Immer wieder frage ich, was das psychische Trauma in unserer Zeit zu einem Schlüsselbegriff des individuellen und kollektiven Selbstverständnisses gemacht hat und was der Kern ist, der sich so großer Akzeptanz und Popularität in Diagnostik, Therapie und Kultur erfreut. Alle Elemente des Lebens werden in der Moderne psychologisiert: Politik, Ökonomie, Kunst, Sport, und vieles mehr, mit einem Wort: die Existenz des Menschen, seine Hindernisse und Verletzungen. Durch die Erfindung des Psychotraumas hat die Psychologie eine Aufladung oder Erhöhung erfahren, ohne transparente Eindeutigkeit zu gewährleisten; darin ähnlich intransparent wie die Religionen. Eindeutigkeit zu erlangen, ist mit Sprache sowieso nicht möglich. Wer immer in Regionen der Psychologie Antworten auf Probleme unserer Zeit sucht, lenkt sich von der Analyse ökonomisch-kapitalistischer Strukturen und der im Verborgenen agierenden Macht ab.

       Das Lebendige benötigt einen Körper, der die Lebendigkeit belegt und wahrnehmbar macht. Der lebendige Körper wird ebenso zum Forschungsgegenstand wie auch leblose Körper. Zwar ist die stoffliche Physiologie des menschlichen Körpers im mikroskopisch-chemischen und makroskopisch-physikalischen Bereich noch keineswegs erschöpfend bekannt, die zweite Ebene existenzieller Erfahrung erhält als Psyche, die sich nur scheinbar für existenzielle Zusammenhänge des Menschen öffnet, indes einen wachsenden Rang: ohne psychologische Erklärungen für Probleme menschlicher Existenz geht heute gar nichts mehr. Die Psyche ist stets Reaktions- und Motivationsinstanz zugleich. Die Psychologie hat folglich der Religion bei Antworten auf ungeklärte und unerklärliche Fragen von Existenz, Sinn, Bedeutung, innerem Befinden und äußeren Lebensbedingungen den Rang abgelaufen, kann jedoch, den Hauptströmungen der offiziellen Lehrmeinungen zum Trotz, nie zuverlässige Bedeutungen zur Verfügung stellen, obwohl sie diesen Anspruch hat.

Sinn und Bedeutung, Zweck und Ziel sind keineswegs unwandelbar, sondern zeigen in unterschiedlichen Epochen unterschiedliche Akzente, sind mithin kulturell bestimmt. Die Kultur der Bedeutung des Traumas ist in Europa von der altgriechischen und alttestamentarischen Zweiteilung in Körper und Seele in Gefangenschaft genommen worden und gestattet keinen Ausbruch aus diesem Schema. Zahllose Wächter aus Wissenschaften, Kunst und Literatur verhindern ein Entweichen. Heute kann niemand bei uns Euroamerikanern ohne diese Zweiteilung die Welt einschließlich der Menschen erklären oder verstehen.

       Während das Verständnis körperlicher Verletzungen kaum noch Probleme bereitet, ist der Mechanismus psychischer Verletzungen, der als traumatische Folgeerscheinungen vom Sinn und von der Bedeutung her konzipiert werden und sich im Inneren und Unsichtbaren eines Menschen abspielen, in vielen hypothetischen Versuchen vorgestellt, aber noch nicht empirisch nachgewiesen worden. Unsichtbarkeit provoziert Glauben und Spekulation, die auf Theorien verzichten können. Es genügt keineswegs zu sagen, ein negativ definiertes Erlebnis hätte ein Trauma verursacht, weil die negative Definition von Erlebnissen nicht für alle Menschen zu allen Zeiten gilt. Der Stich mit einem Messer hinterlässt bei allen Menschen eine umschriebene Störung der betroffenen Organe. Die ambivalente Gleichsetzung psychischer Verletzungen mit körperlichen stößt immer wieder an Grenzen. Das ist und bleibt ein Erbe aus grauer Vorzeit. Was damals geteilt wurde, kann nicht mehr zusammengefügt werden. Wenn schon der Körper vermodert, retten wir wenigstens das Überdauern eines Teils, das wir Seele nennen und das metaphysisch zur Transzendenz befähigt ist. Zudem ist noch nicht eine überzeugende Definition von Störung gelungen.

Die Verletzung der Psyche als Lebensbedrohung liegt nicht allein Gehirn sondern durch Stresswirkungen im gesamten Körper, in dem sich eine Störung manifestiert (von den Sinnesorganen: traumatische Blindheit oder Taubheit bis zum Bewegungsapparat: Paresen und Ataxien sowie den Drüsengeweben: z.B. Schilddrüse, Nebennieren, Keimdrüsen. Der Körper ist also nicht der ausschließliche Befehlsempfänger des Gehirns, sondern er ist in der Lage, die Arbeit des Gehirns zu strukturieren oder zu beeinflussen, was beispielhaft an rituellen Tänzen, an Bewegungstherapien und Regelkreisläufen deutlich wird. Ohne Antwort des Körpers verkümmert das Gehirn, wobei andererseits alle Hypersekretionen von Körperdrüsen das Gehirn überschwemmen und zu Fehlfunktionen führen können.

Immer mehr Menschen, die sich mit Psychotraumata befassen gelangen zur Auffassung, dass nicht primär oder allein das traumatische Erlebnis für die Folgephänomene verantwortlich ist, sondern vor allem der Sinn und die Bedeutung, die von Betroffenen dem verletzenden Erlebnis und den danach auftretenden Symptomen gegeben werden und sich oftmals als irritierte Schuldempfindungen oder Scham äußern.

       So scheinen die Folgen traumatischer Erlebnisse im psychologischen Sinne auf einen Körper verzichten zu können, der sich von Sinn und Bedeutung gelöst hat. Eine Wiederherstellung von Körper und Psyche könnte sehr hilfreich sein. Neurowissenschaften beanspruchen, auf dem Weg der Vereinigung zu sein. Ein Termin für eine Hochzeit bleibt aber wohl in weiter Ferne. Traumatische Erlebnisse überwiegend auf der Ebene von geschädigtem Lebenssinn oder zerstörten Bedeutungen zu konzipieren und zu verstehen (Judith Herman, Ronnie Bulman-Janoff), sind als moralische Erklärungen zu bewerten, die stets den „richtigen“ Sinn als Orientierung vorgeben. Solch ein „richtiger“ Sinn ist aus sozialen Zwecken kulturell hervorgebracht. Dies bedeutet jedoch, den Körper wie beim bestimmten Arten von Schmerz nur als Wegweiser oder Vermittler zur Psyche zu betrachten. Das Konkrete des Körpers verliert sich in abstrakten Bedeutungen von Psyche, (die nur durch kulturelle Prägung erfolgt sein können) nachdem existenzielle Krisen hereingebrochen sind. Wir erleben die konkrete, dingliche Gewalt und suchen ihr und ihren Folgen einen Sinn zu verleihen, was nur im abstrakten, symbolisierenden Milieu des Sinnlichen, des Fühlens und der Emotionen gelingen kann, d.h. im Unsichtbaren, nur der Interpretation Zugänglichen.

Die wesentliche und heute präferierte Sonde zum Unsichtbaren ist Empathie. Empathie ist der Zugang zum Unsichtbaren des Anderen, d.h. zu seinem Leiden. Sie bleibt selbst im Unsichtbaren verborgen, wenn sie sich nicht durch aktives Handeln zeigt.

 

Der traumatische Einschlag, z.B. als Folter, ist in der Wahrnehmung des unterworfenen Subjekts ein vielschichtiges Ereignis. Daher ist Einschlag nicht der richtige Begriff. Das Sensorium des unterworfenen Subjekts ist einer Fülle von Wahrnehmungen ausgesetzt, die jeweils unterschiedliche Verletzungspotenzen haben. Stress fasst diese unterschiedlichen Wahrnehmungen durch optische, akustische, olfaktorische und taktile Reize zusammen und lässt sie verdichtet als Angst oder Erschöpfung erleben. Stress enthält eine Zeitkomponente, soweit von Folter oder Vergewaltigung die Rede ist. Die Folgen der Wahrnehmungen sind in unterschiedlichen Gehirnarealen angesiedelt. Multifaktorielle Registrierung durch Sinnesorgane führt zu multifokaler Speicherung, ohne dass etwas über Präferenzen der Erinnerung gesagt wäre. Manche Erinnerungen führen zur Erschütterung, während einige andere Triggerfunktion haben. Körperliche Schmerzen werden im allgemeinen schneller in den Hintergrund gedrängt als verbale Entmenschlichung, es sei denn, sie nähmen beide den Charakter von Phantomschmerzen an: Erniedrigung und Demütigung waren in der Vergangenheit präsent, in der Erinnerung werden sie gegenwärtig und werden schmerzlich wahrgenommen wie Phantomschmerzen, weil Integrität, Würde, Orientierung verletzt wurden oder verloren gingen.

Was also ist es, das sich zu posttraumatischem Stress zusammensetzt? Es scheint die Verletzung von Symbolen und symbolischer Ordnung zu sein, die sowohl bei der körperlichen wie der psychischen Verletzung im Spiel sind. Unter Folter verstellen die schneidende Angst und das allein noch wirksame Vegetativum die Wahrnehmung von Verletzungen wichtiger Symbole oder symbolischer Ordnung, die eine Person konstituieren und sozial stabilisieren. Das wird erst nach der Folter, dem Überleben, im Abklingen des realen Stress erkennbar: „Da hat ein mächtiger Uniformierter meine Würde verletzt, mein Recht gebrochen, meine Existenz bedroht“. Und wenn es dann keine Satisfaktion, keinen emotionalen Ausgleich gibt, die Lücke zur Gerechtigkeit nicht akzeptiert werden kann, wenn und weil sie offen bleibt, erscheinen Symptome als innere Konflikte, die vor allem anzeigen, dass die betroffene Person sich damit nicht abfinden oder gar in einer solchen Welt nicht zur Ruhe kommen kann und vielleicht nicht leben möchte.

       Noch ein Wort zu zwei Schlüsselbegriffen der Therapie des Psychotraumas: Care und Cure. Sie begründen therapeutische Interventionen. Im Bereich unterstützender Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen und Asylsuchenden habe ich den Eindruck gewonnen: Care ist Cure und wenn sie richtig angewandt wird: durch Zuhören, praktische Alltagsunterstützung und Widerspruch nur bei Selbstbeschuldigungen. Care kann sehr wohl den Verursacher oder den verursachenden Mechanismus traumatischer Folgesymptome benennen. Sie muss dazu nicht Bedeutungen aufzwingen, wie es in Therapien oft geschieht. Wenn man therapeutische Interventionen als Angebot versteht, lässt sich das hierarchische Verhältnis zwischen Therapeutin und Klient auflockern. Mit der Diagnose PTBS, so argwöhne ich, zieht eine intellektuelle Kolonisierung in die Traumatisierten durch ExpertInnen ein, die von sich behaupten, alles über das Wirken des Traumas zu wissen, während traumatisierte Flüchtlinge und Asylbegehrende in Sprachlosigkeit und Unkenntnis verharren und erst in die Kultur der Traumatherapie eingeführt werden müssen, bis sie den Traumabegriff auf Armut, Diskriminierung, fehlende Entwicklungschancen, Gewalt und Verfolgung unstatthaft, wie bayerische Politiker finden, ausdehnen.

Care muss aber keineswegs in der interkulturellen Begegnung einräumen, dass alle kulturgebundenen Muster von Gewalt (Kindersoldaten, Umgang mit Frauen und ihrer Sexualität) ohne Interventionen akzeptiert werden müssen. Da kulturelle Prägung nicht statisch, sondern fließend verläuft, indem sie für die individuelle Prägung Anleihen in anderen Kulturen gestattet, ist solidarische Unterstützung nach Flucht und Vertreibung immer auch eine Öffnung nach beiden Richtungen und verlangt von beiden Dialogpartnern Aufmerksamkeit und Flexibilität.