von Sepp Graessner

 

 

„Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man. Besonders deutlich wird dies in Gesellschaften ohne Schrift, in denen ererbtes Wissen nur in einverleibtem Zustand lebendig bleiben kann.“ (Pierre Bourdieu, 1999[i])

 

 

Nichts erscheint so schwierig wie die Psychotherapie mit Menschen aus anderen Kulturen, deren Grundmuster für soziale Organisation, Krankheitsbegriffe oder Heilverläufe, von der Sprache ganz abgesehen, unbekannt sind und in den meisten Fällen bleiben. Zugleich kann es ein Person stärken, wenn sie mit Phantasien, Assoziationen und Transformationen eine unbekannte Kultur zu erfassen versucht.

Wenn man als Therapeut Zwänge vermeiden will, steht man zu Beginn ziemlich nackt da. Klassifikationen, Diagnosen, Methodiken und routinierte Settings setzen sich leicht dem Verdacht aus, Unterordnung zu fordern und Zwang[ii] auszuüben, hinter denen positive Impulse der Hilfestellung und wohlmeinender Absichten verblassen können.

Im Folgenden werden aus praktischer Tätigkeit, Erfahrung und Reflexion einige Essentials destilliert, die zu beachten sich im Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen und Asylbegehrenden bewährt haben. Sie sind sehr allgemein formuliert und bilden eher einen Rahmen für Begegnung als konkrete Therapiehinweise. Wer Rezepte in diesem unbekannten und undurchsichtigen Terrain wünscht, der wird wohl enttäuscht sein. Ich betrachte den kurzen Text als Anregung für eigene Beobachtungen.

Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob die in unserer Kultur entwickelten Auffassungen von Krankheit, Psyche und Therapie überhaupt kompatibel sind mit differenten kulturellen Auffassungen von Gegenständen der Erkenntnis und Prozessen, bei denen man nicht einmal sicher sein kann, ob man dieselben meint. Solche Unsicherheit könnte rasch dazu verführen, sich als Therapeut von vielem zu verabschieden, was seinen Fundus stützte. Er könnte geneigt sein, eine gänzlich neue, z.B. hybride Methodik des Umgangs mit psychischen Verwerfungen bei „Fremden“ zu fordern, die nach traumatischen Erlebnissen wie Folter, Krieg, sexualisierte Gewalt u.a. andauern. Aber das wäre wohl eine Überforderung für alle Therapeuten, die sich mit einer Schulmeinung identifiziert haben. Es dauert im Allgemeinen sehr lange, bis sich hybride Ansätze (d.h. einer Mixtur aus zwei Kulturen) anwenden lassen. Wenn es sich bei den Traumatisierten um Menschen handelt, die dauerhaft ein Lebens- und Bleiberecht in Europa anstreben, dann kann man den integrationsfördernden Anteil von therapeutischen Methoden und Kommunikationsstil nicht ohne weiteres zugunsten hybrider Methoden aufgeben. In therapeutischen Methoden steckt, wenn sie nicht abwegig sind und am Ende in Konstanz in eine Sackgasse führen, das Denk-, Begriffs- und Erfahrungssystem des Therapeuten, das kennenzulernen und zu erfassen eine gewiss zusätzliche, aber lohnende Anstrengung für die traumatisierte Person darstellt. Hybride Anteile – zumeist aus Unsicherheit und Halbwissen - tragen die Kommunikation zwischen Therapeut und Klient ohnehin. Damit zumindest einer von beiden stabil bleibt (außer dem Dolmetscher), muss er sich seiner Kenntnisse und Fähigkeiten sicher sein und sie anwendend überprüfen.

Die nachfolgenden Essentials richten sich an Behandler, Betreuer und Unterstützer von traumatisierten Flüchtlingen. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie wollen aber die zahlreichen Aktivist(inn)en, die aus teilweise positiven Motiven zu Handlungen drängen, ermuntern, behutsam an ihre Mitmenschen heranzutreten und ihre Einsichten mit Bescheidenheit zu überdenken.

Die Literatur hat trotz etlicher Bemühungen noch keinen Kanon über Merkmale der interkulturellen Psychotherapie bei traumatisierten Personen aufgestellt, nicht einmal über die Bedeutung von Psyche in den verschiedenen Kulturen herrscht Einigkeit. Bislang besteht eine gewisse Übereinstimmung darüber,

 

1)

 dass psychisch abweichende Erlebnisreaktionen und Verhaltensabweichungen von einer selbstdefinierten Norm in allen Kulturen vorkommen,

2)

 dass alle Kulturen Abwehrmechanismen gegen langwierige posttraumatische Störungen zur Verfügung stellen, die zumeist eine adäquate Reaktion auf andauernde Stressoren erlauben,

3)

dass diese Abwehrmechanismen versagen können,

4)

dass gesellschaftlich geforderte Anpassungen an fremde Kulturnormen zu eigenständigen psychischen Erkrankungen oder zu pathogenen Einflüssen führen können, weil und wenn sie als Zwang erlebt werden.

5)

dass die herrschende Psychologie und Psychiatrie sehr wenig zu diesen Prozessen weiß, jedoch viel spekuliert und noch keine tragfähige Systematik hervorgebracht hat,

6)

dass ein Dilemma darin besteht, dass es sich bei interkultureller Psychotherapie um ein "westliches" Anliegen handelt, das die Beurteilungs- und Bewertungsmaßstäbe aus seiner Tradition bezieht und in latenter Gefahr ist, die in dieser Tradition enthaltenen Ausgrenzungs- und Strafmuster zu reproduzieren oder zu verfeinern, indem auf Prinzipien bestanden wird, die für Fremde hohe und zuweilen unüberwindbare Hürden darstellen,

7)

dass sprachvermittelte (verdolmetschte) Psychotherapien neue Kompetenzbeschreibungen von Therapeuten und Kotherapeuten (Dolmetschern) erfordern.

8)

 dass zusätzlich neben die individuelle Selbstreflexion des Therapeuten die Reflexion der Rolle von (eigener) Kultur treten muss. Dies ist die bürgerliche Kultur, nach Bourdieu die einzige, die Orientierung und subjektive Sicherheit verspricht.

 

9)

Interkulturelle Psychotherapie will und kann nicht die Differenz zwischen Kulturen aufheben. Sie anerkennt die Andersartigkeit des Klienten, seiner Symbole und ihrer Bedeutungen, seiner Konfliktlösungsstrategien, usw., wenngleich mit diesem „othering“ die Gefahr der Bildung kultureller Hierarchien verbunden ist und damit unbewusste Machtäußerungen befestigt werden, die dann in den therapeutischen Prozess einfließen. Interkulturelle Psychotherapie kann grundsätzlich ohne Machtäußerungen nicht konstruiert werden. Dies gilt in besonderem Maße für die institutionalisierte Therapie mit ihren zahlreichen bürokratischen Elementen.

10)

Da sich interkulturelle Psychotherapie zwischen Individuen abspielt, will sie ergänzend die Stellung des psychisch kranken Individuums in seiner Kultur verstehend in therapeutischen Prozess einbeziehen und betrachtet dies als einen Ausgleich zur strukturellen Ungleichheit, weil beide Partner voneinander lernen müssen.

11)

Interkulturelle Psychotherapie folgt keiner Theorie, sondern ist in diesem Land eine prozessuale Praxis der Kommunikation unter Ungleichen mit dem Ziel, das Leiden des einen zu lindern und das Wissen des anderen zu vermehren. Ein Misserfolg schadet dem einen, kann aber dem anderen nutzen.

12)

Bei der leidigen Debatte um Leitkulturen (Deutschland, Dänemark, Holland u.a.) geht es im Kern um den Umgang mit machtarmen Minderheiten, denen die Rechte von anerkannten Minderheiten z.B. in Deutschland (Sorben, Friesen, Dänen) vorenthalten werden. Selbst Szinti und Roma genießen weder diese Rechte noch wird ihnen ein umfassendes Schutzverhalten zuteil. Das (Ausländer)Recht selbst konstruiert schützenswerte Minderheiten und verachtet oder verurteilt die Differenz, bevorzugt Homogenität. Wegen seiner normativen Kraft und seiner Durchsetzungsinstrumente ist es am Entstehen von psychisch abweichenden Verhalten (nolens volens?) beteiligt, da es den Genuss der humanitären Grundrechte in einigen Feldern auf das "nackte Leben" (Agamben, 2001) beschränkt.

13)

Weil es keine eindeutige Methodik in der Therapie von neurotischem oder psychotischen Verhalten im interkulturellen Dialog gibt, wird zumeist nach dem Muster von Malinowskis "teilnehmender Beobachtung" verfahren, mit allen Gefährdungen der Überidentifikation, des "going native" oder gar folkloristischer Entfremdung und Verallgemeinerung.

14)

 Es erscheint mit Sicherheit für einen „westlichen“ Therapeuten erforderlich, immer zuerst zu erfassen, was für den Anderen Leid und Leiden bedeutet. Zugleich wird er einsehen, dass er mit der Systematik der posttraumatischen Belastungsstörung nicht weit kommt. Wenn er überhaupt eine Störung registriert, zu der ihn die Aufgbe seiner Trägheit verleitet, dann hält er oft nur den Weg zu den Pharmaka offen.

 

Dies sind nicht alle und vielleicht nicht einmal die bedeutendsten Essentials, und auch sie werden kontrovers behandelt. Niemand ist gehindert, andere oder bessere Argumente hinzuzufügen. Aber sie drücken eine gewisse Bereitschaft aus, sprechende und zugewandte Handlungsfähigkeit zu zeigen, denn bislang sind die psychischen Störungen von Menschen aus anderen Kulturen (Flüchtlinge, Asylsuchende, Migranten im Unterschied zu Diplomaten) am unteren und oft verachteten Ende des Gesundheitssystems angesiedelt, das aus vielfachem Unverständnis für diese Menschen und wegen einer Ökonomie der Effizienz ganz überwiegend die psychopharmakologische Behandlung bereithält.

Es handelt sich folglich beim Versuch einer Entwicklung von interkultureller Psychotherapie (aus Mangel an Konzepten ) um eine pragmatische Annäherung, die sich im Erkenntnisprozess des Fremden ihrer Macht bewusst wird und sie zu zähmen sich bemühen wird, denn der Begegnungsprozess startet asymmetrisch und bleibt es im Allgemeinen. Das Fremde ist in allererster Linie ein Mensch, aber es wird gern unbestimmt als Neutrum formuliert (wie das Dunkle oder das Geheimnisvolle), weil man sich dadurch gegenüber „das Fremde“ eher distanzieren kann. Jedoch durch Vergleichsverfahren disqualifiziert man oft das Fremde. Es würde sonst eine Abwendung von sich selbst bedeuten, wenn das Fremde nicht durch eine Distanz hierarchisch gegliedert und kompensatorisch durch Macht und Autosuggestion Überlegenheitsgefühle provozieren würde. Zugleich anerkennt man, dass man das Fremde in sich aufsuchen sollte, nicht nur im Rahmen therapeutischer Bemühungen. Als Neutrum gehört es zu jedem, weil jeder dem Anderen formal fremd ist. Ob das „Fremde“ und Unverstandene, wie es ein Dogma festlegt, im Kern die entscheidenden Auslöser für elementare Ängste  sind (oder nur externalisierte Projektion), sollte präzisiert und relativiert werden. Forscher setzen sich ja freiwillig dem Fremden und Unverstandenen aus. Alle Übrigen wären permanent durch Ängste gepeinigt, weil sie mit Unverstandenem konfrontiert sind. Es wäre zumindest logisch kompliziert, wenn das Fremde und das Unverstandene zugleich Bestandteile aller Menschen sind. Aus dieser Paradoxie muss man in der Praxis erst einmal herausfinden; man hätte dann ja vor sich selber Angst.

Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass nur mit der Zustimmung des fremden Menschen und zu dessen Vorteil  der fremde Mensch Gegenstand von Wissensvermehrungsabsichten werden kann. Wer solche Absichten nicht hegt, vielleicht weil er nicht dem Glauben an Objektivität oder interesselose Forschung verfallen ist, sollte seiner Natur, seiner Menschlichkeit vertrauen. Da stellt sich mit Wohlwollen das Wissen von allein ein. Solch ein Wissen braucht als Voraussetzung keine wissenschaftliche Neugier, sondern orientiert sich darauf, die fremden Vorstellungen und Prägungen von Räumen, Zeiten und sozialen Rollen wahrzunehmen, zu akzeptieren und sich im Kommunikationskontakt kritisch der eigenen Vorstellungen und Herrschaftsimpulse bewusst zu werden. In der Psychoanalyse wäre dies „Arbeit mit und an Gegenübertragungen“.

 



[i] Pierre Bourdieu (1999) Sozialer Sinn. 3.Aufl.. Frankfurt/M.: Suhrkamp. S. 135.

[ii] Das Konzept der Evolution sieht im wirksamen Kern Zwangsläufigkeiten vor; man wird sich folglich vorgängig mit strukturellen Zwängen befassen müssen, die auch das eigene Leben betreffen. Man muss aber das „Zwangssystem“ der Evolution nicht durch Selbstoptimierung anerkennen, adeln und zu beschleunigen suchen, weil man ja noch gar nicht weiß, wohin der evolutionäre Prozess driftet. Arbeitsprozesse geraten zu evolutionsfördernden gesteuerten Abläufen mit natürlichem Charakter. Wer das glaubt, glaubt auch, dass die Titanic nur ein Schiff war.