(Zum Verschwinden des BZFO nach 25 Jahren)

 

von Sepp Graessner

 

Beim Bäcker weiß jeder, was es dort zu kaufen gibt, beim Fleischer auch. Ihre Läden heißen nach ihrem Beruf. Jeder Imbiss hat ein begrenztes Angebot, auch wenn der Imbiss als Gabys oder Mehmets firmiert. Bei Tageszeitungen ist es zumeist üblich, dass sie einen traditionellen Namen für ihr Blatt fortsetzen, z.B. Anzeiger, Depesche, Spiegel, Rundschau, Blatt, meist in Verbindung mit Orten oder Regionen. Man weiß, was gemeint ist. Neuerdings ist es Unsitte geworden, sich Firmennamen zuzulegen, die nicht auf das Angebot hinweisen, sondern sich hinter Symbolen verstecken, z.B. einem angebissenen Apfel. Versteckspielfreude mag der Grund dafür sein und maßlose Überhöhung, wenn der Sündenfall aus Genesis III re-inszeniert wird.

 

Beim „Zentrum Überleben“ lässt sich nicht ohne weiteres erraten, was sich dahinter verbirgt, was dort feilgeboten wird. Auch der Untertitel „Wege in eine menschenwürdige Zukunft“ ermöglicht nicht das ultimative Verständnis, scheint eher trivial. Es hat schon Unkundige gegeben, die das „Zentrum Überleben“ für eine klinische Einrichtung mit Brutkästen für Frühgeborene hielten. Namen von Firmen haben zuweilen irreführende Bezeichnungen, vor allem, wenn sie die Rechtsform von  Stiftungen wählen. Im Bereich sozialer Unterstützung für Notleidende und Schwache kommt es oftmals zu pathetischen, überhöhten und mit Metaphern überfrachteten Namengebungen („Ein Platz an der Sonne“).

Die Behandlungs- und Betreuungseinrichtung für Folteropfer, traumatisierte Kriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte, die sich mit dem Beratungszentrum für Betroffene häuslicher Gewalt und dem Zentrum für Flüchtlinge und Migranten in einer Stiftung verbandelt haben, betitelt sich neuerdings als „Zentrum Überleben“. Das erscheint als ein anmaßender Name, der vor allem beabsichtigt, das Wort „Opfer“ durch einen Zusammenhang mit Überleben zu ersetzen. Opfer wird zumeist nicht als Prozess begriffen, eher als dauerhafter Zustand, während Überleben ein eindeutiger, täglich neu erkämpfter Prozess ist, soweit es sich um Flüchtlinge und Asylsuchende handelt.

Warum muss sich aber eine Einrichtung, die sich mit Überlebenden von gravierenden Menschenrechtsverletzungen befasst, aus eigener Initiative „Zentrum Überleben“ nennen? Das wirkt doch verwirrend und vermessen. Die Wurzeln für eine Umbenennung der Behandlungs- und Betreuungseinrichtung liegen im Vereinsrecht für Gemeinnützigkeit, im Wachstum operativer Tätigkeiten, die Leistungsvergütungen einbringen und in der angestrebten Dynamik eines Wirtschaftsunternehmens. Zahlreiche Interpretationen drängen sich für die Neubenennung hier auf:

 

1)   Die Einrichtung kämpft selbst ums Überleben und feiert sich für erfolgreiches Überleben, zugleich als Zentrum (von was?). Übrigens war „Behandlungszentrum für Folteropfer“, der Vorgänger, genauso vermessen bei der Namensgebung, zumal es in der Stadt Berlin bereits seit längerem eine ähnliche Einrichtung gab, die dann aber nicht „Zentrum“ war. „Xenion“ war damit implizit Peripherie. Das gehört sich eigentlich nicht, wenn man sich gegen Ausgrenzungen ausspricht. Ich war daran beteiligt. Im Rückblick bedaure ich solche Aktionen. Die Außenwirkung auf Politik und Geldgeber war 1992 bedeutsamer als kollegiale Verbundenheit.

2)   Die Einrichtung ist ein Ort, an dem sich Überlebende versammeln, obwohl der Stiftungsname nicht „Zentrum für Überlebende“ lautet. Genauer gesagt: Die Überlebenden haben schon Flucht, Verfolgung, Folter überlebt und versammeln sich nun, um Unterstützung, Mitgefühl und Verständnis für ihren mühsamen Alltag zu erhalten. Und das impliziert Hilfe bei alltäglichen Bedürfnissen wie  legalem Aufenthalt, Wohnung, Arbeit, ärztlichen Attesten, Hilfe bei einer Familienzusammenführung, einer interventionistischen Relativierung von Fehlverhalten wie z.B. Schwarzfahren, Ladendiebstahl, Hilfe bei der Wahrnehmung von Rechten, bei der Abwehr von Behördenwillkür, Rassismus usw. Das sind Tätigkeiten sozialer Arbeit, die in eingeübter Weise das Potential sozial angemessenen Verhaltens seitens der Klienten erhöhen können. Es handelt sich um integrative Maßnahmen – und dies ist das allgemeine Ziel aller übrigen Tätigkeiten. Man kann allerdings nicht mit integrativen Handlungen starten – und dann werden alle Intentionen enttäuscht und die Teilintegrierten in Ängsten gehalten oder abgeschoben. Das wäre so, als wäre als göttliche Strafe Sisyphos fürs Steinwälzen bezahlt worden. Die integrative Arbeit als Profession muss im Zentrum als hoch bewertet werden, Abbrecher sind nicht die Regel. Man weiß sehr wenig über Gründe eines Abbruchs der Beziehung durch beide Seiten.

3)   Die Einrichtung sieht ihre Existenzberechtigung darin, dass sie Überlebenden beim Überleben hilft. Irgendwie scheint sie dabei recht spät zu kommen, denn Flüchtlinge und Asylbegehrende haben ihren Überlebenskampf bereits hinter sich und benötigen eher Unterstützung bei Integration und Zukunftsgestaltung im Zielland, zuweilen zeitlich begrenzt, wenn sie in ihre Heimat zurückzukehren gedenken. Wege in eine menschenwürdige Zukunft kann man gemeinsam gehen, man kann auf Richtungsänderungen hinweisen, zuweilen Abkürzungen zeigen und implizit feststellen, dass für Flüchtlinge die Gegenwart menschenunwürdig ist. Am Ende des Weges verleihen Betreuung und Behandlung wieder vollständige Würde, wenn die vielen anderen entscheidenden Akteure mitspielen.

4)   Erst die „westliche“ Konzeption einer durch traumatische Erlebnisse besonders vulnerablen Psyche, die unabhängig vom Körper beim Überlebenskampf Schaden nehmen kann und unsichtbare Symptomatiken der inkorporierten Angst/Panik hervorruft, eröffnet dem Begriff und Namen „Überleben“ eine tiefere und weitere Dimension. Entsprechend der UN-Definition von Integrität und menschlichen Grundbedürfnissen gehört die psychosoziale Gesundheit neben der körperlichen Unversehrtheit zu den wünschenswerten Grundrechten aller Menschen. Daraus leitet sich der selbstgewählte Anspruch der Einrichtung ab, dass psychisches Überleben mit einer erfolgreichen Flucht nicht abgeschlossen sei, sondern dass die verletzte Psyche dauerhaft schmerzt. Diese Aufspaltung von Körper und Psyche wird bei etlichen Flüchtlingen aus deren kultureller Sozialisation nicht verstanden. Dennoch bräuchte die traumatisierte Psyche der Klienten schützende und stabilisierende Hilfe der Psychoexperten, vor allem wenn der primäre soziale und familiäre Rahmen für ein relatives Gleichgewicht nicht mehr gegeben ist. Man muss aber in Erinnerung behalten, dass das Konzept eines traumatischen Erlebens in unserer Kultur zu einer psychiatrischen Diagnose wurde, die nun für Flüchtlinge gestellt wird, wenn sie bestimmte abfragbare Symptome ausweisen. Flüchtlinge kennen diese Diagnose nicht, werden  quasi von ihr überfallen. Aus dem Ansatz, dass Expertinnen in der Lage sind, schmerzende Psyche zu heilen oder zu lindern, leitet sich sinnvoller therapeutischer Zugang ab. Zuweilen entstand in der Vergangenheit der Eindruck, neben der „Faktenprüfung“ durch Behörden und Gerichte existiere eine zweite Ebene der Prüfung, die sich auf die psychosoziale Entwicklung von lebendigen, leidgeprüften Menschen konzentriert und wegen der Intensität und Intimität des dialogischen Kontaktes einen Primat vor der kalten, gesetzeskonformen Faktenprüfung beanspruchen darf, zumindest gleichrangig urteilt: subjektiv getönte Beziehung gegen subjektiv verkleidete Sachlichkeit.

5)    Genau diese Sicherung der Neuzusammensetzung oder Neuorientierung fremder Psychen in kulturell unbekannter Umgebung scheint den Namen „Überleben“ zu rechtfertigen, indem sie Erfahrungen von Wohlwollen, Schutz und menschlicher Solidarität ermöglicht. Denn Psyche ist keine substanzlose Entität, sondern eine aus sozialem Erleben erwachsene Reaktions- und Bearbeitungsinstanz des Individuums auf gesellschaftliche Realitäten. Mit einem solchen Verständnis legitimiert sich die so genannte Psychotherapie, die zwangsläufig davon ausgeht, dass bestimmte Erlebnisse eine beschädigte Psyche hinterlassen. Etwas komplizierter ausgedrückt kann man sagen: Zwar funktioniert der Alltag und die Bewältigung seiner Anforderungen bei traumatisierten Flüchtlingen in den meisten Fällen gut bis befriedigend, wenn auch oft frustrierend, aber bestimmte Anteile der symbolischen Sinnwelt sind durch traumatische Erlebnisse von Zerstörungen und tiefen Irritationen betroffen, auch im Zielland. Ob bei traumatisierten Flüchtlingen die aus sozialen Bezügen erlangte und internalisierte symbolische Sinnwelt in einer anderen Kultur mit anderer Tradition in Fällen von psychischen Störungen wieder repariert werden kann, ist nie überzeugend evaluiert worden. Die kulturell verankerte symbolische Sinnwelt, die durch Gewalterlebnisse beschädigt wurde, kann nur dann in einer differenten Kultur durch Dialog aufblühen, wenn es universale Elemente symbolischer Bedeutungen gibt, die beiden Kulturen gemeinsam sind.

6)   Wenn eine Einrichtung wie „Zentrum Überleben“ von traumatisierten Flüchtlingen aufgesucht wird, dann wird man zuerst feststellen müssen, welches die Interessen der Flüchtlinge sind: einige wollen sich wieder vollständig fühlen, die meisten anderen wünschen eine Unterstützungsinstanz, welche die sozialen Netzwerke der verlorenen Heimat halbwegs kompensiert. Dabei spielen Informationen über geschriebene und ungeschriebene Gesetze und landsmannschaftliche Netze eine wesentliche Rolle, und das „Zentrum Überleben“ ist bei zumeist einem Termin pro Woche nur ein kleiner Einflussfaktor beim psychosozialen Überleben. Dehnt sich ein Asylverfahren in beängstigende Länge oder wird von den grob erhobenen Verfolgungsgründen als eher chancenlos eingeschätzt, oder ist es bereits negativ entschieden, dann geht es in der Tat um eine Variante des lokalen Überlebens, nämlich eine Bleiberecht im Zielland zu erwirken. Das erhöht die Probleme, weil dann gegen amtliche Urteile des BMF argumentiert werden muss oder die Verwaltungsrichter von einer Krankheitslast überzeugt werden müssen, die nur durch einen sicheren Aufenthaltstitel geheilt werden kann, wodurch die Einfluss nehmenden Ebenen in einen supergroßen Mixer geraten, der straffe Gesetzesauslegungen, ärztliche Urteile, christliche oder andere Ethik und Ermessensspielräume durchquirlt, bis zu guter Letzt der moralische Imperativ aus dem Mixer tröpfelt, und der setzt Empathie voraus, die allerdings mit rational begründeten Gehorsam gegenüber Vorschriften konkurriert.

7)   Wenig oder gar nicht wurde und wird über die Motivation von Überlebensarbeiterinnen gesprochen, obwohl immer wieder daran erinnert wurde. Auf der einen Seite handelt es sich um bezahlte Tätigkeiten, deren Arbeitsplätze sozialkommunikativer Art rar sind, weshalb Praktikantenstellen zahlreich sind. Davon unterschieden sind möglicherweise die Motivationen der Ehrenamtlichen. Allen gemeinsam ist, dass sie eine asymmetrische Beziehung eingehen wollen, die durch weit gehend einseitiges Geben und einseitiges Nehmen charakterisiert ist, wenn da nicht ein oft verheimlichter persönlicher und gesellschaftlicher Gewinn für den Geber resultieren würde, der darin besteht, dass der Geber sein Selbstbild und seine eigenen Vorgaben bestätigt bekommt: Der gute Vorsatz ist der Nutzen und feine Unterschied. Auf die Fallstricke asymmetrischer Beziehungen haben wir an anderer Stelle hingewiesen. Die Imagedifferenz zu den Nichtgebern scheint nicht unwichtig. Da es sich bei der oftmals impulsiven Unterstützungsbereitschaft um anthropologisch frühe Regungen handelt, unterscheidet sich der Unterstützer von Flüchtlingen von den Menschen, denen dieser Impuls abhanden gekommen ist oder sich nur auf das engste familiäre Umfeld richtet. Humanitäre Unterstützer haben im Allgemeinen kein provinzielles Menschenbild, wenngleich ihr Bild von menschlicher Existenz mit missionarischen und expansiven  Schritten realisiert werden soll. Mit Hegels Dialektik des Opferbegriffs lässt sich feststellen: Es werden nicht nur Flüchtlinge als passive Opfer in einen therapeutischen Akt gezogen, auch die Therapeuten können ihre Handlungen als aktive Opferung (landläufig Engagement genannt) betrachten, die sie einem höheren Ziel und Sinn darbringen, der sich als Wiederherstellung verletzter Würde und Überwindung des Opferstatus für Traumatisierte ausweist.

Nun ist diese Form der Rehabilitationsarbeit durch internationale Vereinbarungen verpflichtend, soweit es sich um Folterüberlebende handelt. Traumatisierte aus vielfältigen anderen Gründen genießen nicht den Schutz der entsprechenden Konvention. Sie sind auf die Ermessensspielräume des nationalen Gesundheitswesens, freiwillige Leistungen und spendenfreudige Unterstützer angewiesen. Der diagnostizierte Kranke verdient eher Unterstützung als der Leidende, der an den Verhältnissen seiner Existenz subjektiv litt und leidet. Das subjektive Leiden kann im Vergleich zur „objektiven“ Krankheit nur unterliegen.

Auf der anderen Seite wird die Motivation zu rehabilitativer Arbeit von einer Haltung bestimmt, die sich aus biographischen und subjektiv bearbeiteten Faktoren zusammensetzt. Dadurch erhält die Tätigkeit mit traumatisierten Flüchtlingen den Charakter eines Bekenntnisses, das an Asylsuchende und Entscheidungsgremien gerichtet ist und der Affirmation der eigenen Persönlichkeit gilt. Es handelt sich wohl eher um eine permanente Suche nach dem eigenen Standpunkt in dieser Gesellschaft, deren humanitäres, oft nur rhetorisches Schema immer wieder Zweifel und Verzweiflung verursacht. Der individuelle Umgang mit Macht in asymmetrischen Beziehungen wird durch das Selbstbild, ein Opfer zu bringen, in einer Institution leider oft verborgen. Institutionen verleiten zum Verbergen individueller Machtimpulse gegenüber Klienten und Kolleginnen.

8)   Die gesellschaftlichen Prozesse, die zu einer Klassifizierung und Festschreibung posttraumatischer Symptome geführt und den Traumadiskurs zum Faktum gemacht haben, brachten, soziologisch mehr oder weniger erkennbar, ein „Framing“ (Rahmung) hervor, das die Spiel- und Praxisfläche begrenzt, Qualifikationen der Beteiligten einfordert, Regeln der Praxis bestimmt und zugleich (durch „wissenschaftlichen“ Ratschluss) die Maßstäbe und Messinstrumente festlegt, mit denen über Erfolg und Misserfolg, über Zugehörigkeit oder Ausschluss entschieden wird. Das erlittene und diagnostizierte Trauma löst sich dadurch von der allgemeinen menschlichen Existenz, erhält eine herausgehobene Bedeutung und kann pathetische Züge annehmen, wenn die Traumatisierten nach korrekter Diagnosestellung mit Nichttraumatisierten verglichen werden, und die Nichttraumatisierten bei eingehender Befragung eigentlich dieselben Wünsche und Ziele haben wie jene, die bevorzugt Unterstützung erhalten, während Flüchtlinge ohne Trauma (gibt es solche?) aus dem Rahmen fallen.

Das Problem mit „Framing“ liegt darin, dass es als erwiesene wissenschaftliche Wahrheit daherkommt und keinen Ausbruch aus dem Rahmen oder Überschneidungen mit anderen Rahmen gestattet. „Framing“ besteht auf einer Doxa, die höchstens an den Rändern durch unterschiedliche berufliche Qualifikationen Modifikationen erlaubt. Dabei ist der gesamte Ablauf von Reaktionen auf extreme Traumata und die Entwicklung posttraumatischer Phänomene nur phänomenologisch beschrieben aber noch nicht in wünschenswerter Tiefe ergründet worden. Die Definition des Traumas nach dem DSM benötigt einen individuell erlebten Angriff auf mehrere Sinnesorgane. Gesellschaftliche Verwerfungen durch Kriege und Verwüstungen, Abkehr oder Verbot von absichernden Traditionen oder global wirksame Großkonstellationen (wie Klimaveränderungen, neokoloniale Wirtschaftspolitik), die Leiden erzeugen und zu Verlusten an Sicherheit führen, sind in den Katalogen nicht vorgesehen. Daher bedeutet „Framing“ Exklusion, denn der größte Teil der lebendigen Welt und ihres Sinns, um im Bild zu bleiben, liegt außerhalb des Rahmens. In Institutionen muss man sich folglich klarmachen, in welchem Feld, zu welchen Regeln, zu wessen Nutzen das Spiel (die Praxis) verläuft.

9)   Individualpsychologische Ansätze von Behandlung weisen zumeist

sehr unterschiedliches Verständnis sozialpsychologischer Prozesse aus. Jeder Therapeutin hat ein anderes Bild von den Einflüssen, die aus der sozial gestützten Sozialisation auf den Einzelnen wirken. Das heißt, dass Flüchtlinge aus kollektiv entwickelten Kulturen Vertrauen aufbringen müssen, obwohl sie nicht wissen, auf welches Bild von Sozialität die Behandlung hinsteuert. Es liegt eine Gefährdung oder Missverständnis vor, wenn mit einem Schlage der Flüchtling Individuum wird und für die Dauer der Therapie seine Verankerung im sozialen Großrahmen aufgeben muss, weil die alles erklärende und zentrale Diagnose (posttraumatische Belastungsstörung) ein Individuum voraussetzt und in westlichen Gesellschaften nur im Individuum nach einem Ansatz für Veränderung gesucht werden kann. Die Beschwerden und der Traumatisierte selbst werden als individuelle Phänomene angesprochen, was keineswegs durch Fragen nach der Familie aufgehoben wird, weil eben die Wirkkräfte von Sozialisation im sozialen Verbund  nicht abfragbar sind. Man kann immer wieder feststellen, dass die inkorporierten Muster der primären Sozialisation, die auf Sozialität orientierte, hartnäckig das Handeln und die Erwartungen bestimmen, bei Flüchtlingen aus anderen Kulturen, aber auch beim Durchschnittsdeutschen. Wo die Orientierung auf Sozialität ins Stocken geriet oder kränkelte, dort sind Feindbilder schnell bei der Hand: Der äußere Feind macht den inneren Mangel sichtbar.

10)               Einrichtungen oder Institutionen wie „Zentrum Überleben“ müssen sich stets bewusst sein, dass sie in ihren Strukturen und in ihrer spezifischen Organisationsform zu einer Ökonomisierung des Sozialen beitragen (können), d.h. die Kommodifizierung schreitet voran und macht einen Dialog zu einer Ware, eine Unterstützungs- oder Hilfshandlung zu einer Ware, für die bei Flüchtlingen eine große Nachfrage besteht, weil sich existenzielle Beschränkungen durch Warentausch auflösen lassen. Kommodifizierung fordert im Dienstleistungsgeschäft Geldzahlungen, über deren Höhe der Markt entscheidet. Damit verabschieden sich solche Institutionen als Zwitter von der rein privaten und der rein staatlichen Wohlfahrtshandlung. Sie müssen sich fortlaufend legitimieren, sie müssen sich evaluieren lassen, kurz: sie arbeiten unter einem Kontrollregime, das in Institutionen rasch verinnerlicht wird. Wenn aber soziale  und dialogische Beziehungen und mitmenschliche Motive zu Gunsten von Schwachen und Traumatisierten unter äußere Kontrolle geraten, können sie ihren ursprünglichen Wert und Charakter nicht mehr aufrechterhalten. Sie stürzen in eine Entfremdung ihrer Lebendigkeit; und wohlmeinende, hilfsbereite Menschen begegnen am Ende Automaten, die ein ähnliches Aussehen haben wie sie selbst, allerdings mit der Illusion, Solidarität, fachliche Kompetenz und Wahlfreiheit seien allein aus ihnen selbst entstanden.

11)               Mit großer Wahrscheinlichkeit ist das Konzept posttraumatischer Symptome eine Verkürzung aus Bequemlichkeit, denn traumatisierte Körper nehmen nicht nur Wirkungen von Gewalt sondern auch Ursachen auf. Dazu haben sie ihr Wahrnehmungssystem und ihr Gedächtnis. Ohne Gedächtnis wären sie bloße Reaktionsapparate auf Umweltreize. Wenn Körper aber auch Ursachen von Traumata aufnehmen, dann können sie Lernprozesse zu Kausalitäten in Gang setzen. Solche Lernvorgänge beschränken sich nicht allein auf Vermeiden und Selbstbeschuldigung, sondern können eine rationale Kraft zur Überwindung der Gewaltursachen durch assistiertes Besänftigen der Wirkungen von Gewalt darstellen. Jedenfalls habe ich in dieser Weise die „Veterans’ Movements“ während und nach dem Vietnamkrieg in den USA verstanden und sicher auch etliche der heimkehrenden Lazarettinsassen aus psychischen Gründen des ersten Weltkrieges, die sich an sozialistischen Projekten beteiligten und dadurch in Deutschland dem Größenwahn des Kaiserreichs den Rücken zuwandten. Die aktivierende Symptomatik post Trauma steht aber in keinem Katalog. Der Katalog des DSM beteiligt sich dadurch an einer (zuweilen lebenslangen) Opferfixierung.

12)               Ein theoretisches und praktisches Problem betrifft das unterschiedlich akzentuiertes Zeitinteresse und die unterschiedliche Zeitorientierung zwischen Flüchtling und Helfer. Auf der Seite  traumatisierter Flüchtlinge richtet sich das perspektivische Augenmerk auf eine sichere, auskömmliche Zukunft in einer anerkennungsfähigen, respektvollen menschlichen Umgebung, auch wenn zuweilen vergangene Bilder und Verluste in die gegenwärtige und zukünftige Gegenwart drängen.

Auf der Seite der Betreuerinnen und Behörden wurde nach meiner Beobachtung das urteilende Gewicht allein oder ganz überwiegend auf die Vergangenheit der Flüchtlinge gelegt. Wer nach Deutschland flüchtet, hat eine Vergangenheit. Ob er eine Zukunft hat, darüber entscheiden Bürokraten; zwischen den engen Leitplanken von Vorschriften eingeklemmt, die manche in diesem Land für Leitkultur halten.

Erst überzeugend berichtete Elemente der Vergangenheit werden als Vorzimmer einer Behausung und Zukunftsgestaltung akzeptiert, bevor sie mehrere Instanzen durchlaufen und auf Widersprüche abgesucht werden. Psychotherapeutische Konzepte richten ihr Hauptinteresse auch auf eine individuelle Vergangenheit, mit denen sie das gegenwärtige psychosoziale Befinden erklären und zu verstehen suchen. Das heißt, Flüchtlinge blicken mit ihren Vorstellungen und Interessen in eine andere Richtung, als es Betreuerinnen, die vor allem hilfsbereit lernen wollen, mit ihren Interessen tun. Natürlich hat immer schon die personale Vergangenheit die Wirkkräfte zur Verfügung gestellt, die entscheidenden Einfluss auf die individuelle Gegenwart nehmen; der Flüchtling flieht in gewisser Weise seine Vergangenheit auf eine selektive Art, macht sich selten seine prägenden Wirkkräfte bewusst, kann der Vergangenheit aber nicht entkommen, wie er seinem Herkunftsland entkam. Seine Vorstellungen und Illusionen von Zukunft führen zu Bedrückungen bei den Behandlerinnen. Die Realisierung solcher Vorstellungen ist nur in permanenter Bewegung möglich, und diese Bewegung weist in die Zukunft, wofür Therapeuten nur in indirekter Weise zuständig sind. Wer sich professionell mit personaler Vergangenheit beschäftigt, kann nur unter einem integrativen Gedanken eine Zukunft für den Flüchtling mitgestalten. Die Aktualisierung der Flüchtlingsvergangenheit in Narrativen ist dadurch einem Zweck verpflichtet, der weit über den individuellen posttraumatischen Befund hinausweist. Er reicht von teilnehmender Beobachtung, Beziehung/Bindung, genereller Anerkennung, Beratung in sozialen Fragen bis zur Betreuung der zweiten Generation.

13)              Jacques Derrida sagte in einem Interview unter dem Eindruck seiner schweren Krankheit, Leben sei Überleben, weil zu jedem Zeitpunkt das Leben sich auf das Sterben zubewege. Weil also die Möglichkeit des Todes im Leben bewusst oder unbewusst als unabwendbare Tatsache bestehe, beginne das Überleben als Abwehr des Todes und Widerstand gegen ihn bereits mit der Geburt. Solche Überlegungen treffen auf das „Zentrum Überleben“ kaum zu. Vielmehr scheint hier der Umkehrschluss zu gelten: Nach dem Überleben beginnt das Leben, zu dem  Wege führen, die in realistischer Bescheidenheit auf Richtungs- und Entfernungsangaben verzichten. Das hat doch auch etwas Prophetisches!

  

Nach rund 25 Jahren hat es eine Fusion unterschiedlicher Einrichtungen unterschiedlichen Alters zu einer Stiftung gegeben: Zentrum Überleben.

Die „Firma“ hat rund 90 Mitarbeiter, die Aufwendungen summieren sich zu Beträgen von mehreren Millionen Euro.

Die Besänftigung von verletzten Psychen von Flüchtlingen und Asylsuchenden durch Folter, Krieg und willkürliche Gewalt ist und bleibt das Hauptanliegen einer Integration, die ihre wesentlichen Merkmale ausschließlich in der psychosozialen Hilfe, Solidarität und interpersonellen Beziehung hat.