Im folgenden Einwurf sollen nochmals die Entwicklung und phänomenale Ausbreitung des Traumadiskurses und der beteiligten Akteure anhand von Stichwörtern wie Rhizom, Netzwerke und Theoriebildung skizziert und in seinen diagnostischen und politisch-moralischen Implikationen lediglich kursorisch behandelt werden und vielleicht als Anregung dienen.

Die Theoriebildung wurde bei der Veröffentlichung des DSM-III bewusst vernachlässigt, als sich der moderne Traumadiskurs, der über rund 10 Jahre  eine Verbindung von Vietnamkrieg und dem Leiden der Veteranen herzustellen bemüht war, als „Wahrheit“ sich durchgesetzt hatte und neue Betrachtungen auf Opfer, Gewalt und vor allem auf die Folgen von willkürlich verursachten psychischen Verletzungen ermöglichen sollte und dies auch erreichte. Indem Symptome der Veteranen phänomenologisch beschrieben wurden, die sich dann zu einer Diagnose etikettierend verdichteten, konnte zwangsläufig auf eine Theorie verzichtet werden. Die innere und logisch wirkende Beziehung schien auf der Hand zu liegen: Die überfordernde Wahrnehmung von Gewalt und Lebensbedrohung bewirkte bei nahezu jedem Betroffenen akute oder chronische Symptome.

Der Traumadiskurs setzte sich also aus mindestens zwei als vernünftig ausgewiesenen und akzeptierten Aussagen (abgeleiteten Erkenntnissen), einer politischen („Wir sind auch für die psychischen Beschädigungen unserer Soldaten verantwortlich“) und einer psychiatrischen („Psychische Verletzungen sind unser Gebiet, und sie sind behandelbar“) und den damit eng verbundenen Zwecken zusammen. Ohne einen angestrebten Zweck hätte sich der Diskurs nicht wellenartig verbreiten können. Er brauchte zudem besondere Bedingungen eines veränderten gesellschaftlichen Bewusstseins (Frauenbewegung), denn Krieg und psychische Verletzungen hatten weder nach dem Ersten Weltkrieg noch nach dem Zweiten Weltkrieg oder dem Koreakrieg einen Traumadiskurs mit anerkannten Diagnosen hervorgebracht.

Nicht nur hintergründig treten moralische Diskursaussagen an den Traumadiskurs heran, wenn z.B. das Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin betont, es sei seine Verpflichtung, gerade am Ort der Wannseekonferenz schutzbedürftigen Traumatisierten Behandlung und Sicherheit zu gewähren. Opfer verursachende Geschichtsprozesse in Verbindung mit Schuldfragen stützen den moralisch inspirierten Diskurs des Traumas. Ein wesentlicher Aspekt liegt in seinem Zweck, Gerechtigkeit, Reparation und Anerkennung von seelischen Schäden auf die Agenda der sozialen Politik zu setzen. Wer sich heute in Westeuropa für Flüchtlinge und traumatisierte Asylsuchende einsetzt, tut dies unbewusst oder im Bewusstsein, dass er Teil eines globalen Gewaltsystems war und ist, das neokoloniale Ausbeutung, Verelendung, Fluchtbewegungen und durch Rassismus permanente Ungleichheit verursacht. Das ist der moralische Kern des Engagements. Der Traumadiskurs löst daher eher indirekt Assoziationen von kollektiver Schuld aus, ein problematischer Begriff, den man aus globaler Verantwortung annehmen oder abwehren kann, weil niemand für ein Kollektiv oder in einem diffusen, inhomogenen Kollektiv Schuld empfinden kann.

Kaum als psychiatrische Diagnose und Forschungsgegenstand in die westliche Welt getreten, bildeten sich Netzwerke, die sich von der moralischen und humanitären Aussage des Traumadiskurses angezogen fühlten, meist ohne ihre individuellen Beziehungen zum Traumadiskurs kritisch zu befragen. Die moralische Aussage lautet schlicht: Wer leidet, dem muss geholfen werden. Nun muss nicht zwangsläufig die psychotherapeutische Methode die einzige sein, mit der Traumatisierten Hilfe geleistet wird. Jedoch wurde die in Manualen festgeschriebene Symptomatik psychischer Verletzungen zum Wegweiser und Glaubensbekenntnis eines Engagements im psychotherapeutischen Feld. Nach der Eröffnung erster Zentren in Dänemark, Holland und Großbritannien wuchs die Zahl therapeutischer Einrichtungen rasch in ganz Europa. Kliniken richteten Spezialabteilungen für Traumatherapien ein und förderten eine rastlose Forschung rund um die Diagnose PTBS, was eine Unübersichtlichkeit von (überflüssigen) Publikationen nach sich zog. Jeder Diskurs benötigt zur Untermauerung seines Wahrheitsanspruchs Verkündigungsorgane. Das sind Fachzeitschriften, die sich in den Feldern von Neurologie, Psychiatrie, Medizin und Psychologie bewegen und ihre Arme in die Anthropologie, Ethnologie und Soziologie ausstrecken. Die Kulturwissenschaften darf man nicht vergessen. Einige von diesen Feldern befassen sich mit dem konkreten Leiden von Menschen, andere  suchen nach Sinn und Bedeutung im sozialen Rahmen.

In die resultierenden Netzwerke, die den Traumadiskurs ins Zentrum rückten, traten nun auch Sozialarbeiter*innen ein. Sie konnten, wenn man traumatisierte Flüchtlinge und Asylbegehrende betrachtet, einen wichtigen Beitrag leisten. Mit diesen Mitarbeitern kam zudem ein wesentlicher Aspekt in die Debatte über die Richtung des Traumadiskurses: die Verantwortung der sozialen Gemeinschaft insgesamt für das Leiden von Menschen, das sich, wie man meinte, vorzugsweise in individueller Empathie ausdrückte. Empathie kann nicht Verantwortung ersetzen. Im Flüchtlingsbereich mussten zudem kompetente Sprachvermittler gewonnen werden, da ohne sprechendes Verstehen und verständliches Sprechen die Diagnose und die Therapie von Leiden nicht möglich sind, obwohl zuweilen schweigende Präsenz hilfreich sein kann.

In das Netzwerk, das sich mit traumatisierten Menschen befasste, wurden dann auch Anwält*innen und Richter*innen durch Informationen und Weiterbildung einbezogen. Sie suchten in ihren Entscheidungen und ihrem Engagement nach der oder ihrer Moral in den Ecken des Verwaltungs- und Strafrechts, denn das wesentliche Instrument für Gegner des Traumadiskurses blieb das Misstrauen, das überall Feiglinge, Täuscher und Beschwerdenerfinder erkannte. Institutionelles Misstrauen, ja Furcht bei der Abwehr von Flüchtlingen bildete den Gegenpol zum Traumadiskurs, der zugleich, vielleicht paradox, immer mehr Expert*innen und Gutachter*innen mit spezifischen Sprechweisen ausrüstete. Mit einer gewissen Berechtigung kann man von einem Arbeitsbeschaffungsprogramm sprechen, das der Aufklärung von und dem Ringen um „Wahrheit“ gewidmet war. Selbstverständlich war Objektivität in diesem Feld nicht zu erzielen. Es war vielmehr ein Streit der Meinungen und Ressentiments.

Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag in diesem Netzwerk leisteten die Praxis begleitenden Medien. Sie bereiteten durch Feuilletons, Wissenschaftsmagazine, Spielfilme und durch die Vorstellung von Einzelschicksalen, oft plump oder pathetisch, den Traumadiskurs als Allgemeinwissen auf  und dehnten die ursprünglich klinische Betrachtung auf so viele Situationen aus, sodass so etwas wie Traumapop daraus wurde, was den Ernst der psychischen Verletzung konterkarierte.

 So verzweigte sich der Traumadiskurs wie ein Rhizom unter der Oberfläche einer gesellschaftlichen Selbstbezogenheit ins Faktische, Reale, Unbezweifelbare und produzierte somit die Wahrheit. Rhizome haben die Eigenschaft, hier in der Gestalt von Opfern, an verschiedenen Orten unvorhersagbar hervorzubrechen. Sie brauchen bestimmte Bedingungen, um in Erscheinung zu treten. Dabei handelt es sich um geschichtliche Kräfte, die sogar unter den Vorzeichen von Opfer und Trauma eine alternative Geschichtsschreibung (Bombenangriffe auf Städte wie Dresden, Pforzheim oder der Feuersturm in Hamburg) forderten, denn Diskurse sind nicht nur Verknüpfungen von Aussagen und Zwecken, sie produzieren auch das bezeichnende Selbstverständnis einer Gesellschaft, die über Traumata spricht. Der Diskurs vom psychischen Trauma produziert immer auch Opfer durch seine moralischen Implikationen, die dadurch eine Herausforderung an die Gesellschaft stellen, weil sie eine Entscheidung fordern, nämlich ob man sich mit Hilfe von Identifikationen und Imaginationen zu den Opfern oder zu den Tätern rechnen möchte. Ein allgemeines Verständnis spricht dem Opfer stets den Status von Unschuld zu, obwohl die Verbindung von Opfer und Unschuld nie eindeutig ist. Viele Menschen wollen gut sein oder ein positives Bild von sich erzeugen, keine Schuld auf sich laden, weshalb ihnen die Identifikation mit Opfern leichter fällt als mit schuldbeladenen Tätern oder Verbrechenskomplexen. Wenn sie aber Schuldgefühle empfinden, die sich aus geschichtlichen und globalen Verstrickungen herleiten, beherrschen diese ihre Handlungen bis zur Überidentifikation.

Ich hatte in einem früheren Beitrag gesagt, Trauma sei ein Gleichmacher ersten Ranges. Das war voreilig. Der Traumadiskurs, der sich dem psychischen Leiden zuwendet, ist ja keineswegs neutral und konstant. Er befindet sich durch unterschiedliche Sprechweisen in kontinuierlicher Veränderung. Bei genauer Befragung zeigt sich eine hierarchische Gliederung des Traumadiskurses und der Diskurspraxis, die seit der Aufnahme der posttraumatischen Belastungsstörung in die psychiatrischen Manuale und Lehrbücher durch die Benennung von spezifischen Auslösern (Lebensbedrohung) weiterwirkt, regionale Differenzen aufweist und trotz des universellen Anspruchs des Diskurses unterschiedlich verstanden und benutzt wird, bestimmte Leidtragende heraushebt (z.B. Holocaust-Überlebende) und Gruppen oder Völker (z.B. Palästinenser) ans Ende der Hierarchie setzt. An diesen Prozessen ist Politik/Macht an erster Stelle beteiligt und daher ist eine Neutralität des Traumadiskurses nicht zu erwarten, da Politik stets Einfluss auf die Diskurspraxis nimmt.