Gibt es eine plausible Beziehung von geschichtlichen Kräften des Neoliberalismus und seinen Wirkungen zur  individuellen Psyche? Man ist selbstverständlich versucht, diese Frage mit ja zu beantworten. Warum denn sonst sollte eine neue von der Ökonomie ausgehende Ideologie sich ausbreiten, wenn sie nicht, wie jede reale Wahrnehmung, die Psyche der Individuen erreichen und verändern wollte? Und wenn diese neue Ideologie mit direkter oder indirekter Gewalt zusammengeht, können auch Traumata resultieren. Spekulative Überlegungen machen hintergründiges Vergnügen, können jedoch auch erschüttern.

 

Mit Thatcher und Reagan bereitete sich die neoliberale ökonomische Rationalität auf ihr globales Zerstörungswerk vor, obwohl zu Beginn ihrer Regentschaft ihr Programm eher nur in einer Ausdehnung des freien Marktes lag. Aber dann legte der Neoliberalismus, angefacht durch den Zusammenbruch des realen Sozialismus, erst richtig los und zudem angetrieben von einer Geringschätzung staatlicher Wohlfahrt und Regulierung der Wirtschaft durch hinderliche Gesetze.

Privatisierung öffentlicher Güter, Ökonomisierung des Alltags, Ökonomisierung der politischen  Begriffe, Zeitmanagement, Explosion des Dienstleistungsbereichs, plumpe und raffinierte Lohndrückerei, Unsicherheit über die Art und Dauer der Arbeitsverhältnisse, existenzielle Unsicherheiten, Angst als permanente Lebensbegleiterin, Elitenbildung, alleinige Orientierung an Effizienz und Effektivität, Konkurrenz u.a., von den neokolonialen Praktiken und Austeritätspolitiken durch internationale Agenturen, von Rücksichtslosigkeiten gegen Natur und Klima, der Ausweitung des intransparenten Finanzmarktes und globaler Ungleichheit einmal abgesehen, alle diese oftmals schmerzlichen Einflüsse bilden die beherrschende Kräfte, denen sich auch der Sektor der Sozialpolitik nicht entziehen kann. Die genannten Kräfte sind von den Betroffenen erfahrbar, die resultierenden psychischen Verwerfungen sind von außen nur indirekt bemerkbar, weil eine Kausalität des Jochs dieser Kräfte und der inneren Prozessen in Menschen von den Profiteuren und der Politik bestritten wird, und dazu können sie Lobbyisten, Parteipolitiker und Publikationsorgane zur Dauerbeeinflussung einsetzen, ja ganze Bewegungen des Protests und der Abwehr unterwandern und mit finanzieller Ausstattung korrumpieren und spalten. Eine generalisierte Verleugnung und Trägheit kann die Realitäts-Hirn-Schranke bei den Betroffenen offenbar nicht überwinden. Das Joch wird freiwillig in die Selbstbetrachtung des Körpers eingelassen. Das Über-Ich Freuds erhält einen Charakter, der nicht mehr an normenvermittelnde Autoritäten gebunden ist, sondern in illusionärer Weise als eigene Schöpfungen erscheint. Der Neoliberalismus treibt bewusst Widersprüche an. Er verspricht Befreiung von vielen Fesseln und macht über Kontrolle, Überwachung und neue Hierarchien genau das Gegenteil. Es sind die vom Neoliberalismus geschaffenen Subjekte, die solche Widersprüche integrieren müssen. Wie aber lassen sich Widersprüche integrieren, seien sie nun bewusst oder unbewusst? Jeder solcher Versuche der Integration führt auf schwankendes Gelände, bietet gerade nicht Sicherheit und leitet über Irritation und Orientierungslosigkeit in die psychische Krise, denn der widersprüchliche Neoliberalismus wirkt auf vielen Feldern auf Subjekte ein. Wer immer besser sein will als sein Nachbar, hat zuerst Beziehungsprobleme, dann Erschöpfung und am Ende eine hohe Dosis von Aufputschmitteln und Antidepressiva.

Thatcher und Reagan waren als politische Gestalten gerade die richtigen, um die Ideen des Neoliberalismus – keine ganz einheitliche Ideologie und zudem in flexibler  Dauerbewegung – in praktische Politik zu gestalten. In den rund 10 Jahren bzw. 8 Jahren ihrer Regentschaft, von 1979- 1990 fiel die Ausweitung des neoliberalen Konzepts, das auch den Gesundheitsbereich, die Betrachtung der körperlichen und psychischen Störungen, infiltrierte. Das UK und die USA waren keine Inseln des Neoliberalismus, sondern nur seine Brückenköpfe bei der Globalisierung. In Chile nach dem Pinochet-Putsch war das Konzept „erfolgreich“ erprobt worden.

Nun wäre es vermessen zu behaupten, bei der genannten Dekade handele es sich um die ersten 10 Jahre der Etablierung und Expansion des DSM-III und der posttraumatischen Belastungsstörung mit dem zentralen Begriff des Traumas und dem Beginn intensiver Forschung, die auf psychische Verletzungen nach spezifischen Erlebnissen fokussiert wurde. Es wäre derzeit auch unbeweisbar, dass die herausragende Bedeutung eines rücksichtslosen Narzissmus in dieser Phase seinen Ausgang nahm. Aber es erscheint interessant, die Betonung des Individualismus, der  Selbstoptimierung und der Penetration ökonomischer Metriken (scoring, ranking, Datenverknüpfungen) in das Alltagsverhalten und in die Wissenschaften vor allem mit dem Voranschreiten des Neoliberalismus in Beziehung zu setzen. Die Veränderungen, die der Neoliberalismus bewirkte, können als Makrorahmen mit eingebauter existenzieller Unsicherheit zu einem dauerhaften Stress führen, der bei einer Reihe von Zeitgenoss*innen beschädigte Selbstbilder auslöst, die sich kumulativ zu traumatischen Symptomen verdichten können. Das heißt, der entgrenzte Neoliberalismus wirkt sich nicht nur in der Ökonomie und im Regierungshandeln aus, sondern auch in den individuellen Psychen, die dem Dauerdruck standhalten sollen. Die anwachsende Zahl von Depressionen und Burn-out kann als Indiz, dem Dauerstress nicht standzuhalten, gewertet werden. Allgemeine Resignation gegenüber diesen Kräften ist in allen Ländern feststellbar, weil die Grundprinzipien neoliberaler Forderungen verinnerlicht wurden. Wer den Forderungen nicht genügt, kann von Schuldgefühlen gepeinigt werden oder sich in Projektionen verstricken, die den Schwächeren und den Eliten gelten, ohne die wesentlichen Fragen nach den Ursachen für das eigene „ungenügende“ Verhalten zu stellen.

Innerhalb einer abgeschnürten Sozialpolitik, die den Blick von der Ökonomie abwendet, flankiert den verordneten Individualismus und die Vierklassengesellschaft das Lob des Ehrenamts für die Gemeinschaft. (Das kann sogar ein Bundesverdienstkreuz einbringen.) Im Zuge von Bankenkrisen wird sprachlich aus dem Ehrenamt zumeist das Opfer, das man dem Ganzen darbringen muss, nachdem viele schon zuvor „den Gürtel enger geschnallt“ haben. Also: erst unbezahlt im sozialen Bereich tätig werden, dann noch zwangsweise Opfer bringen, wie die Debatte um ein allgemeines soziales Jahr nahelegt, was allein dem Pflegenotstand nützen soll. Wenn dies alles zugunsten eines „Volkes“ geleistet werden soll, muss ich mich verweigern, nicht nur dem Volksbegriff, sondern auch dem Umstand, dass da Leute zugerechnet werden, mit denen mich eine wechselseitige Abneigung verbindet. Selbst der Begriff „Bevölkerung“ fasst so viele Leute zusammen, für die ich nicht aktiv werden möchte, außer sie sind in Not und verursachen nicht Not. Die Wiederentdeckung des „deutschen Volkes“ macht etliche Probleme sichtbar, die der Neoliberalismus bewirkt hat. Mir hat jedenfalls in den Jahren, in denen der Volksbegriff noch nicht toxisch, nationalistisch kontaminiert war, nichts gefehlt. Selbstverständlich weiß ich, dass der Sport in national ausgerichteten Meisterschaften immer schon (seit 1954) die Eintrittspforte für Nationalismus war.

Die neoliberale Ideologie hatte stets auch eine erfinderische Seite, und zwar nicht nur, indem er die südliche Hemisphäre durch Ressourcenraub ausbeutet und dortiges Regierungshandeln durch Korruption untergräbt, vielmehr durch Entwicklungshilfe und NGO eine Dauerpräsenz begründet, die mit menschenrechtlichen und traumatherapeutischen Ansprüchen ein moralisches Alibi erreichen und die eigentlichen aggressiven Muster abfedern möchte.

Die erfinderische Seite des Neoliberalismus wird noch sichtbarer, indem er unternehmerisches und betriebswirtschaftliches Handeln in den Bereich der menschlich-psychischen Mängel und Beschränkungen im Sinne einer erweiterten Marktwirtschaft einführt. Für diese neuen Märkte gilt, dass sie profitabel und auf Wachstum ausgerichtet sein sollen. Seit den 1980er Jahren entstehen in raschem Ausmaß Unternehmungen , die Coaching, Consulting, neue Therapieformen inklusive esoterische Abweichungen fernöstlicher Provenienz, klinische Behandlungen, Notfalleinsatzgruppen, Entspannung in Verbindung mit Urlaub anbieten und guten Zulauf finden. Im Hintergrund steht dann immer ein Schuldgefühl, das die Selbstoptimierungsindustrie induziert hat. Nach der Anti-Raucherkampagne entfalteten technische Innovationen zur digitalen Gesundheitskontrolle weitere Märkte der Selbstoptimierung mit ihrem subtilen Schulderzeugungswerk: Fitnesszentren ersetzten die Sportvereine, Jogging und Körperkultur bewirkten neben anderen Faktoren das Eindringen des Neoliberalismus in die Alltagskultur, nachdem sie einen Markt mit Nachfrage erzeugt hatten. Natur wird heute weit gehend unter dem Gedanken erlebt, dass sie eine bildhafte Mitteilung mit elektronischen Medien erlaubt.

Wenn wir dem Neoliberalismus eine inhärente Gewalt unterstellen, die den meisten unbewusst bleibt, eine Gewalt, die ungleiche Würdeverteilung (gesellschaftliche Position, Einkommen, politische Teilhabe) bewirkt, dann lässt sich die katalogische Beschreibung traumatischer Störungen des Selbstbildes und der Beziehungsfähigkeit durchaus daraus ableiten und muss sich keineswegs ausschließlich auf konkrete extreme Erlebnisse beziehen, weil der Makrorahmen bereits extrem ist und den Hintergrund für psychische und soziale Verletzungen bildet.

Viele Spielarten der neoliberalen Rationalität erzeugen Stumpfheit, wenn nicht gar Verblödung, weil auch der Sektor der Bildung, der Wissenschaft, des Wohnens, der Arbeit, der Unterhaltungsindustrie und der gelenkten Neugier im Sinne des Massentourismus von neoliberalen Prinzipien, wenn man sie überhaupt so nennen darf, gekapert wurde.

Man kann also versuchen, diese ursprünglich ökonomischen Prinzipien und ihr Eindringen in die Demokratie und Kultur zu verstehen und mit glaubwürdigen Alternativen und Widerstand zu verbinden, damit nicht nur spekulative Polemik übrigbleibt. Der Dampf, den ich hier ablasse, sollte eine Maschine antreiben. Entscheidend aber ist, dass der Antrieb menschliche und überzeugende Werte erzeugt, Kritik ist genug geübt, vor allem die Kritik, dass lobenswerte Individualtherapien nach Gewalttraumata den Kampf gegen die Rahmenbedingungen nicht ersetzen können. Wenn alle zur Einsicht gelangen, dass sie Opfer sind, dann gibt es keine Täter mehr.