Überlegungen von Sepp Graessner

 Zwei Begriffe sind hier zu bestimmen: Was ist Empathie? Und was bedeutet in diesem Zusammenhang ein komplexes System, das von den Teilnehmern Empathie einfordert?

 Empathie ist, allgemein gesprochen, ein auf Verstehen ausgerichtetes, erkenntnispraktisches Instrument für Kooperation und damit Voraussetzung für Gemeinschaften und ihre Funktionen. Heute wird Empathie eher unter dem Oberbegriff der Intersubjektivität mit anderen emotionalen und kommunikativen Zuständen/Prozessen zusammengefasst. Empathie im therapeutischen Prozess steht immer unter den Vorzeichen der Disziplinierung von empathischen Regungen, die damit konstant zur Selbstdisziplin aufrufen.

 Im Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin (wahrscheinlich auch anderswo) war es seit der Gründung üblich, das setting im therapeutischen Raum als Konstellation zwischen drei Akteuren zu erfassen: Klient, Therapeut und Dolmetscher. Für den Ablauf der Kommunikation zwischen diesen Akteuren wurden umfangreiche Regeln aufgestellt und deren Beachtung angemahnt. Hier wird das System der Dreierbeziehungen um zwei weitere Systeme erweitert.

Die allseits geschätzte  Coolness muss nicht Abwesenheit von Empathie bedeuten, sie stellt aber wohl eine Technik des Verbergens von Empathie dar, eine Form der kontrollierten, selektiven Empathie mit sich selbst. Hierin zeigt sich, dass Verhaltensweisen in Verbindung mit Emotionen oder Einfühlung Moden und kulturellen Formungen unterliegen können.

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von Sepp Graessner

Auch nach fünf Jahren Praxis mit Menschen, die durch politische Verfolgung beschädigt wurden, wird man in einer latent gefährlichen Krisenregion wie in der Stadt Kirkuk die therapeutischen Ziele als vorläufig und fragil bezeichnen müssen. Sie sind ebenso wenig als richtig, fixierbar oder als unveränderlich anzusehen wie die Realität insgesamt. Die Realität nach extremen Traumata wiederzugewinnen, wird landläufig als das bedeutendste Ziel von Therapie betrachtet, weil ein Wust von widerstreitenden Affekten den Blick getrübt hat. Über die Bewertung der Realität können unterschiedliche Vorstellungen bestehen.. Oftmals hört man, die grausam behandelten Menschen hätten pathologische Krankheitsbilder erzeugt. Dies halten wir für falsch und für ein Ergebnis von Verleugnung, denn die politische Wirklichkeit hat Pathologien hervorgebracht.

Was also ist die Realität, die ein traumatisierter Klient verloren zu haben scheint und über deren Zusammensetzung, Bewegungsrichtung und Schwachstellen der Therapeut wissend verfügt? Wie wird ein individuelles oder kollektives Verhältnis zur Realität, der vergangenen und der gegenwärtigen, gebildet? Was ist dabei lässlich, was unverzichtbar?

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von Sepp Graessner

Trauma hat nicht nur allgemeine Konjunktur, es wird durch unterschiedliche Disziplinen in eine Zerreißprobe zwischen klinischen und kulturwissenschaftlichen Betrachtungen geführt. Während euroamerikanische Kliniker sich einem spezifischen Gewaltakt und dessen Folgen, wie sie meinen, empathisch, therapeutisch und methodisch zuwenden und zum Verstehen ein Narrativ vom traumatischen Ereignis entstehen lassen helfen, gilt einigen Kulturwissenschaftler/innen das extreme Trauma nur dann als solches, wenn es nicht verstehbar, einzuordnen und verarbeitbar sei.[1] Darin zeigt sich die Sonderstellung, z.B. der Literatur, dass sie von der Realität abweichende Geschichten und Personen konstruieren kann. Es ist nicht leicht einzusehen, dass hier zur Klinik diametrale Gegensätze bestehen, denn auch Neurowissenschaftler und Kliniker definieren einen Bereich von traumatischen Wirkungen, der sich einer Erklärbarkeit entzieht[2]. Dabei wird von den Kulturwissenschaftler/innen gern entlastend auf Nietzsche Bezug genommen: nur, was nicht aufhöre, wehzutun, bleibe im Gedächtnis. Allein der Schmerz sei das wichtigste Hilfsmittel der Mnemotechnik. Um folglich ein unverfälschtes Erinnern zu ermöglichen, sei der Schmerz nicht einer lindernden Behandlung zu unterziehen. Jan Assmann: „Nur der sinnlose Schmerz kann traumatisieren.“[3]  Natürlich wissen wir nicht, was den sinnlosen Schmerz als sinnlos auszeichnen soll, denn der Warn- und Signalcharakter des „sinnvollen“ Schmerzes kann auch vom „sinnlosen“ in Anspruch genommen werden. Dabei scheint es wohl in einem gesellschaftlich definierten Rahmen auf die Perspektive anzukommen, nicht zuletzt auf Macht, Herrschaft und systematisch aufgezogene Repression, die Gewinne daraus sowie fehlende Rechenschaftsinstanzen.

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Von Sepp Graessner (2007)

 Heute haben sich vielfach rein ökonomische Erklärungsansätze der weltweiten Korruption durchgesetzt, während frühere Erklärungsmodelle, die in den 1960er und 1970er Jahren des vergangenen Jahrhunderts den kulturellen Hintergrund, Traditionen, die Konstanz der Ungleichheit, unzureichende Entwicklungschancen in den Vordergrund von soziologischen oder  anthropologischen Untersuchungen rückten, in der gegenwärtigen Antikorruptionsrhetorik obsolet oder marginalisiert erscheinen.

Indem internationale Institutionen wie IWF und Weltbank im Rahmen der gewünschten Globalisierung eine Dominanz der Politik vor wirtschaftlichen Überlegungen (auch aus eigenem Machtkalkül) ablehnten und statt eines starken und regulierenden Staates eher schwache staatliche Institutionen in Kreditnehmerländer forderten, erhielt Korruption den Charakter einer ökonomischen Zwangsläufigkeit, die Zeit ersparte und persönliche Netzwerke knüpfte und moralische Bedenken oder solche einer kritischen Öffentlichkeit glaubte vernachlässigen zu können.

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Von Sepp Graessner

Im kurdischen Begriff „Xurpe“, der nur unzureichend mit traumatischer Erfahrung übersetzt wird, ist die Trauer enthalten, die ein Mensch empfindet, wenn er an die Verluste an Leben und Dingen, an Schmerzen und Drangsalierungen erinnert wird oder sich gedenkend erinnert. Dieser Begriff, der eigentlich Herzklopfen, Herzrasen bedeutet, ist auf emotionale Empfindungen der Trauer ausgedehnt worden. „Die Trauer gewährt eine ungeheure Sicherheit, weil sie uns von etwas überzeugt, was wir sonst bezweifeln würden: von unserem Verhaftetsein mit anderen.“[1]  Erst die Fähigkeit zur gemeinsamen Trauer konstituiert eine menschliche Gemeinschaft. Die im Kurdischen ausgesprochene Trauer wird zwar in der einzelnen Person gefühlt, stellt aber zugleich ein Angebot zur sozialen Teilung des Schmerzes dar. Im Verlauf der letzten hundert Jahre hat sich in Südkurdistan eine Haltung herauskristallisiert, die auf eine öffentliche Trauer verzichten musste. Paul Parin hatte schon 1983 in der „Psyche“ von der Angst der Mächtigen vor öffentlicher Trauer gesprochen. Besonders während der Periode des Saddam-Regimes konnte das in „Xurpe“ enthaltene Angebot nicht ausgelebt werden. Die öffentlich zur Schau getragene und tröstliche Trauer war verboten. Daher besteht die Trauer als unabgeschlossenes Kapitel fort, weil sie nicht in ein kollektives Ritual münden durfte. Trauer führte seither ein untergründiges Eigenleben, das die Geschichte(n) dieser Zeit der Leiden und Angst einfärbte. Die trauernde Person oder das trauernde Kollektiv suchen heute aktiv eine Kontinuität in den Individuen herzustellen, die trotz der immensen Verluste weiterhin Bestand haben solle. Diese Kontinuität ist zum einen erfüllt vom Fortbestehen einer individuellen, wenngleich zumeist beschädigten Persönlichkeit, zum anderen enthält sie eine historische Dimension, weshalb Trauer und Geschichte eine innere Verbindung zeigen, denn in beiden Bereichen geht es um (Wieder-) Herstellung von und Suche nach  Kontinuitäten.

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Von Sepp Graessner

Trauma, zumal als Psychotrauma, hat den Rang einer Diagnose. Retraumatisierung ist keine Diagnose, vielmehr eher eine Handlungsform gegenüber einer traumatisierten Person.

Reutraumatisierung ist ein Begriff, der oft leichtfertig verwandt wird. Retraumatisierung ist schwer fassbar und enthält dennoch eine scheinbar klare Bedeutung. Bedeutung und Verwendung dieses Begriffs weisen in verschiedene Richtungen. Die Verwendung des Begriffs mahnt und warnt vor Handlungen, die zu einer erneuten Traumatisierung führen. Solche Warnungen richten sich an alle diejenigen, die einen traumatisierten Menschen grob behandeln, vorsätzlich oder aus Unwissen, oder ihn in eine Glaubwürdigkeitsprüfung ziehen, die seinen Aussagen, Handlungen und Verhalten gilt. Die mahnende Rede von der Retraumatisierung fordert einen behutsamen Umgang mit Menschen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen.

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Sepp Graessner (2002)

Nach Stoffels’ Artikel über „False Memory“ und die darin enthaltene Sehnsucht nach einem Opferstatus, der eine gesellschaftliche Anerkennung und Zuwendung erfährt, erscheint es notwendig, mit Blick auf traumatisierte Flüchtlinge grundsätzlich über dieses Problem nachzudenken. Schon im Beitrag über den „sicheren Ort“ habe ich mich auf Freud bezogen, der in seinem Aufsatz „Hemmung, Symptom, Angst“ aus den Jahren 1925-1931 über den sekundären Krankheitsgewinn  der Neurose geschrieben hat. Auffällig erscheint hier die Ignoranz gegenüber den Fragestellungen, die Stoffels angeregt hatte.

Stoffels’ wichtigster Zeuge für seine These ist der Schweizer Wilkomirski, der sich eine jüdische und verfolgte Biographie erfand. Wilkomirski war, wie sich Jahre später und nach zahlreichen Ehrungen herausstellte, ein uneheliches Kind, das von seiner Mutter in ein Heim gegeben wurde. Im Rahmen einer Psychotherapie ist Wilkomirski möglicherweise Suggestionen erlegen, die ihn motivierten, eine Biographie mit Opferrolle zu konstruieren. Er mag am Ende seine erfundene Geschichte selbst geglaubt haben. Die Rolle, die er einnahm, brachte ihm gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Bedeutung.

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Von Sepp Graessner

Traumapolitik ist ein weites Feld, weil in diesem zusammengesetzten Begriff sehr viel Inhalt schlummert, der erst durch Praxis und Interpretation Gestalt bekommen kann. Als Trauma wird hier eine körperliche oder psychosoziale Verletzung verstanden, deren schmerzliche Folgen nicht mit der Narbenbildung abgeschlossen sind. Die Narbe im Gewebe des Subjekts kann konstant an die Verursachung erinnern. Narben sind Stigmata, die ein Subjekt zum Objekt machen können. Dies setzt voraus, dass ein Subjekt sich zum Objekt machen lässt und den Objektstatus inkorporierend anerkennt, wie dies bei allen Disziplinierungen der Fall ist.

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Eine bohrende Frage hat sich gestellt: Benutzen Kurden als Einzelklienten, wenn sie ihre Erlebnisse von Verfolgung und Misshandlung berichten, das „Wir“, weil sie in ihrer primären, großfamiliären Sozialisation zu einem Denken und Fühlen im Wir erzogen wurden oder weil sie in einer politischen Organisation eine Wir-Identität (sekundäre Sozialisation) ausbildeten, d.h. Anteile ihres Ichs an ein Wir zu delegieren gezwungen waren, oder wollen sie mit dem Wir zum Ausdruck bringen, dass sie ihre Erlebnisse verallgemeinern können, da viele Menschen wie sie betroffen sind? Das lässt sich nicht ohne weiteres beantworten, da man nur die Auswirkungen eines möglicherweise kollektiven Denkens, Fühlens und Wünschens erfassen kann. Ursachen und Steuerungsmechanismen bleiben dunkel. Wie viel kurdische Identität (als Konstruktion und Reaktion) steckt in dem gebrauchten Wir? „Wir Kurden haben keine Freunde,“ lautet ein oft gehörter Satz. Zuerst glaubt ein Zuhörer, der Gebrauch des Wir sei ein Zeichen von Bescheidenheit, von Konventionen, mit denen ein Ich vor dem Wir zurücktritt. Vielleicht sind auch all diese Einflüsse im kurdisch verstandenen Wir enthalten.

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