„PTSD continues to serve a political purpose.“      (  Blog Fred C. Alford zu Trauma und PTSD, Januar 2017)

 

Zur posttraumatischen Belastungsstörung, zur somatischen Symptom-Störung (SSD) oder heute: somatische Belastungsstörung sowie weiteren seitenfüllenden Diagnosen im DSM-5, die mit Definitionen als Entdeckungen auftauchen, aber in dialektischer Weise wohl eher die Entdecker definieren, sollen hier einige Überlegungen ausgebreitet werden, die mich ins Grübeln versetzt haben. Besonders die SSD nimmt eine Stellung im DSM ein, die methodisch und von der Zuordnung etliche Fragen aufwirft. Es geht bei etlichen Diagnosen im DSM-5 um Sachverhalte, die scheinbar auf der Hand liegen und daher keinen Zweifel zulassen. Und was auf der Hand liegt, kann nicht nur von Zauberern zum Verschwinden gebracht werden. Manchmal reicht genaues Beobachten und das Befragen von Begriffen.

Beginnen wir mit einem Ausschnitt aus einem Abstract von 9 Autor*innen: It... (somatic symptom disorder, S.G.) „defines the disorder on the basis of persistent somatic symptoms associated with disproportionate thoughts, feelings, and behaviors related to these symptoms.“ Folgende Autor*innen, von denen ein Großteil aus dem biostatistischen Hause stammt, übernehmen die Verantwortung:

Dimsdale JE, Creed F, Escobar J, Sharpe M, Wulsin L, Barsky A, Lee S, Irwin MR, Levenson J. schreiben dies in ihrem 2013 veröffentlichten Artikel „Somatic symptom disorder: an important change in DSM“. (Journal of Psychosomatic Research, 75 (3) S. 223-228.)   

      Hier wird ziemlich wörtlich übernommen, was Robert L. Spitzer 38 Jahre zuvor im American Journal of Psychiatry 1975 132:11, 1187-1192 in einem Aufsatz:„Clinical criteria for psychiatric diagnosis and DSM-III“ formuliert hatte, wenn auch in einem anderen Zusammenhang und wohl auch zu einem anderen Zweck. Er meinte u.a. auch PTSD, der er eine somatische Grundlage/Folge unterstellte. Er schrieb:

„persistent somatic symptoms associated with disproportionate thoughts, feelings, and behaviors related to these symptoms“. Hier waren wohl Schüler*innen am Werke, welche die Absichten des DSM-III-Vorsitzenden gelesen und vollendet hatten, ohne sich (zwei Jahre vor dessen Tod und ein Jahr nach Spitzers öffentlicher Entschuldigung für eine Abneigung verratene Untersuchung, mit der er noch 2003 die therapeutische Behandlung der Homosexualität aus psychiatrischer Sicht empfahl) auf Spitzer zu beziehen. Es stellt sich hier nicht die Frage, ob ein geistiger Diebstahl oder Plagiat vorliegt. Vielmehr stellt sich die Frage nach der Bedeutung der deckungsgleichen Aussage. Welche Interessen wurden bedient, woher kam der Anschub? Eine Beurteilung fällt schwer, obwohl man einräumen muss, dass diese Formulierungen auch am Beginn der Psychosomatik gefallen sein können. In beiden Fällen handelt es sich um eine äußerst problematische Kategorie, die berichtet werden muss und sich einer Objektivierung entzieht, weil sie ein Bündel von Sorgen und Ängsten wegen körperlicher Beschwerden repräsentiert, ohne dass ein medizinischer Nachweis für das Krankheitsbild (zur Zeit) möglich ist. Zugleich wird bestätigt, dass diese Diagnose (SSD) durch Exklusion (also als negatives Kriterium) hervorgebracht wird und ohne medizinische Begründung den mentalen Störungen zugeordnet werden soll. Angesichts der Tatsche, dass in den Jahren 2013/14 in den USA mehrere dokumentierte Fälle zwangsweise mit dieser Diagnose in psychiatrische Kliniken eingewiesen wurden, stellen sich bei diesem diffusen Erscheinungsbild mehrere Fragen: Wer befindet darüber, was unverhältnismäßige (disproportionate) Gedanken, Gefühle und Verhalten sind, die offenbar (VT wird empfohlen) eine Beziehung zu einem erhöhten Stresspegel (Angst als Ursache oder Folge?) haben? Ein echtes Problem für Biometriker in einer narzisstisch geprägten Zeit! Als  Maßstab wären dann richtige oder verhältnisgemäße Gefühle und Gedanken anzusetzen. Das kann nur ein Statistiker behaupten, der aus der zahlenmäßigen Mehrzahl der Menschen mit „richtigen“ und verhältnisgemäßen Gedanken und Gefühlen, die sich folglich nicht zu Beschwerden, Auffälligkeiten oder Schmerzen äußern, einen Maßstab bildet, mit dem er die unverhältnismäßigen abgrenzt. Wer und wie stellt man die kausale Beziehung her zwischen Gedanken, Gefühlen und Verhalten einerseits und somatischen Phänomenen andererseits („related to these symptoms“) und einem Dauerstress mit Reizüberflutung im Arbeitsalltag und zusätzlich anerkennungsarmen Leben, das eine psychische Verletzung zur Folge gehabt haben mag, wenn man realisiert, dass man nur als Funktion im neoliberalen System zählt.

Was bedeutet denn eigentlich „somatic symptoms“ anderes als eine aus dem Gleichgewicht geratene körperliche Chemie/Physiologie? Für Allen Frances, den Vorsitzenden bei der Erstellung des DSM-IV, wurde diese Fragestellung zum willkommenen Ansatzpunkt für die pharmazeutische Industrie: „The biggest misuse (der reduktionistischen Psychiatrie, die nur Symptome sieht und nicht Patienten, S.G.) is that pharmaceutical companies began selling diagnoses as all due to chemical imbalance that can be treated with a pill.“

Heißt dies, dass in einem solchen freudlosen und ruhelosen Leben mit psychischen Verletzungen die Mehrzahl der Betroffenen nicht oder nicht gravierend aus dem chemisch-physiologischen Gleichgewicht gerät, und daher nur willkürlich zum statistischen Maßstab für chemische Prozesse des Blutdrucks, des Hautwiderstands, der Cortisolproduktion usw. gemacht werden kann, weil sie, wenn überhaupt, nur unter Laborbedingungen untersucht werden kann? Deshalb werden allein berichtete Gedanken, Gefühle und Verhalten für Diagnosen und angestrebte Korrekturen herangezogen. Und die unterliegen Beeinflussungen, Ungenauigkeiten der Beschreibung, der Erinnerung, der Bedeutungszuschreibung und bohren in den Kern von Subjektivität, jedoch nicht genuiner Subjektivität, sondern einer gesellschaftlich überformten, denn nur diese gibt es. Ihre Interpretation durch Forscher*innen wird bereits durch die jeweiligen Fragestellungen und (finanzierten) Interessen sowie Gehorsamsbereitschaft auf Seiten der Probanden einengend vorgegeben. Die in Frage stehende Beziehung zwischen Symptomatik und Gefühlen, Gedanken und Verhalten setzt selbstverständlich voraus, dass die diagnostische Person weiß, wie die angemessenen Gedanken, Gefühle und Verhalten aussehen und beschaffen sind.

In der Mitte der 1970er Jahre begann für die Öffentlichkeit sichtbar die Favorisierung der biologischen Psychiatrie, die alle bis dahin ausprobierten Reformen der psychiatrischen Behandlung aus Ungeduld und Profitstreben wegfegen wollte und leider ziemlich erfolgreich war. Robert L. Spitzer hat als Biostatistiker diesen Prozess vorangetrieben. Psyche wird von der biologischen Psychiatrie als passives Reaktionsfeld auf äußere Stimuli betrachtet, sie hat keine kreativen und konstruktiven Dimensionen, wenn es um gestörte Muster geht. Aber nicht jeder, der leidet, muss auf Kreativität und Konstruktivität verzichten.

Was „Big Pharma“ unterstützt, steht auf dollarbreiten Füßen, nicht nur durch getarnte oder unverborgene Zuwendungen, sondern durch ein System, in dem Forscher*innen schon früh Unterwerfung einüben, was meist unbewusst bleibt oder nonchalant oder mit Entrüstung zurückgewiesen wird, weil es schließlich um Karrieren geht.

         SSD bezeichnet eine behandlungsbedürftige Störung, die sich aus mehreren Komplexen zusammensetzt. Obwohl man den Mechanismus nicht kennt, bezeichnet die Diagnose ein Geschehen in der realen Welt, eine Diagnose, die ex negativo gebildet wurde und deshalb von eingebildeten oder vorgetäuschten Syndromen abgegrenzt werden muss. Wer zuvor ein Hypochonder war, erhält jetzt eine psychiatrische Diagnose. Die Diagnose bringt durch Benennung eine Störung hervor, die ihrerseits die Diagnose legitimiert. Das ist aber eine Bedeutungszirkulation zu Lasten von Menschen. Darin liegt kein Fortschritt.

         Im DSM-5wird das Konzept der "Negativdiagnostik" (man findet keine physiologischen Ursachen), das noch im ICD 10 vorherrschend war, gemeinsam mit dem Begriff der "somatoformen Störung" aufgegeben. Vielmehr wird von einer "somatischen Belastungsstörung" gesprochen und es genügt, wenn ein oder mehrere belastende oder beeinträchtigende körperliche Symptome vorhanden sind, die auf umschriebene Auslöserereignisse verweisen. Psychosoziale Dysfunktionalität, die Leiden erzeugt, wird zum Erklärungsmuster zahlreicher Erkrankungen und natürlich umgekehrt. SSD operiert mit klinischer Diagnose in einem Feld, das man früher voreilig als „eingebildet“ oder „psychisch“ abgetan hat, obwohl ein Leidensdruck registrierbar war. Darin sehen manche eine Ehrenrettung von SSD. Sagen wir es einmal so: Beim Suchen im Brunnen nach dem verlorenen Ring wird auch weiteres hereingefallenes Material gefunden, darunter neben Abfall manchmal auch Wertvolles.