizierende Lektüre können Diskurse Bilder hervorbringen, welche die betreffenden und betroffenen Personen zieren oder verunstalten, je nach Zweck und Aktualität, zugleich können sie ein Gemälde von Umwelt entstehen lassen, in dem sich die Realität dem Diskurs hingibt und mit ihm verschmilzt. So stiften denn Diskurse aktiv Bilder, und in inkorporierter Form werden sie zu Überzeugungen. Sie verzweigen sich und tauchen an unerwarteten Orten wieder auf. So wurde vom Diskurs über die Sexualität des ausgehenden 19. Jahrhunderts zugleich ein moralisches und gesellschaftliches Bild entworfen. Was als Skizze begann, konnte durch eine Korrespondenz mit einem sozialdarwinistischen Diskurs durchaus in Gewalt und Körperverletzung münden, während z.B. die Bilder vom Heldentum nach zwei Weltkriegen heute vergilbt erscheinen, was jedoch Restauratoren keine Ruhe lässt.

Allerdings – es ist wohl unbestreitbar, dass auch die Bilder (imagines, Imaginationen), die man als Reflex auf eine vermeintlich verstandene Realität von sich selbst erzeugt, immer auf eigene und fremde (d.h. soziale) Erwartungen orientiert werden, denen sie ihre Entstehung verdanken. Sie dienen sozialen Zwecken, fordern soziale Anerkennung ein und bestimmen dadurch die Regeln des Kampfes um die Frage, wer bin ich, wer will ich sein.

Es besteht insofern bei allen Menschen eine Lücke zwischen den Bildern und der Realität, als die Komplexität der Realität (mit ihren zeitlich-räumlichen und Sinne stimulierenden Dimensionen) nicht vollständig erfahrbar, abbildbar und speicherbar ist.  Weil sich nun in den Realitätsbildern auch Unbewusstes versammelt, ist von einer Lücke der Wahrnehmung und Verarbeitung zu sprechen. Die Bilder einer vermeintlichen Realität hinken dem komplexen Realitätsgeschehen hinterher wie ein Betrunkener im Straßenverkehr, der nur über begrenzte Wahrnehmungskapazitäten verfügt. (Ist es richtig, dass allein das individuelle Interesse den Wahrnehmungshorizont festlegt? Oder gehen in die Bilder bereits die Interessen der erziehenden Personen, d.h. des zur Imitation zwingenden sozialen Rahmens, ein, also das, was man „Vorbilder“ nennt und ferner Unbewusstes, Archaisches und das Begehren? Oder spielt dabei die aktuelle Stimmung als Ausdruck eines neurochemischen Prozesses eine wichtige Rolle? Wahrnehmung meint hier nicht nur die sinnlichen Qualitäten sondern auch die Fähigkeit zu Verknüpfungen und Verständnis von Ursache-Wirkungs-Verhältnissen, die nur in Ausschnitten dem Bewusstsein zugänglich sind). So ist in allen Erfahrungen eine historische Komponente enthalten, die jedoch nur linear hintereinander abgebildet oder aufgeschrieben werden kann, obschon sie im Ereignis unmittelbar präsent (z.B. Angst) ist. (Ist also die Angst, die von einem Ereignisses ausgelöst wurde, dieselbe wie die manifeste Angst nach dem Ereignis oder die durch Erinnerung hervorgerufene?)

Auch hier entsteht eine Lücke, die mystische Eigenschaften aufweist, indem sie äußere Daten und Informationen in innere und reduzierte transformiert. Nahezu jeder Begriff der Sprache, den wir zur Beschreibung eines Entwurfs von Realität benutzen, enthüllt zeitliche und sinnliche Dimensionen, die sich intendiert oder zufällig in der genannten Lücke befinden. Die Lücke ist also wesentlich durch das Komplexitätsgefälle zwischen Wirklichkeit und Vorstellung charakterisiert. Wenn ich z.B. „Zeitung“ sage, dann bedeutet sie in meinen Bildern: Geschichte der Zeitung, Zeitung als Propaganda, Lügen von Journalisten, Korruption, Morde an Journalisten, Anzeigengeschäfte u.a. und sicher auch Information, die jedoch von ihrem Wortgehalt aus dem Lateinischen als „in Form bringen“ aufgefasst werden kann und daher in meinem emotionalen Gedächtnis ambivalent besetzt ist, da es sich nicht nur um ein In-Form-Bringen einer Nachricht oder eines Ereignisses handelt, sondern auch darum, dass diese Form auf mich formend wirkt. Das ist bei anderen Menschen vermutlich anders, und Zeitung kann für sie assoziiert sein mit Hund, Pantoffeln, Gemütlichkeit, Kaffeegeruch, Wetterbericht und Kreuzworträtsel. Zwei Menschen – zwei Bildersysteme, die durch Verwandlung eines äußeren Gegenstandes aus Papier und Druckerschwärze in einen inneren Prozess entstehen, der scheinbar durch seine Vielfältigkeit einer Reduktion widerspricht.

Die Lücke in der Bewertung von Realität besteht auch darin, dass das, was kommuniziert wird, nicht einer erwarteten Wahrheit entspricht. Wahr ist wohl die Äußerung, nicht jedoch ihre inhaltliche Bedeutung. Sie ist von vielen Variablen abhängig, in denen Emotionen, Zwecke und Assoziationen die größte Rolle spielen, wie zum Beispiel bei der Lücke zwischen Recht und Gerechtigkeit, so dass schwer anzugeben ist, wie aus solcher Kommunikation Verständnis werden kann.

Aus diesem Grund ist es ausgeschlossen, die bildhafte Repräsentanz von Realität eines anderen Menschen in die eigene bildhafte Realität komplett zu integrieren, d.h. sie verstehen. Es kann folglich immer nur um Annäherungen gehen, wofür Offenheit und Wohlwollen notwendige Bedingung und affektive Begleitung sind.

Die Lücke zwischen Bildern und Realität ist schwer zu fassen, da es sich um einen je eigenen Schöpfungsakt handelt, der die Lücke zu füllen versucht oder offen hält. Konkrete Erlebnisse hinterlassen Bilder bei einem Erzähler und Akteur, der bestrebt ist, eben dieselben Bilder beim Zuhörer zu erzeugen. Da dieser Zuhörer aber ein anderes Bezugs- und Abgleichsystem für Bilder aufweist, muss die Lücke zwischen zwei Wahrnehmungs- und Verarbeitungssystemen anerkannt werden. Die anerkannte Lücke  ermöglicht zwar  künstlerische Kreationen, aber auch jede phantastische Verzerrung. Manche meinen, dass Künstler nur deshalb zur Produktion von Bildern gelangen, weil sie versagte Wünsche in Bilderwelten umformen, und dies als Ausdruck für traumatische Erfahrungen in der Realität gedeutet werden kann. Vielleicht ist psychotisches Erleben gleichsam der Aufstand gegen diese Lücke, die keineswegs darin besteht, dass die Realität nicht so ist, wie sie sein sollte, sondern in einem übergroßen, bewusst erlebten Spagat zwischen Bildern und Realität, d.h. einer bewusst erfahrenen Begrenztheit des physiologischen Apparats, dem durch frühe Gebote und Verbote zu enge Grenzen gesetzt wurden. Bilder bilden also nicht nur Realität ab, sondern sind bereits Reaktionen auf eine soziale Formung, die gleichfalls nicht aus dem Nichts entsteht, vielmehr angebotene Muster zu einem Selbstbild ausformt (Werbung, Wellness, Ästhetik). Dieses kann über lange Zeiträume stabil bleiben. Meine persönliche Vorstellung vom Psychotiker ist bestimmt von der Unmöglichkeit des Betroffenen, sich mit Hilfe von Bildern (Verschiebungen, Sublimierungen) den Zwängen der Realität zu entziehen oder eine Übereinstimmung von Bildern und Realität zu erzielen. Der Psychotiker fällt in die Lücke und landet auf Illusionen. Glücksgefühle in unserem Kulturkreis treten also dann auf, wenn die Realität den Selbstbildern zu ihrer Geltung verhilft.

Daher geht es in der menschlichen Kommunikation zuerst um die Anerkennung der Lücke. Das heißt auch: anerkennen, dass mit den eigenen Bildern die Erfahrungen anderer nur begrenzt erfasst werden können, eben weil die Erfahrungswelten und die Schlussfolgerungen daraus, die ein anderer kommuniziert, dessen Bilder bestimmen und nicht die gemeinsame ( die es wohl nicht gibt) Realität abbilden. Bilder eines erzählenden Klienten treffen also auf Bilder, die z.B. ein Therapeut aus seinen Erlebnissen und Erfahrungen produziert hat. Diese subjektiven Bilder haben nichts mit Wahrheit, Wahrheitssuche oder Erkenntnisgewinn zu tun. Sie sind konstituierende Elemente einer Weltbetrachtung, ein zweckfreier Rohstoff, der seine Überlebenszwecke in jedem sozialen Kontext immer erst ex-post formuliert.

Und Bilder stellen bereits eine Vorauswahl, eine Selektion der Realität dar, die von emotionalen, somatischen und methodischen Faktoren abhängig ist.

Jeder entscheidet, was er von der Realität in seine (vorgefertigten) Bilder aufnimmt, genauer: sein Körper entscheidet ohne Kontrollinstanz. Oft hat er bereits entschieden, bevor sein Verstand sich regt.

 

Wenn nun Institutionen sich anmaßen zu behaupten, ihre Bilder, die auf einen gemeinsamen und angeblich praktikablen Nenner eingeschrumpft wurden, seien mit der Realität identisch, so ist diese falsche Sicht nur mit Macht- und Disziplinarinstrumenten zu erreichen. Jeder  Macht gestützte Zwang, die eigenen Bilder von Realität der Zensur einer Institution zu unterwerfen, tut den Menschen Gewalt an. Er macht krank, unsicher und fördert die Verdrängung von ursprünglich personalen und allein der Person gehörenden Eigenschaften zu Gunsten einer Uniformierung. Wenn nun in einer Institution Tätige die Weltsicht der Institution bereitwillig übernehmen und gar als ihre Realität ausgeben, so kann diese bedingt freiwillige Aufgabe der eigenen Bilder in einem psychologischen Sinne als Identifikation, ja als Verschmelzung mit  dem Aggressor aufgefasst werden, in diesem Falle mit einem nichtpersonalen, eher abstraktem Aggressor. Vorauseilender Gehorsam belegt dann bereits die Dispositionen zur Unterwerfung. Institutionen betreiben – man kann nicht sagen: ungewollt -  Missbrauch an der Erfahrungs- und Bilderwelt ihrer Mitarbeiter, den man mit Konditionierungsvorgängen beschreiben könnte.

Nichts ist ein größeres Missverständnis als der Begriff der Teamfähigkeit, der nichts anderes besagt als die Anpassung der eigenen Bilder unter Fremdkuratel, was eigentlich zwangsläufig zu Widerstand gegen diese Entfremdung und zur Selbstbehauptung führen müsste. Das, was zu ideologischen Zwecken als Teamarbeit bezeichnet wird, ist daher ein scheinbar freiwilliger Schritt in die Stromlinienförmigkeit, d.h. Verantwortungslosigkeit, und ein Sprung in den Selbstverlust. Unverzichtbare Kooperation ist dagegen etwas ganz anderes. Ihr vornehmstes Kennzeichen ist Behutsamkeit. Grotesk wirkt, wenn Menschen, die ihre individuellen Bilder aufgeben, das freie Individuum preisen.

 

Bei Menschen, die auf Grund ihrer Erfahrungen in jahrzehntelanger Haft eine zwangsläufig verengte Abbildung von Realität aufweisen, kann es „therapeutisch“ eigentlich nur darum gehen, ihnen neue und erweiterte Dimensionen für ihre Bilder zu eröffnen. Vor allem, wenn wir sie und sie sich als Gefangene ihrer eingeengten Bilder erleben. Wenn solche (auch vom institutionellen Druck) Verwundeten eindimensionale Bilder von Realität (z.B. mit immerpräsentem Zellenalltag) zwanghaft produzieren, unterscheiden sie sich nicht primär von allen anderen Menschen, die ja in ihrer Kommunikation genauso verfahren, indem sie stets von ihren Bildern ausgehen, wenn sie Welt kommentieren. An ihnen lässt sich jedoch die Lücke zwischen Bildern und Realität besonders eindrücklich erfahren und der prägende und zirkuläre Charakter der Bilder auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung studieren, nicht nur quantitativ.

Realität ist absolut keine Konstante. In der Kommunikation ist sie sowohl flüchtig als auch beeinflussbar, zumindest in den Bildern, die sich auf Erfahrung, körperliches Erleben und Sprechen stützen. „Therapie“ von Traumata bedeutet folglich nichts anderes als das Verkleinern der Lücke zwischen Bildern und Realität.

 

 

Der Doppelcharakter von Zensur, der sich einerseits im expliziten oder impliziten Tabu einer (veröffentlichten) Äußerung ausdrückt und andererseits und zugleich mit einer bewertenden Note, einer Wert- “Schätzung,“ einhergeht, erfordert neben Takt vor allem das Erkennen der Lücke. Ein Text, auch ein Zweck gerichteter Text, der einen anderen Menschen, einen Patienten, bewertet, ist Folge und Ausdruck  eines körperlichen Vorgangs, in dem sich die Bemühungen um Verständnis bündeln (Sprechen, aufnehmen, denken, deuten, schreiben, in die Öffentlichkeit treten). Ein Eingriff in dieses Produkt aus körperlichen Elementen verursacht durch z.B. Streichungen einen Eingriff in die körperliche Expressivität eines anderen. (Manche Lehrer benutzen den Rotstift bevorzugt als Waffe.) In gewisser Weise wird der Eingriff zu einem Angriff, der die unterschiedlichsten Motive haben mag. Der von mir geschätzte Roland Barthes hat es aus diesen Gründen abgelehnt, seinen Studenten zensurierend zu begegnen, weil: er hätte anerkennen müssen, dass er über eine normierende Kraft verfügt, die in den Rang von (naturalisierter) Wahrheit („Das haben wir immer so gemacht. Das geht auch nicht anders.“) gerückt ist, und er hätte die Lücke zwischen Bildern und Realität, die auch Jacques Derrida in all seinen Schriften wichtig war, missachten müssen. Wenn zumeist willkürlich Vorgesetzte wort- und diskussionslos ganze Sätze aus einem Text streichen, hat dies den Charakter eines standgerichtlichen Urteils; es ist eine Demütigung. Sie besagt, das Urteil des Vorgesetzten sei die Wahrheit.

Der Drang zur Normgebung und Normdurchsetzung betrifft mich nicht mehr, vor allem, weil ich nicht mehr in Institutionen gebunden bin. Ich denke, ich bin vorsichtiger und zurückhaltender geworden, wenn es um die Bewertung anderer geht. Ich bin jedoch noch wie früher unduldsam gegenüber Institutionen des „kurzen Prozesses,“ z.B. Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Innenministerium, Innenministerkonferenz und „vox populi,“ die über die Verbindung mit den Medien in den Rang einer aggressiven Institution gelangen kann.

Auch das so genannte Psychotrauma bildet innerhalb der Psychiatrie eine Schlüsselstellung, die zu Kämpfen um die Definitionsmacht legitimiert.

Da unreflektierte Normierungen, die ihren ursprünglichen Willkürcharakter selten ganz verbergen können, sich nicht nur in Institutionen abspielen, sondern auch ganze Wissenschafts“disziplinen“ erfassen, ist mir, wie Eva Illouz belegt, die gesamte krakengleiche Therapeutisierung von Verhalten suspekt, eben weil sie, ohne sich einem (zumindest möglichen alternativen) Verständnis zu öffnen, das Normale setzt, es für natürlich erklärt (und hierdurch seine Begründung unbewusst macht) und damit auch alle Sanktionen gegen Verstöße legitimiert. Zugleich wird über den Mechanismus des naturalisierten Normativen die Macht der Therapeuten vergrößert, ja sie nistet sich in jedem Winkel von menschlichen Verhalten ein, weil nur sie, die Therapeuten, in ihrem Selbstverständnis,  über die Kompetenz zu Urteilen, die aus ihren Bildern stammen, verfügen. Die Macht hat mehrere Quellen, unter anderem liegt sie in den Klassifikationen, die z.B. als PTSD historisch von Lobbyisten der US-Militärveteranen durchgesetzt wurden und sich in den Folgejahren girlandenartig Schneisen in störendes Verhalten geschlagen haben: ADHS, Trotzverhalten, Asperger-Syndrom, Essstörungen, Mobbing, Missbrauch in allen Provenienzen, generelle Gewalterfahrungen u.ä. Eine weitere Machtquelle liegt in hierarchischen Gliederungen von Institutionen, wenn sich Mitarbeiter Machtbrocken der Institution borgen. Ferner in der Vertraulichkeit des Gesprächs: „Du kannst alles sagen. Du kannst mich beschwindeln. Ich bin nicht an der Wahrheit interessiert, sondern daran, was du fühlst, was in Dir vorgeht.“ (Foucault)

Mit welchem Recht und aus welchem Ursprung legitimiert sich die Macht der Normalen über die Auffälligen? Krank ist, wenn der Arzt dies bekundet, beurkundet und verkündet. Darin liegt seine gesellschaftliche Macht.

Der große und verborgene Kampf der Psychiatrie richtete sich daher penetrant gegen diese Bastion der Subjektivität. Ordnungssysteme und Statistik können als wissenschaftliche Vorstufen der Penetration in die Subjektivität eines Anderen aufgefasst werden. Letztlich geht es um Enteignung, und der Psychiatrie geht es oft darum, die Wahrheit aus dem Kordon der Magie zu befreien, indem sie die Subjektivität der Wahrheit auf eine wissenschaftliche Stufe zu transformieren sucht, von wo sie dann zu beobachten, zu messen, zu beschreiben und zu korrigieren ist. Ich hoffe inständig, dass sie daran scheitert.

Aus diesen Tendenzen leite ich, mit Anleihen bei Foucault,  eine dauerhafte Distanz zur Psychiatrie ab, weil ich noch nie daran geglaubt habe, nur zum Wohle der Auffälligen tätig zu sein. Es ging mehr oder weniger immer um Machtfragen und ein selten bewusstes Begehren. Auch eine Wohl wollende Zuwendung kann nicht verbergen, dass bei traumatisierten Flüchtlingen objektiv mit einer besonders rechtsarmen Klientel „experimentiert“ wird und das Machtgefälle trotz quasi-vertraglicher Vereinbarungen sehr groß ist. Das Gerede von Transparenz macht alle Spiegel blind und alle Glasscheiben milchig.

Die konstante Machtfrage in der Debatte über Traumata und ihre Tragweite wird paradigmatisch  sichtbar, wenn man das Verschweigen von kritischen Autoren des Traumadiskurses wie Becker, Young und anderen in Fragen posttraumatischer Störungen oder der Anti-Psychiatrie der 1960er Jahre bei gleichzeitiger Favorisierung der Psychopharmakologie (= Umverteilung der Kosten und Gewinne) und damit einer „Hygienisierung“ der Psychiatrie zur Kenntnis nimmt. Foucault spricht von „Pasteurisierung,“ was ich nicht übernehme, da es sich nicht um eine kurzzeitige Überhitzung handelt.

Wer sein Sensorium an der Psychiatrie der Nazis oder der Sowjetunion  sensibilisiert hat, an Selektion und sozialer Exklusion, sieht in den aktuellen Entwicklungen zur „therapeutischen Gemeinschaft“ zwangsläufig andere Tendenzen aufscheinen, als es von drängenden Zwecken (Integration, Migration, Rehabilitation) geleitete Sichtweisen können. Wieder, so erscheint es mir, ist eine Utopie unterwegs, dieses Mal im Schleichgang. Diese Utopie formuliert Feinde, die als Ideen getarnt daherkommen, aber eigentlich auf Menschen zielen, gegen die viele Zeitgenossen meinen sich bewaffnen zu müssen. Dazu braucht es eine Expertenkultur, die mit jeder ihrer Äußerungen zur Entmündigung der menschlicher Wahrnehmung und ihrer Bilder beiträgt, bis wir unseren Bildern nicht mehr glauben.