Vierzehnter Einwurf
Sepp Graessner
Im Thieme-Verlagsmagazin (Archiv 2016) findet sich eine Besprechung der Forschungsergebnisse einer Forschergruppe um Frau Professor Anke Ehlers in Oxford/UK. Die Forschungen bezogen sich auf Risikofaktoren, die eine Ausbildung einer posttraumatischen Belastungsstörung oder Depression begünstigen können und voraussagen lassen. Konkret richtete sich das Interesse auf so genannte Denkmuster. Diese Muster beziehen sich folglich in meinem Verständnis auf die Betrachtung der Stellung einer traumatisierten Person in der Welt (Realität) und darauf, welchen Stellenwert ein traumatisches Erlebnis und seine unmittelbaren reaktiven Affekte einnehmen. Beim Auftauchen von posttraumatischen Symptomen treten die Denkmuster einer traumatisierten Person mit denen Nichttraumatisierter in Beziehung und in Konflikte.
In verstärktem Maße beziehen sich Forschungen auf Risikofaktoren, deren Beherrschung durch präventive Maßnahmen eine länger währende posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) oder Depression zu vermeiden oder abzumildern in der Lage sei. Aus dieser Tendenz lässt sich auch ein besonderes Interesse des militärischen Komplexes ableiten, der zunehmend Ausfälle für Kampfeinsätze durch posttraumatische Störungen registriert und sich um die nachfolgenden Invaliditätsrenten sorgt.
„Es sind somit weniger die belastenden Ereignisse, die eine psychische Störung vorhersagen, sondern mehr die Denkmuster und der individuelle Umgang mit den Erfahrungen“, erläutert Dr. Anke Ehlers in ihrer Studie zu Risikofaktoren für PTBS, womit sie den Verarbeitungsprozess noch tiefer in ein betroffenes Individuum verlegt. Sie und ihr Team hatten Notfallhelfer in der Ausbildung befragt und nach zwei Jahren erneut interviewt. Der überwiegende Teil der Teilnehmer hatte ein oder mehrere traumatische Erlebnisse gehabt. Ein Hauptinteresse richtete sich folglich darauf, wie die Probanden dieses Humanexperiments mit ihren Erlebnissen umgegangen sind und wie sie Schutzmechanismen gegen psychische Störungen aktiviert hatten. Schutzmechanismen haben mit Denkmustern in traumatischen Situationen und posttraumatisch wenig zu tun, weil sie spontan oder intuitiv auftreten. Der traumatisierte Mensch sucht Beziehungen wieder aufzunehmen, weil er eine diffuse Trennung von anderen Menschen und Mängel in seiner Beziehungsfähigkeit empfindet. Das ist kein Denkprozess, das macht er daher intuitiv, wenn er Kontakt nicht vermeidet. Vermutlich ist mit Denkmuster nichts anderes gemeint als ein realistischer Blick auf die Bedingungen menschlicher Existenz, auf Verletzung, Aggression, Rücksichtslosigkeit, Vernachlässigung usw.
Was ist denn sonst unter Denkmustern zu verstehen? Überzeugungen, Glaubenssätze, Erfahrungen, Vorurteile, ethisches Konzept, Gerechtigkeitsempfindungen und gedankliche Filter, die allesamt dem Körper eingeschrieben sind und im Körper beschädigt werden können. Sloterdijk empfiehlt: Du musst dein Leben ändern. Das ist vielleicht nicht nötig, wenn Traumatisierte wenigstens ihre Denkmuster ändern, die posttraumatische Beschwerden in die Länge ziehen. Dazu müssen sie aber wissen, was das ist und wie man sich prophylaktisch gegen Traumata wappnet, die den modernen Menschen aus vielen Richtungen überschwemmen. Denn implizit werden die individuellen und subjektiven Denkmuster beschuldigt, dass in ihnen eine Verantwortung für abweichendes Handeln und Fühlen liegt. Auf so eine Verirrung von Forschung muss man erst einmal kommen. Wenn, wie allgemein angenommen, die Affekte posttraumatisch den Umgang mit dem traumatischen Erlebnis bestimmen und höchstens Teilaspekte der Vermeidung von Bewusstsein durchdrungen sind, wie kann das oder die Denkmuster eine Ressource oder ein Risikofaktor darstellen?
Sind Denkmuster als Resultante aus Lernprozessen, Erlebnissen, Wahrnehmungen und sozialer Interaktion nicht ein sehr individuelles Charakteristikum, das daher nicht ohne weiteres zu verändern ist?
Selbstbewusste Menschen, die sich auf die Überwindung posttraumatischer Symptome fokussieren und sich dies auch zutrauen, hätten bessere Aussichten, PTBS zu vermeiden oder einen verkürzten Verlauf zu erwarten. Dagegen sind grübelnde Menschen nach traumatischen Erlebnissen gefährdet, posttraumatische Symptome oder eine Depression auszubilden. Think positive!!! Der Erkenntnisgewinn erscheint auf den ersten Blick gering. Allerdings wird mit Formulierungen wie z.B. Denkmuster eine Bewertung vorgenommen, die implizit nach Veränderungen der falschen oder unzureichenden Denkmuster ruft. Wenn Begriffe wie Denkmuster im Zusammenhang mit Traumata problematisch werden, erfahren wir das allermeiste über deren Bedeutung.
Präventive Strategien richten sich – auch als Forderung des Militärs – bevorzugt auf die Beeinflussung des Denkmusters, in das traumatische Erlebnisse - oftmals vergeblich - integriert werden. Wie aber sollen Denkmuster beschaffen sein, die eine Ausbildung posttraumatischer Symptome lindern, voraussagen lassen oder gar beseitigen. Was kann mit Denkmustern gemeint sein, da doch die Affekte durch traumatische Erlebnisse in erster Linie betroffen sind und zu Wiederholungen drängen?
Viele Probleme hat der Mensch durch die narzisstische Kränkung, als er bemerkte, dass er als Subjekt zum Objekt wurde, und seinen Subjektstatus einbüßte, einen Subjektstatus, der seit der Geburt eingebettet war in Abhängigkeiten und Entfremdung.
Für die Vorhersage von Depressionen war der Grad an Selbstvertrauen in die eigene Fähigkeit, mit Belastungen fertig zu werden, besonders bedeutsam.
„Aber es gilt zu prüfen, ob gezielte Trainingsprogramme zur Veränderung von Denkmustern dazu beitragen können, die psychische Widerstandskraft gegen Extrembelastungen zu erhöhen.“ (Ehlers) Es scheint also um Resilienz zu gehen, was das Militär besonders interessiert.
Und das Interesse des Militärs an solchen Forschungen muss groß sein, wenn es gelänge, durch Veränderung der Denkmuster eine Unempfindlichkeit gegenüber einer extremen psychischen Belastung (dem Verstoß gegen das Tötungstabu), vor allem ihren Folgephänomenen, zu erreichen. Dabei ist vermutlich das Denkmuster, Sinn in militärischen Aktionen außerhalb der Landesverteidigung zu finden, als erstes zu minimieren oder gar zu löschen, was mit Formulierungen, deutsche Sicherheit werde am Hindukusch verteidigt, schon einmal erfolglos versucht wurde. Es hatte da bereits Jahre gedauert, bis ein Krieg auch Krieg genannt werden durfte. Beim Militär konzentriert man sich prophylaktisch auf kleine Gruppen, die eingeübten Familienmustern folgen. Der „buddy“, der Bruder, wird eher geschützt als der anonyme Mitkämpfer. Das ist alles längst erprobt, und provoziert daher die Frage, welche sonstigen resilienten Qualitäten durch Forschung von Risikofaktoren ermittelt werden sollen.
Wenn man die Betroffenen, die eine PTBS ausbilden, in zahlreichen Feldern ansiedelt – von Auschwitz bis zum Verkehrsunfall, von Folter bis zur Ausbildung eines Rettungssanitäters – dann erhält die Bezeichnung „Überlebender“ einen pathetischen Akzent, denn die bedrückenden Arbeitseinsätze eines Rettungssanitäters rechtfertigen kaum die Charakterisierung als Überlebender, selbst wenn sie Symptome einer PTBS zeigen oder berichten.
Man kann Studienanordnungen mit Probanden wählen, bei denen die Resultate von vornherein feststehen, nach dem Muster, das ABC zu beherrschen ist Voraussetzung fürs Briefeschreiben (obwohl man da auch Überraschungen erleben kann).
Den Autor*innen der vom Thieme-Verlag gepriesenen Forschungsergebnisse ist beiläufig zu empfehlen, sie sollten ihre Denkmuster neu justieren.
Fünfzehnter Einwurf
Sepp Graessner
Einer der komplizierten und am häufigsten missbrauchten Begriffe aus dem Umfeld von Traumapolitik ist der einer Identität, von der behauptet wird, man wähle sie sich selbst. Sie sei wandelbar, jeder könne Teilaspekte austauschen, zumindest in den meisten Feldern, aus denen sich Identität zusammensetzt. Das erscheint als schwachsinnig, denn das Gebilde aus zahlreichen Wirkfaktoren, das wir Identität nennen, wählt sich eine oder mehrere Personen, in denen es sich einnistet. Wer seinen Status als Subjekt eingebüßt hat, greift auf die Bedeutung von Identität zurück, flüchtet geradezu in eine Identität, und Identität ersetzt einen Mangel. Viele Disziplinen haben den Begriff „Identität“ zu durchdringen versucht. Es sind jeweils nur Teilaspekte erklärt worden.
Identität wird erst zur eigenen nach einer Zuschreibung durch die menschliche, institutionelle und symbolische Umgebung, durch Sprache, Objektbeziehungen, Personalausweis, Taufschein, Beglaubigungen, Zeugnisse, Partizipation. Oftmals wird Identität mit Bindung oder Identifikation verwechselt, vor allem, wenn die gegenwärtige Leere identifizierend und identitätsstiftend mit Elementen der Vergangenheit gefüllt wird, die Sicherheit durch Exklusion versprechen. Das Lasso der Vergangenheit soll die Zukunft einfangen, was eine Illusion und eine Katastrophe der Logik ist. Aber um Logik geht es weder Identitätssuchenden noch Identitären.
Bei Traumatisierten wird von beschädigter Identität gesprochen. Damit ist im Allgemeinen der Abbruch der Zugehörigkeit zu einem Kreis von Menschen gemeint, weil die posttraumatische Beziehungsfähigkeit und Bindungsfähigkeit zumindest teilweise eingeschränkt oder aufgehoben und Zugehörigkeit fremd geworden sind, soweit extreme traumatische Erlebnisse als Auslöser angenommen werden. Bei dieser Bedeutung von Identität muss keine Definition zugrunde liegen, die eine Evaluation ermöglicht. Sie wird allgemein als Wert verstanden, transportiert Werte, kann sich verirren, wird heute gern kulturell und politisch verwertet. Es entstanden derart viele Definitionsversuche, die dem jeweiligen Feld oder der Disziplin einen Gründungsmythos gestatteten, dass diese Beliebigkeit vom Gebrauch des Begriffs Identität Abstand nehmen lässt. Große Anteile von Identität sind ein Sehnsuchts- oder Zombiebegriff oder (wie der Ausweis) ein Plastikbegriff, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie z.T. überwältigende Gefühle freisetzen.
Im strengen physiologischen Sinne gibt es Identität überhaupt nicht, da physiologische Prozesse in unzähligen variantenreichen Formen zu jedem Zeitpunkt in allen Organismen anders wirksam sind und somit verhindern, dass ein lebendiges Wesen mit anderen identisch sein kann. Aber auch die konstant wechselnden Stoffwechsel in einem Organismus verhindern, dass ein Organismus mit sich selbst identisch sein kann. Auch ein meditierender buddhistischer Mönch und selbst Tote schaffen das nicht.
Wenn es aber um von der Physiologie abgetrennte Identität geht und damit soziale und kollektive Zuordnungen angesprochen werden, dann schlägt die Stunde der Psychologie, Philosophie und Soziologie, weil sich dieser Aspekt von Identität nur durch die Vermittlung von interpretationsfähigen Affekten angenähert erklären lässt, die allerdings dem Unsichtbaren nur entweichen können, indem sie sich in Handlungen und Muskelaktivitäten (Mimik, Gestik, Gewalt) äußern. Eine emotionale Ansprechbarkeit, die sich im Rahmen von Identität zumeist in Sentimentalität ergießt, kann durch rationale Akte eingedämmt werden, tritt aber in Entscheidungs- und Bewertungsfragen stets wieder in den Vordergrund. Ich argwöhne, dass Identität zu 99% emotionsgesteuert ist, zuweilen bei einigen Zeitgenossen zu 100%. Das kann man bedauern, bedeutet es doch, die Leere oder Lücke der Rationalität sei in psychosozialen Prozessen entstanden und bei einigen Zeitgenossen klaffend weit. Selbstverständlich kann man dahinter auch ein menschliches, wenn auch schlichtes Bedürfnis annehmen. Die 100prozentige Identität lässt keinen Platz für den Anderen oder Fremden, ist exkludierend. Das beleuchtet die Nähe von Identität und Angst. Identität soll Angst vertreiben, weswegen man sich zusammenrottet oder familiäre Muster reproduziert. Amok wäre danach der vergebliche, verhinderte oder misslungene Versuch, angstvertreibende Identität zu erzielen.
Identität und der Wunsch nach Identität verfolgt Zwecke. Jeder möchte durch Zugehörigkeit der Angst vor der Einsamkeit entgehen und sich selbst eine Bedeutung und einen „Sinn“ zusprechen. Allein ist jeder dem Untergang geweiht. Zugehörigkeit ermöglicht verbale und averbale (z.B. mit Knüppeln, Uniformen, Fahnen, Hymnen) Antworten auf die Frage, wer man sei und wozu man da ist. Zugehörigkeit im sozialen Alltag kann man kündigen und gegen eine andere austauschen. Soziale Zugehörigkeit ist nicht komplett mit Identität gleichzusetzen. Sie ist ein Teil davon.
Eine bedeutsame Frage stellt sich nach der Existenz einer Identitätsstörung. Kann ein Mensch durch den Mangel an Identität ge- oder verstört werden? Gibt es nur eine Identität? Oder gibt es wie bei der Hypothese der multiplen Persönlichkeitsstörung, bei Hochstaplern oder Spionen mehrere Identitäten? Ist also Identität vollständig an ein Rollenkonzept gebunden, das in unterschiedlichen Rollen wie im Theater unterschiedliche Identitäten gestattet? Und wie starr bleibt ein Identitätskern stets unverändert? Oder ist gar Identität nichts anderes als ein Reaktionspotential auf Umweltreize und kollektive Forderungen? Dafür sprächen die hochgradigen affektiven Anteile, die wie in frühen intimen Beziehungen in mehr oder weniger konditionierter Weise ausströmen.
Identität von Rechtsextremen oder Identitären lässt stets eine futurische Dimension vermissen. Sie ist aus Vergangenem gebildet und kann daher keine oder nur bellende, geifernde Auskunft geben, wohin man will. Wenn man Auskünfte über zukünftige Projekte haben will, muss man Ideen, soziale Phantasie und Verstand bemühen. Da aber der Hauptanteil von Identität aus Affekten besteht, sind der Wirkung von rationalen Entscheidungen bei Identitätssuchenden oder gar Identitären sehr enge Grenzen gesetzt, eben weil bei ihnen eine gewisse Flexibilität von Sinnstiftung, die sie allein aus Elementen der Vergangenheit beziehen, unterentwickelt ist. Natürlich kann man Identität nicht suchen. Man kann aber bei einem Mangel an affektiven Äußerungen oder wenn die Restaffekte ohne Echo bleiben, meinen, man finde sie in provozierenden, aggressiven oder verweigernden Impulsen, die als Index auf den Mangel an angemessenen Affekten fungieren. Vielleicht gibt es keine Identitätsstörung, aber es gibt sicher störende Einflüsse auf die Affektformung, die Voraussetzung für jede Form von Identität ist.
Wenn man Näheres über das schwierige Verhältnis der Deutschen zu „ihrer“ Identität erfahren möchte, sei Siebo Siems empfohlen, der in seiner philosophischen Habilitationsschrift sich intensiv damit befasst hat. Selbstverständlich kann man auf zwei Seiten nichts Erschöpfendes zu Identität sagen. Man kann einige Fragen stellen und behutsame Statements abgeben. Wer diesen Einwurf aufruft, sollte weiter und tiefer fragen.
Sechzehnter Einwurf
Sepp Graessner
Nicht nur traumatische Ereignisse/Erlebnisse haben einen politischen Hintergrund oder zumindest eine politische Tönung, im Wesentlichen ein machtpolitisches Motiv. Auch das Verschweigen traumatischer Verwerfungen zeigt einen politischen Einfluss: ein politisch gesteuertes, kollektives Verdrängen und Verleugnen. Unsere Haltung zu Traumata wurde zudem durch Berufsverbände, Krankenkassen, Pharmaindustrie politisch geformt, nachdem eine Diagnose für massives Leiden an Erlebnissen in die Welt kam. Mit dieser Diagnose PTBS – und das ist vielleicht ihr größtes Verdienst - konnte man als Gegenentwurf der Helden- und Härteprosa Ernst Jüngers einen empfindlichen Schlag versetzen, weil Leute wie Ernst Jünger fortan von zahlreichen Opfern umzingelt wurden, die auf pathetische Bewertungen der Welt gerne verzichteten. Diese Opfer bezogen sich auf eine psychiatrische Akkreditierung und konnten nun wegen ihrer großen Zahl mit Selbstbewusstsein der Verachtung der Anhänger Jüngers entgegentreten. Das wäre –wie immer man dies bewertet - somit ein unbeabsichtigtes kulturpolitisches Resultat.
Ich denke, man muss über die politische Notation von diagnostizierter Traumatisierung eindringlich nachdenken, wenn man davon ausgeht, dass sowohl das moderne Leben Traumata erzeugt als auch die Diagnose und die Beforschung posttraumatischer Befindlichkeiten oder besser: Leiden einen mehr oder weniger verdunkelten politischen Charakter offenbaren.
Heute gelangen immer mehr Autoren zur Einsicht, dass Traumata und die unzureichende, vielleicht überflüssige Diagnose PTBS in einer weitreichenden Betrachtung ein Spiegelbild der moralischen Verfassung unserer modernen Gesellschaften repräsentiert. Darin drücke sich aus, dass die Komplexität und Kompliziertheit unserer Lebensbedingungen eine latente oder dauerhafte Überforderung darstelle, die dadurch Opfer produziere. Nur scheinbar unterscheide sich diese Form einer Vulnerabilität von jenen Verletzungen, die wir landläufige Traumata nennen und die eine hintergründige Verankerung in unserer kapitalistischen Kultur und unserer Verehrung von Macht haben. Davon sind allein die elementaren Menschenrechtsverletzungen zu unterscheiden, die mit Todesdrohung einhergehen. Die französischen Psychiater Fassin & Rechtman gelangen zu dieser Überzeugung in ihrem sehr lesenswerten Buch „The Empire of Trauma“ (L’Empire du traumatisme – Enquête sur la condition de victime). In der englischen Fassung sagen sie, dass die Wahrheitdes Traumas nicht so sehr in der Psyche, im Geist oder Gehirn läge, sondern “in the moral economy of contemporary societies” (S. 276) Daher läge in der Diagnose PTBS ein moralisches Urteil, das einen Opferstatus konstituiere. In gleicher Weise zieht der US-amerikanische Politologe C. Fred Alford Schlüsse aus seiner Beschäftigung mit traumatischem Erleben in seinem Buch „Trauma, Culture, and PTSD“. Er kommt zu dem scheinbar paradoxen Schluss, „PTSD creates the trauma it discovers, but it does not create trauma.“(PTBS erzeugt das Trauma, das sie (als Diagnose mittels eines standardisierten Katalogs) aufdeckt, aber sie erzeugt nicht das Trauma als Leiden, S. G.)
Dass für solche kritischen Bemerkungen in Deutschland weder Bedarf noch Interesse bestehen, darf man an den ausbleibenden Übersetzungen und an den möglicherweise verstörenden Wirkungen auf eine Psychoindustrie und auf vorherrschende Lehrmeinungen ablesen. In Deutschland hat die Psychotraumatologie eine besondere Stellung, vor allem weil sie vorzugsweise die Betrachtung und Analyse historischer Lebensumstände ins Individuum verlegt, von Politik abstrahiert, und Scham und Schuld nicht mit konsequentem Handeln verknüpfen muss, sondern im Unsichtbaren und Interpretierbaren belässt. Dagegen kann man in anderen Ländern durchaus über die Unbrauchbarkeit, ja sogar Abschaffung der Diagnose PTBS nachdenken und schreiben. Fred Alford z.B. hält PTBS als klinische Kategorie ungeeignet für Forschungszwecke, allerdings räumt er der Diagnose aus pragmatischen Gründen eine Berechtigung ein. Diese betrifft Gesetze, Entschädigungen, Fachjargon, letztlich gesellschaftliche Anerkennung von Leiden.
Jahrtausende war das, was wir heute Trauma (Psychotrauma) nennen, bekannt und beklagt, und es brauchte erst in der jüngsten Vergangenheit eine Diagnose, um die Folgen traumatischen Erlebens zu erfassen, in Details zu beschreiben und für therapeutische Eingriffe zu präparieren. Es sind immer politische Entscheidungen gefallen, wenn etwas Altbekanntes in neuem Gewande die Bühne betritt und einen unermesslichen Markt mit hohen Umsätzen konstituiert. Zuweilen sind auch nur Phantasielosigkeit (wie in der Mode) dafür verantwortlich und natürlich machtgetriebene Partialinteressen.
Obwohl also politische Entscheidungen und politische Einflüsse auf die Existenz und die Betrachtung von Traumata und deren Folgephänomene unwiderleglich sind, spielt im diagnostischen und therapeutischen Alltag der politische Charakter von Trauma und Diagnose kaum eine hervorgehobene Rolle. Diese politische Dimension der Entstehung des Traumadiskurses und seiner Ausbreitung wird eher unbewusst gemacht und hinter Fürsorge und Wohltätigkeit verborgen. Wie gesagt, auch gesellschaftliches Verdrängen und Verschweigen (als Zeitzeugen von Massenmorden und Demütigung) folgen politischen Pfaden, die in komplizierten Verfahren psychologisiert werden, wenn Schuld und Scham (unterlassene Hilfeleistung) und ihre jeweilige Zuordnung und Verantwortung auf dem Spiel stehen.
Therapeuten, die sich nicht konstant mit Zeitgenossinnen und Politikerinnen um die Beseitigung von Traumaursachen kümmern und mit heftigen Forderungen nerven, haben sich mit dem Status quo abgefunden, vermutlich in der unbewussten Einsicht, dass man von einer geschlachteten Kuh keine Milch erwarten kann. Sie verraten aber auch einen resignierten Charakter, der an eine Beseitigung aller möglichen Traumaursachen nicht glauben mag. Diesen Charakter nennt man realistisch.
**
Ich habe mich wiederholt zu kollektiven Traumata in Kurdistan geäußert. Hier ist wohl eine Präzisierung nötig. Warum? Weil das, was wir heute Psychotrauma nennen, in seiner Symptomatik unbestreitbar nur der betroffenen Person zugeordnet werden kann, weil die inneren Wirkungen posttraumatischer Störungen (z.B. Flashbacks) von einer menschlichen Umgebung – und sei sie diagnostisch noch so gut geschult – nicht wahrgenommen oder durch labortechnische Äquivalente belegt werden können. Sie entziehen sich damit einer Objektivierung (auch indirekten, interpretierenden), selbst wenn sie ausführlich berichtet werden, was durch „Dissoziationen“ und Sprachlosigkeit so ausführlich nicht oder nur selten sein kann. Flashbacks sind empirisch nicht zu verifizieren. Wohl ist die Erregung zu registrieren, aber die bildhaften Inhalte, die Vergangenes in den chronologischen und emotionalen Abläufen gegenwärtig machen, sind nicht wissenschaftlich aufzuklären. Wenn dann noch Dissoziationen Teil der Symptomatik sein sollen, ist eine wissenschaftliche Bearbeitung und ein operativer Umgang mit der Diagnose PTBS gänzlich unmöglich. Aus dem Verhalten auf Motive und innere Prozesse zu schließen, sollte Wünschelrutengängern überlassen bleiben.
Das heißt, ein traumatisches Erlebnis und seine inneren Bearbeitungen bleiben an ein Individuum gebunden und können daher nicht auf Kollektive übertragen werden. Als Konstrukt einer Erklärung für kollektive Traumata wird von J. Alexander die symbolische Transformation der Vernichtung und Vernichtungsandrohung empfohlen, die aus Opfern, Überlebenden des Holocausts und Nachkommen sowie einer weltweiten sensiblen, empathischen Gemeinde kollektive Traumata einerseits und andererseits Schuld und Mitgefühl (Identifikation) verursacht hat.
Man muss natürlich einsehen, dass ein Ereignis, das ein Trauma verursacht, logisch immer in der Vergangenheit liegt. Dadurch verleiht es einer traumatisierten Person eine historische Dimension und fordert mit schwächer werdender Intensität eine Beschäftigung mit dem Erlebnis der Vergangenheit in der Gegenwart. Es ist nach La Capra eine Unterscheidung zu treffen zwischen historisch begründetem Trauma und einem transhistorischen Trauma, das als „Trauma“ der zweiten oder dritten Generation verstanden wird. Durch Sprechen oder Schweigen wird offenbart, dass ein Mensch durch ein verstörendes Ereignis getroffen wurde, ohne dass man Aussagen über den Mechanismus herleiten kann.
Sprechen über Trauma bedeutet hier, im Sprechakt das Trauma sowohl zu erinnern als auch zu konstruieren. Der konstruierende Teil kann dann Teil einer empirischen Untersuchung werden. Solange es nur als individuelle Erinnerung konzipiert wird, hat das Trauma keinen Zugang zu einer wissenschaftlichen Beforschung, auch nicht durch eine Erzählung, die zwar eine Konstruktion ist, jedoch keine Exaktheit beanspruchen kann.
Wenn also zahlreiche Kurden an den Giftgasangriffen Saddams sterben oder mit letzter Kraft fliehen, dann haben die überlebenden Bewohner Halabjas insofern ein kollektives Trauma, weil sie derselben Lebensbedrohung ausgesetzt waren. Das Ereignis definiert das Trauma, nicht die einzelnen posttraumatischen Symptome. Die Folgephänomene fallen folglich sehr unterschiedlich aus und sind nicht signifikant für eine Definition. Wenn also Kurden und Kurdinnen untereinander ihre inneren posttraumatischen Befindlichkeiten erzählend austauschen, treffen sie auf Menschen, die zumindest ähnliche Veränderungen an sich feststellen, was Therapeuten nur durch Vorstellungen halbwegs, oft unzureichend hinkriegen. Wenn Traumatisierte aber eine posttraumatische Diagnose erhalten, besagt diese PTBS, dass sie dieselbe innere Verfassung aufweisen, die sich aus einer gebündelten Störung eines Normalbefindens zusammensetzt, was wohl nie in gleicher Weise der Fall ist. PTBS homogenisiert ziemlich gewaltsam oder rigoros somit die individuellen Bearbeitungen von intensiver Lebensbedrohung. Das aber macht nicht nur die Diagnose für individuelle Behandlung untauglich, führt mithin zu einer distanzierten Haltung beim Diagnostiker, indem er den Leidenden bereits mit einem vorhandenen Schema, das nicht aus seiner Erfahrung stammt, betrachtet und macht zudem die Diagnose für wissenschaftliche Forschung ungeeignet. Betroffene durch dieselben Ereignisse, die einen ähnlichen Aufruhr im Inneren hinterlassen, können sich dadurch besser entlasten, als es Therapeuten vermögen, die sich an eine Diagnose binden. Dies ist ein Plädoyer für Betroffenengruppen, die jedoch nicht auf die Anerkennung durch die Umgebungsgesellschaft verzichten können. Anerkennung meint nicht rhetorische Phrasen, sondern materielle Absicherung durch das Gesetz, die Rechtsprechung, Entschädigung und behütendes Verhalten.