von Sepp Graessner                        

 

           Wir sind Zeugen einer symbolischen Revolution, die sich mit den Begriffen „Trauma, PTBS, traumatisches Gedächtnis und therapeutische Angebote für Traumatisierte“ verbindet. Es wird der Eindruck erweckt, traumatische Erlebnisse würden das Leben von Traumatisierten vergiften, wenn sie nicht in therapeutischen Settings kommuniziert und damit entschärft würden. Es stellt sich hier die Frage, wie lange das Leiden an der traumatischen Erinnerung andauern kann und darf, ob also Prognosen über den Verlauf posttraumatischer Symptomatik nach bisheriger Erfahrung abgegeben werden dürften, die zumindest Reste von Hoffnung zulassen und Resignation und Regression vorbeugen.

          In einem Grußwort anlässlich eines Symposiums in Hamburg, das sich mit Staatsterrorismus und psychosozialer Gesundheit in Südamerika befasste, hatte 1989 Adriaan van Es [1] darauf hingewiesen, dass die Diagnose PTBS deshalb als unzureichend betrachtet werden müsste, weil sie die Fortdauer des inneren Terrors hinter der Vorsilbe „post“ verstecke. Vielmehr sei, z.B. in Südafrika, von einem CTSD, einem „Continuing Trauma“ zu sprechen, wie Lloyd Vogelman [2] vorschlug. Van Es bezog sich auf die Leidtragenden des Apartheidsystems in Südafrika, und er forderte in seinem Statement dazu auf, dafür Sorge zu tragen, dass Verfolgte und Misshandelte aus politischen Kontexten in ihren Heimatländern behandelt werden sollten und spezifische Wege der Behandlung gefunden werden müssten, die den Anforderungen und Vorgaben der regionalen Kulturen entsprechen. Über 25 Jahre sind seither vergangen, und die verzweigten, nicht selten utilitaristischen Entwicklungen des Traumadiskurses haben Fragen aufgeworfen. An einige Antworten habe ich mich als Skeptiker in meinen Gedankensplittern genähert, als Bilanz meiner praktischen Tätigkeit.

 

 

       Wenn man der Äußerung van Es’ folgt, können Mut und Hoffnung vergehen, denn die Bedeutung des „Continuing Trauma“ sieht eine Linderung und strukturelle Verbesserung nicht vor oder legt sich nicht fest; vielmehr verallgemeinere dieses Verständnis jene Fälle, die unter dauerhafter Symptomatik litten und übertrage sie auf alle Menschen, die einem extremen Trauma ausgesetzt waren. Der traumatische Einschlag finde somit bei allen Betroffenen keinen Abschluss und führe ein Eigenleben mit einem autogenerierenden Mechanismus. Erinnerung ans Trauma und posttraumatische Symptome seien nur in inniger Verbindung zu denken (vom Therapeuten) und zu fühlen (vom Traumatisierten). Das Hauptsymptom eines demütigenden Traumas wäre demnach die bewusst oder unbewusst generierte Erinnerung, was Allan Young schon zu Beginn der 1990er Jahre erkannte. Wenn  aber mit „continuing“ der prozesshafte Charakter posttraumatischen Befindens gemeint ist, dann können wir leichter folgen, weil jeder Prozess irgendwann ein Ende hat oder zumindest durch kommunikative Interventionen abzukürzen ist. Die Vorstellung gleichsam toxischer Erlebnisse, deren Toxizität nicht abnimmt oder von Zeit zu Zeit heftig aufwallt, ist nicht haltbar, wenn man die Mehrheit traumatisierter Menschen betrachtet, die offenbar ihr persönliches „Antitoxin“ (mit Hilfe Dritter) gefunden haben, auch wenn man nicht sicher sagen kann, wie sie das angestellt haben. Denn die Entwicklung einer psychischen Biographie (im Unterschied zur formalen, Ereignis gestützten) enthält so viele Ressourcen, Variablen und verarbeitete Sinneseindrücke, dass man nicht prognostizieren kann, wann eine sauber diagnostizierte psychosoziale Störung einer extrem traumatisierten Person persistiert, abklingt oder in Vergessenheit sedimentiert. Diese vielfältigen und unterschiedlich gewichteten Kraftfelder lassen sich in keiner Statistik anführen, weil man in Statistiken Subjektivität und Dynamik nicht berechenbar darstellen kann. Wer sich trotz traumatischer Erlebnisse nicht krank fühlt, taucht in keiner Befragung oder Statistik auf. Selbst wenn man in quantitativer Weise biographische Risikofaktoren bewerten könnte, ist eine Prognose wegen der kommunikativen Einflüsse  aus der posttraumatischen Umgebungsgesellschaft Illusion.

 

Es sind hier zwei Ansichten aufeinander geprallt, die schwerlich beide richtig sein können. Die eine behauptet, extreme Traumata beeinflussten nachhaltig und dauerhaft das posttraumatische Leben. Es ist eine Ansicht aus der Frühphase der klinischen Diagnostik nach dem DSM, die große Wirkung bei jenen hinterlassen hat, die sich professionell um Traumatisierte kümmern wollten. Die andere Betrachtung legt Wert darauf, dass die Symptomatik allmählich abblasse, dass die Symptomatik und der Erinnerungsvorgang ans traumatische Ereignis nach und nach entkoppelt würden. Zeitprognosen lassen sich nur in sehr groben Umrissen angeben. Allerdings gäbe es eher selten anzutreffende Personen, die im Käfig der Traumaerinnerung gefangen blieben, vereinzelt auch nach sehr langer Latenz, die aber wohl von sozialen, kommunikativen Dispositionen, die aber nicht bewusst sein müssen, unterbrochen wird. Wenn es nicht die Erfahrung von  und Chance auf  Symptombesserung gäbe, bräuchte man keine therapeutischen Bemühungen. Therapie verfolgt Zwecke und ist nicht l’art pour l’art.

Die Diagnose PTBS muss gemäß meiner Erfahrung aus ihrer dauerhaft lebensbegleitenden und überhöhten, ja mystifizierenden Schichicksalshaftigkeit, aus einer Verurteilung zu lebenslanger Störung des Befindens und Verhaltens befreit werden. Jede pathetische Herangehensweise ist hier schädlich, weil sie die ohnehin eingeschränkten Handlungsoptionen der traumatisierten Person durch Biologisierung/Naturalisierung noch weiter einengt. Hinter diesem Ansatz steht die Auffassung, dass alles Negative, das Menschen erleben, das zukünftige Leben geradezu determinierend beeinflusst.  Freiheit bestünde danach immer nur aus den Spuren spezifischer Erlebnisse. Leider scheint es so zu sein. Posttraumatisches Wachstum der Persönlichkeit wäre folglich nicht erreichbar, und Verdrängung und Verleugnung wären nichts als Ungeheuer, die zu unerwünschten Anlässen ihren Tribut fordern. Wie gesagt, über 25 Jahre sind seit dieser Auffassung aus der Frühphase der heutigen Psychotraumatologie vergangen, und sie haben gezeigt, dass die Gefangenschaft in der traumatischen Erinnerung nicht für alle Betroffenen, nicht einmal für eine Mehrheit, zutrifft, sondern je nach Ursache des Traumas selten 15% der Betroffenen übersteigt. Man wird folglich von Generalisierungen Abstand nehmen müssen und den Einzelfall prüfen, wenn man eine Normierung psychischer Prozesse vermeiden will. Verallgemeinerungen von dramatischen Einzelfällen werden stets von Ängsten hervorgetrieben, sie können aber nicht die Strukturen offen legen, mit denen, individuell unterschiedlich, äußere Realität in innere verwandelt wird. Dieser Prozess unterliegt Strukturen, die physiologische Mechanismen (Sinneswahrnehmungen und deren neuronale Verarbeitung) zur Grundlage haben, und das hat mit verallgemeinernden Meinungen, die Ausdruck von Ängsten und getrübten Blicken sind, nichts zu tun. Nur Denkfaule ordnen die Welt wegen ihrer Gefährlichkeit mit dramatischen Verallgemeinerungen, und diese machen die Welt noch gefährlicher – eine zirkulär Angst produzierende Betrachtung.

 

Nun sagen die Befürworter von PTBS, die Skeptiker hätten noch keine empirischen Belege dafür geliefert, dass die Symptomatik nach extremen Traumata tatsächlich im Verlauf der weiteren Lebenszeit vergehe oder verblasse, womit einem Diktum von Eysenck widersprochen werde („Psychotherapie nütze so viel, wie die Zeit, die vergeht“). Es handelt sich um einen problematischen Anwurf, beinhaltet er doch implizit, wer das posttraumatische Abblassen nachzuweisen versuche, mache sich möglicherweise unterlassener Hilfeleistung schuldig, ihm ginge Empathie ab, er betrete eine ethische Tabuzone, wenn er über lange Zeitspannen den Verlauf der Symptome der posttraumatischen Störungen bei einer leidenden Person beobachten wolle, ohne Stützung und Schutz anzubieten. Chronische posttraumatische Symptome einer Störung des Wohl- und Sozialbefindens setzen erkennbar und definitionsgemäß erst nach sechs Wochen nach einem extrem traumatischen Ereignis ein, wenn sie nicht den Weg über das akute Syndrom wählen. In der Zeit unmittelbar nach einem traumatischen Ereignis, so die offiziell angewandte Diagnose, würde der Ausbruch der vollen Symptomatik in der Beziehung zwischen Körper und Psyche intrapsychisch vorbereitet, bevor sie, zumeist durch innere Wiederholungserfahrungen, in subjektives Leiden münde.

            Grundsätzlich muss man davon ausgehen, dass die sich zeigenden Symptome eigentlich eine „normale“, d.h. angemessene und nachvollziehbare Reaktion auf ein Ereignis sei, das die Sinne, die Psyche und das soziale Vorverständnis überwältige.  Warum aber Zeitrahmen für „normale“ Reaktionen aufgestellt werden, bei deren Überschreitung die Psychopathologie die Regie übernimmt, ist freilich genauso wenig empirisch nachzuweisen, wenn man die zahllosen Statistiken auf den Einzelfall übertragen will. Die zeitliche Differenzierung zwischen akut und chronisch, d.h. zwischen akutem Erschrecken und „chronischer“ Schreckhaftigkeit, ist eindeutig willkürlich, weil sie die so genannte chronische Variante als eindeutig von einem traumatischen Erlebnis verursacht darstellt.

Auch bei der PTBS finden wir „Spontanheilungen“ (Spontanlinderungen), wir finden ferner durch therapeutische Interventionen verkürzte Heilprozesse und wir finden Rezidive und kaum unbeeinflussbare, d.h. neurotisch fixierte, und aggravierte Verläufe, wenn man den Studien von Kessler et al. (1995) [3] glauben darf. Insgesamt darf man sagen, dass die einschlägigen Publikationen sich scheuen, die Dauer der störenden Symptome nach extremer Traumatisierung anzugeben oder auch nur einzugrenzen.

 

Legt man nun die Hilfskonstruktion eines Energiemodells zugrunde, dann kann, von spezifischen Begehren (Invalidität, Entschädigungen) abgesehen, die energetische Wucht des primären Einschlags (oder wiederholter Einschläge) im Laufe der Zeit nur abnehmen, weil ihre ursprüngliche Beschaffenheit vielfältig umgewandelt wird, denn die menschliche Psyche beschäftigt sich posttraumatisch mit etlichen anderen Aufgaben und Funktionen und nicht eindimensional allein mit dem traumatischen Geschehen. Sie beschäftigt sich mit den Bedingungen des Lebens. Unter energetischen Gesichtspunkten gibt es keinen Raum des Lebens (im betroffenen Körper), in dem Traumata in unveränderter Form  abgelagert werden. Wenn das traumatische Gedächtnis von dort das Leben mit all seinen Anforderungen beeinflusst, büßt es Energie ein. Es tritt in einen Wettstreit mit anderen Energien, die aus so genannten Ressourcen (positiven, Selbstbewusstsein bildenden Erfahrungen), Überlebensstrategien und umorientierenden Ablenkungen der Aufmerksamkeit und des Interesses bestehen.         

       Wem das für einen psychischen Prozess zu mechanistisch erscheint, der sei daran erinnert, dass Begriffe psychischer Reaktionen auf extreme Ereignisse im Fach- und Laienverständnis immer schon durch Analogien zur physischen Traumatisierung gebildet wurden[4]. Wenn das Modell energetischer Abschwächung sich als unzureichend erweist, weil durch bestimmte verbale Trigger und andere situative Wahrnehmungen der „Akku“ der Erinnerung wieder aufgeladen wird, dann kommen ergänzend noch die komplexen Verwandlungen äußerer Realität in Symptome von anderen Störungen als Komorbidität in Betracht, die sowohl beim posttraumatischen Syndrom als auch bei einer Reihe anderer psychischer Störungen prä- und posttraumatisch auftreten können.

 

Wir können also zusammenfassen, dass eine halbwegs sichere Prognose über die Dauer einer (oftmals unterschiedlich verlaufenden) posttraumatischen Symptomatik nicht zu erreichen ist. Spekulative Prognosen von Gutachtern muss man als Astrologie entschieden ablehnen. Sie schaden jedem wissenschaftlichen Anspruch, weil halbwegs zuverlässige Prognosen nur aus Beobachtungen über längere Zeiträume mit kritischer Distanz zur eigenen Erkenntnisfähigkeit zu stellen sind. Beobachtungen sind in diesem Feld der Königsweg, denn auch schrittweise Verbesserungen des Befindens werden in aller Regel durch Beobachtungen registriert, z.B. der Klient blickt seinen Therapeuten an, sein sozialer Rückzug verliert seinen Charakter, wenn er in einen Verein geht, seine Gedanken werden neuerdings geordnet formuliert, seine Schenkel hören auf zu vibrieren usw. Das heißt, da sich innere Prozesse nur schwer in Laborparametern ausdrücken lassen, wird ein Therapeut auf soziale und körperliche Signale verwiesen, wenn er Entwicklungsschritte bewerten will. Das ist nur möglich durch Beobachtungen über lange Zeiträume. Hier unterscheiden sich Therapeuten von Gutachtern, die meinen, mit Erfahrung ausgleichen zu können, was ihnen an Zeit fehlt, wenn sie Prognosen abgeben. Ein Therapeut konfrontiert sich im Allgemeinen mit wesentlich mehr Variablen als ein Gutachter. Er wird zum Zeugen eines Prozesses und nicht eines Moments.

Allerdings können Rückschlüsse aus Beobachtungen auch fehlschlagen. Für solche Fehlschläge ist nach allgemeiner Ansicht der Klient verantwortlich, nicht jedoch das fachliche und psychische Gerüst des Gutachters, hinter dem Beobachtungen in Urteile verwandelt werden. Dieses Erkenntnisgerüst (und das ist mehr als eine Metapher, denn als Gerüst stabilisiert es nicht nur sich selbst, sondern auch die Persönlichkeit eines Menschen, der es benutzt) legitimiert sich durch Verweise auf diese oder jene Wissenschaft. Das Gerüst soll auch weiterhin halten, das ist die Funktion des Gerüsts. Deshalb ist eine dynamische Praxis auf der Basis dynamischer Prozesse schädlich für das Gerüst. Die menschliche Treue  (nicht nur) von Experten zu einer erlernten, d.h. verinerlichten Methode, die von außen als Standard durch Krankenkassen und Berufsverbände kontrolliert wird, beweist dies, wenn auch Methoden zuweilen performativ modifiziert werden. Gute Therapeuten sind sich darüber im Klaren, dass dieses komplexe Gerüst (aus Denkstrukturen, biographischen Eindrücken und deren Bearbeitung sowie aus Wünschen und Interessen einer Gesellschaft), ihre Urteile komponiert, und sie wissen, sie haben sich nicht dieses komplexe System ausgesucht. Vielmehr hat das System sie gewählt und präpariert. Jede Lebendigkeit hat damit ihre von Menschen gemachten Grenzen.

 

Solche Erkenntnisprobleme und -beschränkungen leiten über zu den folgenden Zeilen.

 

Psychotrauma ist ein Begriff, der aus nahe liegenden Gründen weder die Welt insgesamt noch die individuell und kollektiv geformte Welt in bedeutsamen Aspekten erklären kann, sondern es beschreibt in populären oder wissenschaftlichen  Darstellungen allein die Folgen des gewalttätigen Wirkens dieser Welt. Solche Beschreibungen verlagern die symptomatischen Folgen von Traumata in den nicht sichtbaren Bereich, wo der Begriff und seine menschliche Ausformung zu allerlei Spekulationen Anlass geben[5]. Die moderne Einführung des Psychotraumas stellt folglich Welt und Individuum in ein Verhältnis zueinander und hofft, durch die Beschreibung der Folgen der Weltwirkung im Individuum ein wesentliches  Weltprinzip (Gewalt, Grausamkeit, Macht, Herrschaft[6]) plausibel zu machen, zu erklären oder zu versuchen, sich einer Erklärung zu nähern. Außerdem beabsichtigt sie, therapeutische Handlungsfähigkeit zu beweisen und Veränderung der posttraumatischen Symptomatik allein durch Experten zu bewirken. Insgesamt ist man darauf angewiesen, die Traumaopfer zu fokussieren, weil Machthaber, Täter, Gewaltausübende kaum für Motivforschungen zur Verfügung stehen. Ist schon mal ein Politiker, der junge Menschen in einen Angriffskrieg geschickt hat, nach seinen eigenen Traumatisierungen, die eine Hemmschwelle eingerissen haben könnten, gefragt worden? Es ist in posttraumatischen Situationen wie beim Phantomschmerz: das schmerzende Bein ist amputiert und schmerzt anfallsweise wie zuvor, als ob es noch dran wäre. Mit dem Phänomen des Phantomschmerzes können wir ein traumatisches Gedächtnis vergleichen, wenn gleichsam traumatische Erinnerungen spontan zu Schmerzen und Re-Inszenierungen des Terrors führen. Dieser Sachverhalt verweist stets auf die Opfer traumatischer Erlebnisse. Nur sie können untersucht werden, wenn sie leiden. Dieses Vorgehen verkürzt zwangsläufig einen komplexen Kontext, weil die Macht oder Gewalt, die traumatische Erlebnisse verursacht, sich einem Erkenntnisgewinn verweigert. Wollte die Macht Gründe und Hintergründe erkennen, verlöre sie den Status und die strukturelle Kraft, Traumata zuzufügen.

 

 

Der Begriff Psychotrauma, wenn man die Erfolgsstory dieses Begriffs zugrunde legt, ist geprägt durch eine symbolische Aufladung, mit der Begegnungen mit leidenden Personen begründet, mit der Einflussnahme und Veränderung legitimiert werden und implizit auf ein traumafreies Leben als Utopie [7] Bezug genommen wird, weil Traumata durch einen Bedeutungswandel, der von der Zunft psychiatrischer Therapeuten ausging, im Bereich der individuellen Diagnostik und Heilung (oder Linderung) und psychotherapeutischer Aktivitäten angesiedelt wurde.

 

            Insofern hat das prozesshafte Geschehen eines Psychotraumas eine symbolische Revolution ermöglicht, indem ein Name und eine Diagnose zur Kennzeichnung eines Prozesses eingeführt wurden [8].

 

Wie bei allen Revolutionen schleifen sich zentrale Inhalte in der Folge von Popularisierungen  ab, werden verallgemeinert, banalisiert, entfernen sich von der Ursprungsintention oder werden bis zur Unkenntlichkeit verändert. Bei einem großen Teil der Menschen (Traumatisierte, Experten) löste diese symbolische Revolution zu Beginn Euphorie aus, die durch eine mehr oder weniger bewusste Heilsbotschaft verursacht wurde. In Verbindung mit Rechten (allgemeinen Menschenrechten, Recht auf Unversehrtheit und psychosoziale Gesundheit) setzte der Diskurs vom (Psycho)Trauma in Nordamerika und Europa nachvollziehbar Anstrengungen in Gang, mit denen tiefere Einsichten über die schädigende Wirkung von Macht und Gewalt (aber nur ungesetzliche) gewonnen werden sollten. Zugleich hoffte man, die Ursachen für Psychotraumata (Kriege, häusliche Gewalt, aber auch hegemoniales Streben, Dominanz, Konkurrenz und Wettstreit) zurückdrängen zu können.

Was aber nenne ich eine symbolische Revolution? Zunächst ist es ein Paradigmenwechsel, wenn neue oder neu polierte Begriffe in verschiedene wissenschaftliche Disziplinen eindringen und dort neue Betrachtungen von den existenziellen Bedingungen des Menschen hervorrufen. Keineswegs sind mit „symbolischer Revolution“ gravierende Veränderungen der gesellschaftlichen oder der Produktionsverhältnisse gemeint. Symbolische Revolution bedeutet hier, dass ein Phänomen, das schon immer in der Welt war (Bedrückung, schmerzhafte Verluste, Demütigungen, Emotionen, Affekte usw.) in zeichenhafter und sinnbildlicher Weise einer Umwälzung im Verständnis unterzogen, in neue Kontexte eingerückt und zugleich eine qualitative Aufwertung angedeutet wurde. Unter Zeichen oder Merkmale sind Deskriptionen (auch ästhetische), die systematisierenden Klassifikationen mit speziellen Begriffen und in einer klinischen Fachsprache zu verstehen, welche die bis dahin üblichen Begriffe über die Wirkung von äußerer Realität auf psychische Prozesse ersetzte. Zugleich wurde behauptet, es sei eine neue Betrachtung von Unglück, Katastrophe und deren krank machenden Wirkungen entstanden (was man aber schon seit Jahrtausenden als Teil der Religionen wusste). Indem Zeichen und Begriffe in einen Zusammenhang gerückt werden, die ihnen eine neue, scheinbar unbekannte  Bedeutung gibt, wird zugleich ermöglicht, dass das Resultat dieser symbolischen Revolution in einen wissenschaftlichen Kontext Eingang findet, in dem – wie in einer Raffinerie – eine Aufspaltung und Verfeinerung stattfindet. Unterschiedliche Disziplinen können sich nun an der raffinierten Aufspaltung abarbeiten und in einen Wettstreit um die Definitionshoheit treten. Das Neue ist folglich, dass reaktive Empfindungen auf verletzende Erlebnisse in einen psychomedizinischen Kontext mit monopolistischen Ansprüchen gerückt werden. Säkulare Verfassungen verschieben die Seelsorge in die Psychotherapie.

Die Verletzung von Persönlichkeitsmerkmalen und –rechten wird in all jenen Kulturen zum Psychotrauma, in denen Psyche und Körper und Gesellschaft in drei unterschiedliche Entitäten aufgespalten sind. Verbrechen wie Vergewaltigung, Misshandlung und Folter oder Vergehen wie Beleidigung, Kränkung und die Ausbeutung asymmetrischer Beziehungen werden durch die individuell wahrgenommenen Folgen zum Psychotrauma. Zuständig für die Diagnostik und Therapie der Folgephänomene sind Psychiatrie und Psychotherapeuten. Zwar ist inzwischen unstrittig, dass jede psychische Erregung mit physischen Begleitreaktionen innig verbunden ist. (Es gibt keine Angstempfindungen ohne Herzklopfen, Schwitzen usw.). Bei traumatischen Erlebnissen scheint aber im allgemeinen Verständnis und schwerpunktmäßig nur die Psyche betroffen zu sein.

Die moderne Auffassung der Psyche ist vom jüdisch-christlichen Verständnis der Seele abgeleitet, die als (unsterbliches) Kommunikationsmedium mit dem unsichtbaren Höheren (Gott) fungiert. Psyche und Psychotrauma gestatten somit stets eine Beziehung von Experten und Traumatisierten zum Unsichtbaren und (noch) Unerklärlichen, die sich experimentell und empirisch, wie man wünscht, irgendwann aufklären lässt. Beim Psychotrauma handelt es sich um ein Konstrukt aus Erfahrung, Vorstellung, Analogien, Metaphern, Annäherung an Erklärungen, die durch ihre Verwissenschaftlichung den unsichtbaren und verborgenen Bereich verlassen wollen, den sie bis dahin mit der Religion und dem Glauben teilten.

Ob nun körperliche oder psychische Traumata betrachtet werden, sie verweisen nicht auf eine präzise Ursache wie eine Infektion mit einem spezifischen Keim, sondern sie lassen sich zusammenfassen als vielfältiger gewalttätiger Machtausfluss, der sich in vorsätzliche, fahrlässige oder zufällige Gewalthandlungen differenziert. Aus diesem Grunde schleichen sich die angenommenen Ursachen zuweilen an den Traumabegriff heran: Scheidungstrauma, Elfmetertrauma, Kriegstrauma, Erdbebentrauma, Foltertrauma, Geburtstrauma, Verkehrstrauma, Lagertrauma usw.  Der etwa zur gleichen Zeit in der westlichen Welt aufziehende Opferdiskurs benutzt verwandte oder dieselben begrifflichen Zusammensetzungen, die klar und umstandslos Ursache und Wirkung benennen. In diesen Zusammensetzungen herrscht Eindeutigkeit, Widerspruch soll und kann sich nicht regen. Eine reale Beziehung öffnet sich, die in „zweifelsfreier Weise“ Ursache und Folgeverletzung umfasst und verbindet. Über Antriebe, Motive, Fehleinschätzungen und Kontexte muss man dann nicht mehr sprechen: Der Fokus liegt auf dem Opfer und seinen inneren dynamischen Abläufen, und diese werden von Mitleid, Empathie, Fürsorge und Wohltätigkeit ans Licht befördert, wo diese Impulse sich zuweilen in Stiftungen organisieren, wenn sie ihre operativen Geschäfte nicht gerade in Gesellschaften mit beschränkter Haftung vorantreiben. Dabei erhalten Empathie, Fürsorge und Mitleid eine materialistische Konsistenz: Nicht nur das Trauma wird Ware, sondern in gleicher Weise auch die Traumatherapie.

Das vollzieht sich in einem von Experten angetriebenen Prozess, an dessen Ende das Selbstverständliche steht, und daher kann auf eine Analyse verzichtet werden. Nun ist aber das Selbstverständliche sehr schwer zu verstehen, obwohl es sich, wie man so sagt, von selbst versteht. (Wie lange hat es gedauert, bis das „Selbstverständliche“ des fallenden Apfels physikalisch erklärt werden konnte? Da hatte es seit Jahrhunderten bereits eine „selbstverständliche“ Praxis gegeben, indem Äpfel vom Baum geschüttelt wurden.) Das Evidente, das sich von selbst versteht (weil man es schlicht mit eigenen Augen sieht) und sich oft gegen durchdringendes Verstehen sträubt, erzeugt nicht nur vielfältige Praxisweisen. Es bestimmt emotionale und kognitive Betrachtungsformen der Weltgeschehnisse, d.h. auch von Gewalterlebnissen, durch alle Gesellschaftsschichten, die gleichsam postfaktisch [9] nur der emotionalen Selbstbetrachtung gehorchen und den kognitiven Anteil dissoziiert haben, wie bei Angstzuständen, von denen der Volksmund sagt, sie machten dumm.

 

„Psychotrauma“ oder „traumatisch“ als Begriffe nisten sich in menschlicher Kommunikation ein, wo sie an Diversifikation leiden, die sich nach Definitions- und Methodenkämpfen von Experten einstellt. So wird die Gegenwart als Zeitalter des Narzissmus bezeichnet, beklagt und dabei übersehen, dass die Selbstoptimierungsindustrie genau dies fordert, nämlich die Selbstbetrachtung durch die Augen der Anderen. Das war beim mythologischen Narziss noch anders. Es kommt also darauf an, welchen diagnostischen Urteilen man sich anvertraut.  Alain Ehrenberg [10] hat in seinen Bemerkungen zur Veränderung des Religiösen zum Therapeutischen, zur Herrschaft des Therapeutischen und – Lasch und Sennett zitierend – zur weiterhin zunehmenden Bedeutung von egoistischen Umdeutungen des Narzissmus (im Sinne einer Popularisierung) sowie zur Abkehr von gesellschaftlichen Werten, eine grundsätzliche Bewertung vorgenommen. Die Innenwelt des Individuums sei das Höchste, um das wir uns Tag und Nacht kümmern müssen. Gesellschaftliche Realität verdiene nicht dasselbe Interesse. Gesellschaftliche Konstellationen würden zunehmend psychologisiert.

 

Dabei ging die ursprünglich subversive Idee des Traumabegriffs verloren, denn subversiv muss man es nennen, als mit dem Psychotrauma Gewalt in die Psychiatrie als Ursache für psychische Verwerfungen einzog und ein Versprechen abgab, von nun an werde ein neues Verhältnis zur krankmachenden Gewalt, d.h. jeder Gewalt begründet, womit eine Differenzierung in gute oder schlechte oder akzeptable (weil erzieherische) Gewalt, die alle immer mit Demütigungen einhergehen, obsolet wurde. Leidenschaften der Hoffnung verbanden sich mit dem neuen Blick auf äußere Prozesse, die auf eine verletzbare Psyche korrespondierend einwirkten. Äußere Prozesse wurden zuvor formal als Ursache akzeptiert, die unbeeinflussbar erschien. Das wissenschaftliche Interesse richtete sich daher allein auf die individuellen psychischen Folgephänomene von Gewalt. Es kam also zu einer Aufspaltung der wissenschaftlichen Zuständigkeit für Ursachen und Folgen von Traumata, was ein Zug der Zeit ist, der einer Verschleierung von Zusammenhängen diente.  Fürsorge („wir kümmern uns um deine verletzte Psyche“) lenkt in großem Maßstab von der scheinbaren Unveränderlichkeit der gesellschaftlichen Bedingungen von psychischen Verletzungen ab.

So neu war dieser Blick eigentlich nicht. Neu daran war einmal, dass historisierend das Psychotrauma in Babylon, dem Alten Testament oder in literarischen Zeugnissen interpretierend nachgewiesen wurde, was ein Kontinuum von Gewalt und Psychotrauma über Kontinente und Jahrtausende suggerierte. Aber war das neu? Und neu war daran zum anderen, dass man jetzt meinte erklären zu können, wie dieser Mechanismus einer Beziehung von Außenwelt und Innenwelt verläuft. Das weiß man bis heute nicht; gleichwohl hat das Evidente, das man in dieser Beziehung erblickt, viele Praxisformen stimuliert, die sich Rehabilitation, Integration oder Therapie nannten. Das Evidente oder Selbstverständliche muss also nicht im Detail verstanden sein, damit Handlungen evoziert und  legitimiert werden.

Es ist ja eine Tatsache, dass die Beziehung zwischen Gewalt und ihren psychischen Folgen wissenschaftlich schwer zu ergründen ist, weil beide Phänomene sich nicht nur verwirrend komplex (Intentionen, Zwecke, kognitive Potenzen und Emotionen) darstellen. Vielmehr scheint die Fragmentierung der Auf- und Erklärung in unterschiedlichen wissenschaftlichen Feldern auch auf die Erkenntnisprozesse und -resultate abfärbend überzugehen, indem behauptet wird, traumatische Erlebnisse würden nur in fragmentierter Form dem Gedächtnis zugeführt und eingespeist. Im Zentrum dieser Vorstellungen steht ein Dissoziation genannter Abwehrmechanismus, der eine Erkenntnis aus Erfahrung (Evidenz) repräsentiert, hergeleitet aus der physikalischen Chemie, wenn Moleküle z.B. durch Strom aufgespalten werden und die Spaltprodukte zur Kathode oder Anode wandern. Es mag einleuchten, dass negative Eindrücke aus Erlebnissen abgespalten oder vergessen werden. (Ein interessierter und empathischer Mensch kann die unaussprechbaren Anteile und Gefühle als Plausibilitätslücken und Versunkenheit in schmerzlichen Erinnerungen bei einer extrem traumatisierten Person wahrnehmen.) Sie werden  jedoch nicht mit der Gesetzmäßigkeit des physikalisch-chemischen Prozesses auftreten, was die Analogie fragwürdig macht.

Nicht immer und nicht alle negativen extremen Erlebnisse, d.h. unter Lebensbedrohung erlebte, werden erfolgreich abgespalten [11]. Wenn Dissoziation eine innige Beziehung zur Angst hat, ja auf das angstgetrübte Bewusstsein gründet, dann stellt sich Frage, ob Angst wenigstens halbwegs quantifizierbar ist, um das Ausmaß der dissoziierten Anteile bestimmen zu können. Wer sollte das wollen? Vermutlich jene Wissenschaftler, die das Phänomen der Dissoziation nicht im Mystischen lassen wollen. Wir würden in solchen Fällen nur rätseln, uns in Vermutungen verlieren und in Gefahr sein, dissoziierte Anteile von Erlebnissen mit eigenen Bildern in oft suggestiver Weise zu ergänzen. Und bei Forschern findet man eine Neigung, das ungenügende Wissen durch Tabellen, Schaubilder, differenzierende Klassifikationen und neue Begriffe und Metaphern zu verschleiern.

 

In der Praxis wird im Allgemeinen viel Wert darauf gelegt, dem natürlichen Abwehrmechanismus Dissoziation die Anerkennung und Notwendigkeit zu verweigern und sich auf die Suche nach dem Dahinterliegenden zu begeben, Gründe für Dissoziation zu finden und im Dialog zur kreativen Entstehung von spezifischer Erinnerung beizutragen, um Heilung oder Linderung quälender Erinnerungsfragmente zu bewirken. Man könnte dem Gedanken verfallen, hier werde eine natürliche und physiologische Reaktion ins Beet der Pathologie gepflanzt, wie es früher bestimmte Religionen vermochten. Eine traumatisierte Person spaltet ein extremes Ereignis in Details und Gefühlen zum Zweck der Abwehr ab und macht Dissoziation dadurch zum Bestandteil eines diagnostizierten Leidens. Ist das richtig? Könnte diese Auffassung mit einem Anspruch auf Reinheit, wie er Religionen eigen ist, zusammenhängen?

Wenn man den Autoren van der Hart, Nijenhuis & Steele folgt, dann muss man sich mühselig (zumindest in der deutschen Übersetzung: „Das verfolgte Selbst“) zwischen Banalem, Beobachtetem, abstrakt Konstruiertem, Verwirrendem und schlicht Behauptetem bewegen, ohne eine Orientierung zu erlangen [12]. Das, was sie in der Einleitung ihres Buches diagnostizieren, nämlich den vielschichtigen und sehr unterschiedlich akzentuierten Gebrauch des Begriffs „Dissoziation“, wird in den folgenden Ausführungen zu struktureller Dissoziation derart aufgefasert und in Klassifizierungen vernebelt, dass es mich verleitet, zu der primären, sekundären und tertiären strukturellen Dissoziation der Autoren noch der Beeinflussung der tertiären durch die sekundäre als quartäre sowie der primären durch die tertiäre als quintäre eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen, was keinen Fortschritt der Erkenntnis brächte, aber vielleicht eine erfolgreiche Habilitation.

 

 

Wie viel vom reaktiven Traumaprozess haben wir bis heute verstanden? Real ist es wohl wenig, obschon wir den Eindruck erwecken, wir hätten den Mechanismus der verzweigten Wirkweise von traumatischen Einschlägen auf Körper und Psyche verstanden, wobei gern das Trauma der Sozialität vergessen wird. Wer nämlich Check-Listen, screenings, Evaluations- und Fragebögen, Tests, Vorgaben für strukturierte Interviews und Anamnesen und Verlaufsprotokolle entwickelt, gibt zu verstehen, dass er/sie das Phänomen des Traumas und seiner Folgen bereits vollständig durchschaut hat und in souveräner Weise damit umgehen kann. Diese diagnostischen Methoden sind nicht Sonden in unbekanntes Terrain, sondern sie scheinen aus einem umfassenden Verständnis erzeugt, obwohl man sehr wohl zu der Überzeugung gelangen kann, die beschriebenen Folgephänomene nach traumatischen Ereignissen seien lediglich die aus einem Zirkelschluss gewonnene Oberfläche des Problems. (Das Trauma erzeugt Symptome, also verweisen die Symptome in abgefragter Form auf ein altes oder frisches Trauma.) Erstaunlich ist aber dabei, dass in den Therapien so wenig zu den Mechanismen der Verwandlung von Realität in psychische Befindlichkeiten erklärt wird, wenn man einmal von der phänomenologischen Beschreibung der Traumafolgen absieht. Die Beschreibung der Phänomene tritt an die Stelle von Erklärung der psychophysischen Mechanismen. Ein Experte wäre demnach einer, der sich für eine aktive Praxis mit dieser Beschreibung zufrieden gibt und auf Forschungsresultate anderer Experten verweist, wobei eine oder mehrere vorherrschende Gruppierungen sich herausbilden, die sich durch wechselseitige Verweise in Publikationen zitierend konstituieren (z.B. in Konstanz) und damit die Deutungshoheit erlangen wollen.

 

Jeder Diskurs hat seine Zeit. Wird er verdrängt, modifiziert, ergänzt oder tritt in den unbedeutenden Hintergrund, dann wird seine spezielle, jedoch begrenzte Wahrheit nicht ausgelöscht. Aber im gesellschaftlichen Leben, das solche Diskurse als Ausdruck seines Selbstverständnisses hervorbringt, werden dann andere Prioritäten, die selten Fortschritt bedeuten, gesetzt. Eine parallele Nutzung eines älteren Diskurses und des ihn bedrängenden neuen Diskurses kann man nicht ausschließen. So wird auch der Diskurs über „Psychotrauma als Diagnose “, „Traumatherapie“ und „traumatisches Gedächtnis“ Verwandlungen unterliegen, ja, er kann auch unbedeutend werden. Da dieser Traumadiskurs Eingang in den psychomedizinischen Kanon gefunden hat, scheint ihm ein langes Leben gewiss, ein längeres jedenfalls, als es die „weibliche Hysterie“ vermochte, vor allem, weil nun nicht mehr eine bestimmte Gruppe charakterisiert wird, sondern Männer, Frauen und Kinder betroffen sein können. Aber nur die Verankerung im medizinischen Kanon reicht nicht. Es muss durch Popularisierung auch eine Verschmelzung mit Alltagskultur (Traumapop) stattfinden. Gesellschaftliches Selbstbild und konsensbasierte „Notwendigkeiten“, die man als Politik versteht, formten den Traumadiskurs in der westlichen Welt. Solange Gesellschaft als objektive Wirklichkeit von Menschen internalisiert wird, müssen auch die menschliche Grausamkeit und die Gräuel akzeptiert werden, weshalb voraussichtlich der Traumadiskurs die sozialpsychologische Debatte über lange Zeiträume beherrschen wird.

Vielleicht wird dieser Wandel der Akzentuierung am Beispiel Israels erkennbar:

Bei der Suche nach Erklärungen für die Beobachtung, dass die traumatischen Erlebnisse von Überlebenden des Holocaust und israelischer Kampftruppenangehörigen der ersten Kriege so lange in Israel ignoriert worden seien, fand Zahava Solomon [13] vorrangig gesellschaftspolitische Ursachen. Dies macht deutlich, dass der Diskurs über Stress und seine Folgen wie auch dessen Ignoranz ein sozialer Prozess sind. Solomon nannte u.a. folgende Argumente: Wer sich wie der Staat Israel verletzlich fühle, neige dazu, Stärke zu zeigen und nicht, sich mit Perioden und Personen zu beschäftigen, die Schwäche verkörpern. Sie sah ferner einen Grund in der Favorisierung psychoanalytischer Theorien, also innerer Fantasien, zu Lasten von Analysen äußerer Realität. Als wichtigsten Grund jedoch nannte sie die Schwierigkeit, die eigene individuelle Verletzlichkeit zu verstehen und zu akzeptieren.

 

Diese Argumente sagen, dass der Stressdiskurs, soweit er psychisch Verletzte bis in das dritte Glied fokussiert, seine Zeit hat, die von der Gesellschaft beeinflusst, ja, bestimmt wird. Im Gegensatz zum israelischen Beispiel nahm der deutsche Weg nach dem I. Weltkrieg die umgekehrte Richtung. Gesellschaften insgesamt oder Meinungsführer nahmen sich die Freiheit zu bestimmen, wann die Zeit des Verdrängens und Vergessens beginnt, sich fortsetzt oder endet. Die traumatischen Erlebnisse der Soldaten und Zivilpersonen des Weltkriegs I (Trommelfeuer und Giftgas, Sterben im Sturmangriff, Hunger und Epidemien) führten bei den meisten Deutschen innerhalb von nur 20 Jahrenzu einem kollektiven Vergessen. Man kann dahinter ein Bedürfnis von Individuen erkennen, möglicherweise auch mehrere sich überlagernde und sich gegenseitig verdrängende Diskurse (Inflation, Wirtschaftskrise, Rassismus mit Eugenik, usw.) , nicht zuletzt ein manipulierendes Interesse von Hauptakteuren, die die Keule der Mythen hervorholten, wodurch sie eine Kontinuität von Gewalt beschworen und bewiesen. Der Umgang mit dem Stressdiskurs wurzelt in sozialpolitischen Fragen und bestimmte von dort die unreifen Selbstbeschreibungen und emotional beschränkten Wahrnehmungsmuster der Mehrheit der Deutschen. Die soziale Förderung des traumatischen Stressdiskurses in der Moderne ist wohl keine dauerhafte zivilisatorische Errungenschaft trotz der universellen Rhetorik, die so hübsche Formulierungen wie „less universal“ hervorbringt [14].

 

 

Einige konsequente Autoren wie z.B. Derek Summerfield betonen, dass PTSD als psychiatrische Diagnose Ursache und Folge einer Kultur des Schadensersatzes geworden sei und deshalb in US-amerikanischen Gerichtssälen seinen Anfang nahm, wo die psychische Verfassung von Kriminalitätsopfern so intensiv und überzeugend ausgebreitet wurde, dass hohe Schadensersatzsummen resultierten. (Einige Zeitgenossen bei uns haben sich immer gewundert, warum eine verletzte amerikanische Psyche so viel mehr wert sei als eine deutsche.) Dagegen wird angeführt, dass posttraumatische Symptome auch dann nicht verschwänden, wenn Gutachten die Kläger stützten oder Gerichtsverhandlungen positiv für Traumatisierte ausgingen, obwohl mit einer hohen Entschädigungssumme eine Anerkennung durch die Gesellschaft, die solche Kosten aufbringen muss, stattfinde. Geld bringt die schmerzende Psyche nicht zum Verstummen, es verbessert aber die Rahmenbedingungen zur Schmerzreduktion.

        Dies entspricht in dieser allgemeinen Form keineswegs meinen Beobachtungen aus der Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen. Nach der Anerkennung als Asylbewerber reduzierten sich die stets geschilderten Symptome beträchtlich (nicht nur bei bosnischen Kriegsflüchtlingen), so, als hätte mit der Anerkennung als politisch Verfolgter auch eine Anerkennung posttraumatischer Beschwerden und Symptome, gleichsam menschlicher Reaktionen, stattgefunden, welche zuvor implizit in Zweifel gezogen worden waren. Die verweigerte Anerkennung eines Aufenthaltsrechts und damit eines lokal gebundenen Existenzrechts war folglich subjektiv eng an das Fortbestehen der Symptome geknüpft. Dass existenziell bedrohliche Erlebnisse einfach verlöschen, wird niemand behaupten. Da aber, wo diese Erlebnisse eng mit einem Existenz- oder Aufenthaltsrecht verbunden sind, kann eine Anerkennung einen Großteil der beeinträchtigenden Symptome lindern. Nun lässt sich einwenden, dass jene Personen, die nach einer Anerkennung als politisch Verfolgter oder als Flüchtling der GK entsprechend ihre Symptomatik als deutlich vermindert schilderten, zu eben jenen Fällen zählten, deren Beschwerden und ihre Verursachung lange Zeit in einem unaufgeklärten Dunkel standen. Den betroffenen Flüchtlingen gelang oftmals keine überzeugende Darstellung ihrer Symptome (von psychischen Symptomen muss ein Entscheider überzeugt werden, was aus vielen Gründen schwer fallen kann), und Überprüfungen scheiterten an der Unkenntnis der lokalen Verhältnisse im Heimatland. Eine Ablehnung des Asylbegehrens meint immer, dass ein extrem traumatisierter Asylbewerber die Unwahrheit oder nicht hinreichende Gründe berichtet. Dies wiederum bedeutet, dass abgelehnte Bewerber sich neben der Integration traumatischer Erlebnisse, wenn es sie gab, um den Nachweis der Wahrheit bemühen mussten, während die anerkennende Behörde als Machtinstanz  auftritt, die Wahrheit von Unwahrheit unterscheiden kann. Unter diesen Umständen konnte eine Reduktion permanenter Erregung nicht stattfinden. In Asylverfahren wird stets eine lineare oder eindimensionale Fassung von Wahrheit zugrunde gelegt, obwohl es um existenzielle Fragen geht, die nie eindimensional sind. Hier gilt äußerst selten das „in dubio pro reo“. Der Bewerber muss genau die vorgegebene Wahrheitsversion treffen, oder er provoziert Zweifel. Der Beamte, der sich im Besitz der Wahrheit glaubt, gerät in die Rolle des Verteidigers seiner inkorporierten Wahrheit, die er kriechend in einer Hierarchie erworben hat, und das angesichts einer abweichenden Geschichte, die seine Wahrheit in Zweifel zu ziehen in der Lage ist. Das wollen die meisten Anhörer und Entscheider selbstverständlich vermeiden. Zu meinem Bedauern wird die Wahrheit der Behörde, weil sie sich in den meisten Mitarbeitern inkorporiert und sich zur corporate identity verdichtet hat, zugleich zur Disposition und dadurch unbewusst  gemacht und äußert sich mit Strenge, Ungeduld, ironischen Einwänden, geringer Empathie und Vorurteilen, von denen angenommen wird, dass viele sie teilen.

 

 

 




[1]Adriaan van Es (1990) Grußwort in Horacio Riquelme (Hrg.) Zeitlandschaft im Nebel. Frankfurt/M.: Vervuert. S. 17.

[2]Vergl. Vogelman, Loyd (1990) Some Causes and Solutions to the Violence in South Africa. Johannesburg: Print Book

[3]Kessler, R.C., Sonnega, A. et al. (1995)Posttraumatic Stress Disorder in the National Comorbidity Survey. Archives of General Psychiatry, 52, 377- 391.

[4]Neben vielen anderen Analogien der Infektion, Intoxikation, Dissoziation, Ressourcen usw. wird, vermutlich unbewusst, keine Analogie gezogen zur Keloidbildung. Keloide sind wucherndes Narbengewebe nach Verletzungen der Haut und der darunter liegenden Gewebe. Trauma bezeichnet im altgriechischen Original nicht nur Verletzung, sondern auch die resultierende Narbenbildung. Das ist mit psychischen Traumata gleichzusetzen, deren Narbenbildung wuchernde Züge annehmen kann und deren Entfernung zu Rezidiven führt. Keloide können die Größe von Blumenkohl erreichen und dadurch entstellen. Sie sind bei rund 5% der Menschen auf dem afrikanischen Kontinent festzustellen.

[5]Es stellt sich die Frage, ob die Einführung einer handlungsbestimmenden Psyche nicht schon immer ein Verdrängungsakt war, mit dem kommunizierbares und sichtbares Unheil in eine unsichtbare Sphäre verschoben wurde, gleichsam als Erbe einer Abhängigkeit von höheren Mächten.

[6]Anonyme technische Unglückskonstellationen oder Naturkatastrophen bleiben hier unberücksichtigt, weil die Voraussetzungen andere sind als bei politisch motivierten Machtäußerungen oder Gewaltverbrechen.

[7]Jede Utopie, die sich des Versprechens auf psychische Integrität und vollkommene Sicherheit bedient, muss als problematisch abgelehnt werden.

[8]Namen sind sicher ohne nachhaltige Bedeutung. Diagnosen fordern allerdings eine Abgrenzung nach benennbaren Kriterien, obwohl sie oftmals Eindeutigkeit nur anstreben.

[9]„Postfaktisch“ hat es immer schon von den Herrschenden gegeben, wenn zu Beginn von Kriegen die Wahrheit als erstes stirbt, d.h. Emotionen gewünscht und geschürt werden, die das Töten erleichtern, wie beispielhaft auch bei postfaktischer Lynch“justiz“.

[10]Ehrenberg, Alain (2011) Das Unbehagen in der Gesellschaft. Berlin:Suhrkamp

[11]Wenn Wut oder Rachsucht bei einer traumatisierten Person erkennbar sind und Wut als Reaktion auf Demütigung und Bedrohung aufgefasst wird, dann kann nicht eine weit gehende Dissoziation für ein solches negatives, traumatisches Erlebnis angenommen werden. Teildissoziationen für bestimmte Aspekte eines traumatischen Erlebnisses können auftreten, wenn es zu Konkurrenzen mit anderen elementaren Emotionen oder im Narrativ mit dem sozial geformten Selbstbild (Schuld, Scham) kommt.

[12]Ihr gemeinsames Werk „Das verfolgte Selbst“ von 2008 im Junfermann-Verlag hat in der deutschsprachigen Ausgabe offenbar auf jedes wirksame Lektorat verzichtet. Die Übersetzung erfolgte vermutlich ohne inhaltliches Verständnis als Schuss aus der Hüfte. Das als Lehrbuch konzipierte Werk eignet sich, zumindest im ersten Teil, zum Vertreiben von Fliegen, was entfernt an Dissoziation erinnert.

[13]Solomon, Zahava (1996) The Jewish Survivor in Israel. In: Coming Home from Trauma. Hamburg

 [14]Brewin, Chris R. (2003) Posttraumatic Stress Disorder: Malady or Myth. New Haven, London: Yale UP, S. 21.