Die posttraumatische Belastungsstörung, die inzwischen längst das psychiatrische Milieu verlassen und sich in der Alltagskultur niedergelassen hat, war immer und ist aktuell weiter ein rein westliches Konstrukt. Westlich meint in diesem Zusammenhang eine spezifische Wahrnehmung, Bewertung und Beeinflussung von Ereignissen in der Welt und ihre Ablagerung in der (zumeist) individuellen Psyche sowie Redeweisen über diesen Mechanismus, die nicht mit Erklärungen und Beweisen verwechselt werden dürfen. Als westlich kann nicht nur die beschriebene Symptomatologie nach traumatischen Erlebnissen bezeichnet werden. Vielmehr ist auch die empirische Forschung zur Psychotraumatologie ein westliches Projekt, das auf die Aufklärung zurückgeht und bei dem sich Macht, Neugier und Kontrollphantasien innerer Prozesse bemächtigen wollen, die zuvor in die Zuständigkeit der Religion gehörten. Auch heute noch bezieht der Impetus zur Aufklärung posttraumatischer Befindlichkeiten seine moralischen Antriebe aus dem Christentum. Daher ist das Verbreitungsspektrum der PTBS vor allem in den Ländern oder Regionen festzustellen, die christlich geprägt sind oder unfreiwillig geprägt wurden.
Westlich ist nicht geographisch einzugrenzen, obschon Nordamerika, Teile Lateinamerikas, Australien, Neuseeland und Europa die Verbreitung der Diagnose „posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS, PTSD) nachhaltig gefördert haben. Südafrika mit seiner westlich inspirierten Auffassung von psychischen Leiden bildet für den afrikanischen Kontinent eine Ausnahme, obwohl für alle afrikanischen Staaten Trauma in Permanenz durch Kolonialismus, Ausbeutung, Versklavung, Abwertung angenommen werden muss und die Komplexität der Äußerungsformen kaum eine Systematik zulässt. Es scheint also, als ob im Wesentlichen die Diagnose PTBS westlichen und weißen Akteuren und Konzepterfindern ihre Existenz verdankt. Das könnte zu der Vermutung verlängert werden, dass bei der Symptomatik nach gravierenden Erlebnissen und bei der Bearbeitung solcher Erlebnisse das Westlichsein und Weißsein die Betrachtung innerer Prozesse entscheidend beeinflusst hat, zumindest findet sie in weißen US-Psychiatern ihren Ausgangspunkt und wenngleich sie ursprünglich an Weißen, „Latinos“ und Afroamerikanern des Vietnamkrieges evaluiert wurde, was den Universalitätsanspruch der PTSD zu untermauern schien. Diese zwei Zuordnungen – weiß und westlich - gingen immer (seit den Seefahrern und Eroberern) mit Herrschafts- und Überlegenheitsansprüchen zusammen. Wenn westliche Experten von diesem hohen Ross herunterkommen, dann eröffnen sie sich die Chance, Menschen in ihrer Verletzlichkeit und wie sie Leiden zum Ausdruck bringen wahrzunehmen. Die Selbstwahrnehmung Traumatisierter ist nicht mit vorgefertigten und sehr oberflächlichen Fragebögen, screenings und anderen „Messungen“ zu ermitteln.
Unter universalistischen Vorstellungen von der menschlichen Psyche und mit missionarischem Drang kam es zum Export der Diagnose auf die Philippinen, nach Pakistan, Kenia und andere Regionen mit krisenhaften Entwicklungen. Die Orientierung an westlichen Standards der Diagnostik, Therapie und Forschung kann mit deutlichen kulturellen Akzentverschiebungen überall stattfinden. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Zugänge zur Diagnostik und Behandlung zu vergleichbaren Resultaten führen, über die man gemeinsam sich austauschen kann. Bei physiologisch erklärbaren Krankheiten war dies noch einfacher, obwohl diese Form der Theorie, Praxis und das dahinter stehende Wissenschaftsverständnis traditionelle Erklärungen erfolgreich verdrängt hatten. Man hat wohl gemeint, bei psychischen Störungen könne man einen ähnlichen Verdrängungsprozess in Gang setzen. Selbstverständlich kann ein in London ausgebildeter Arzt in Pakistan das westliche diagnostische Konzept anbieten; spätestens im Bereich der Behandlung wird er dann wieder zum kulturellen Landsmann seiner Patienten oder zum Partner für Pharmakonzerne. Mit dem gemeinsamen Verständnis vom sozialen Gefüge, in dem ein Mensch psychische Traumata erleidet, von der Wirkung der Pharmaka, von Religion und den Möglichkeiten und der Reichweite der Sprache sowie rechtlicher (Un-) Sicherheiten gehen so viele Imponderabilien in die therapeutische Beziehung ein, dass eine plumpe Übertragung des westlichen Konzepts nur mit autoritärem Habitus zustande kommen könnte. Ich hatte traumatisierte Asylsuchende aus Kamerun, Mali, Burkina Faso, Angola, Zaire, Äthiopien in meinen Behandlungsräumen und kann sagen, mit autoritärem Habitus ist bei ihnen kein Therapieansatz zu finden. Davor waren die meisten ja geflohen.
Das westliche und weiße Konzept psychischer Prozesse nach extremen Erlebnissen formt nicht nur die Betrachtung der Leiden, die durch erschütternde Gewalt verursacht wurden. Es formt auch den Betrachter, wenn er Leiden mit einer Diagnose versieht und Therapie anbietet. Hinter diesem Angebot steht das machtgestützte Selbstvertrauen, genaue Kenntnisse über die Beziehung von negativen extremen Erlebnissen zu den konsekutiven inneren Prozessen zu besitzen. Das Selbstvertrauen ist von positiven Hilfsimpulsen eingerahmt, allerdings sind die genauen Kenntnisse gar nicht so genau, sondern es handelt sich um Hypothesen und Annäherungen, die zumeist zur Standardisierung an weißen und westlichen Traumatisierten vorgenommen wurden. Wenn der in dieser Weise geformte Betrachter über sich (z.B. in der Supervision) nachdenkt, dann könnte er allmählich zu der Folgerung gelangen, dass das weiße und westliche Konzept, auf andere Kulturen übertragen, den Anspruch hat, von sicherem Wissen und Überlegenheit der Wissenschaft geleitet zu sein und am Ende gar in der Gestalt eines Sozialdarwinismus eine rassistische Tendenz nicht verleugnen zu können. Die psychischen Prozesse der Bearbeitung von negativen Wahrnehmungen möchte das westliche und weiße Konzept in der Transformation auf ferne Regionen homogenisieren, indem es davon ausgeht, dass alle Menschen dieselben organischen Voraussetzungen zur Ausbildung von Symptomen haben. Die durchschnittliche westliche Phantasie wehrt sich gegen die Vorstellung, dass Menschen in Asien oder Afrika mit ihrem psychischen Apparat anders verfahren, als wir im Westen voraussetzen. Das psychische Trauma in Kambodia, Vietnam oder Sri Lanka zeigt sich durch andere Charakteristiken, als wir es kennen und benennen.
Wenn das Leiden nach extremen Verletzungen und Verlusten anhand eines diagnostischen Katalogs bestimmt wird, entscheidet die Auswahl der Fragen und Stichwörter über das Vorhandensein eines Traumas und bestätigt damit die ursprüngliche Bewertung (selten, oft, immer oder nie) der Erfinder der diagnostischen Kategorie. Sachlich richtig wäre es wohl gewesen, mit Leiden befasste Männer und Frauen aus allen Kulturen an einen Tisch zu bringen und eine Synopse psychischen Leidens entstehen zu lassen oder ganz auf eine Diagnose zu verzichten, außer in einem umschriebenen kulturellen Raum. Für PTBS als Störung im psychosozialen Bereich ist dies der westliche Raum mit westlich geprägter Therapie und Wissenschaft.
Die internationale Frauenbewegung hat erfolgreich verhindert, dass PTBS zudem eine Diagnose von Männern für Männer (Vietnamveteranen) wurde, obwohl dies der ursprüngliche Anlass war. Die Rechte von Frauen schlossen nunmehr auch das Recht auf Anerkennung Leiden verursachender Erlebnisse ein, was nicht nur die Erfahrung sexualisierter Gewalt, sondern jede Form der Diskriminierung einbezog. So kam es wahrscheinlich dazu, dass eine Verschiebung von lebensbedrohlicher Gewalt und Macht zu einem Leiden stattfinden konnte, das im westlich geprägten Kulturraum das Selbstverständnis von individueller innerer Bearbeitung von Unlust, Unruhe, Phantasien, Demütigung, Tabubrüchen, Problemen des Gedächtnis, wiederkehrenden Schmerzen, Depression und Nachteil bestimmt.
Warum wollen große Teile der wissenschaftlichen Gemeinde so hartnäckig darauf bestehen, dass Postmodernismus und Dekonstruktion dafür verantwortlich gemacht werden, dass heute im Bereich der Psychotraumatologie alles in Frage gestellt wird, was Sicherheit für Handlungen mittels vorgestanzter Instrumente und Inventare versprach? Nur weil es sich um soziale Konstruktionen handelt? Es sind zwangsläufig soziale Konstruktionen, wenn Natur (der Mensch oder Wissenschaftler) über Natur (traumatische Prozesse) mit sprachlichen Prothesen nachdenkt und Kategorien bildet. Soziale Konstruktion enthält keineswegs abwertende Urteile. Sie will lediglich den Raum für Mystifikationen, Glaubenslehren und spekulativ erworbene „Fakten“ so klein wie möglich halten. Mensch und Natur bilden (leider?) kein geschlossenes System, wenn es um Verstehen geht, weil der Mensch immer wieder aus seiner natürlichen Formung durch das Instrument der Macht ausbrechen will. Ich denke, jede/r muss gewisse Unsicherheiten und Vorläufigkeiten der Erkenntnis aushalten, niemals aber für wahr halten, was in Manualen und Lehrbüchern zusammengetragen ist, sondern Fragen stellen, mit den eigenen Erfahrungen abgleichen und neue Perspektiven und Betrachtungen anregen.
Dieser Einwurf sollte Mitspieler erreichen, die sich aus der Geschichte und dem Ausbreitungsmodus der Diagnose PTBS anregen lassen, weitere Argumente für die These zusammenzutragen, dass die posttraumatische Belastungsstörung ein westliches, weißes und christlich geprägtes Konstrukt und moralisch gestütztes Denkmuster darstellt. Ihre primäre Verbreitung war vor allem auf liberale Staaten fokussiert, die ergänzend eine Verbindung zu den allgemeinen Menschenrechten herstellten und dadurch sich dem Projekt „Aufklärung“ verpflichtet sahen. Es bleibt aber fragwürdig, wenn dieses Projekt, das sich auf psychologische Verarbeitungsschemata bezieht, global exportiert wird. Zwar können auch in entfernten Kulturräumen Filialen für die Ausbreitung von PTBS entstehen, oftmals gut alimentiert aus dem Westen und von opportunistischen Trägern verwaltet, aber zumeist von beschränkter Dauer. Diese Form der Missionsarbeit („Wir zeigen Euch, Helfer und Opfer, wie Ihr traumatische innere Prozesse richtig betrachten und behandeln sollt“.) benutzt statt der Bibel das DSM (Diagnostisches und statistisches Manual mentaler Störungen) oder das ICD-10/11 der WHO.
Allerdings steigt die Zahl derer, die in illiberalen oder autoritären Staaten ein Männerbild heraufdämmern sehen, das von traumatischen Folgeerscheinungen nach Macht- und Gewalterlebnissen nichts mehr wissen will oder darüber hinweggeht. Es gilt folglich, Rechte aus dem Sozialpakt zu verteidigen.