Sepp Graessner

 

Rufen wir uns noch einmal ein Statement aus der Frankfurter Rundschau vom 23.11.1993 in Erinnerung. Da hieß es klug und weitsichtig vor 25 Jahren:

 

„Für jeden Menschen gilt, was Folterüberlebende im Exil in besonderem Maße betrifft: Entwurzelung und Orientierungsmangel, Sinnkrise und Zerfall der vormals organischen, natürlichen Gemeinschaften, erzwungene Mündigkeit angesichts von allzu vielen verschwommenen Optionen, all dies sind geschichtliche Kräfte, die der einzelne auch als persönliches Problem erfährt, deren Ursachen jedoch nicht primär in seiner individuellen Biographie liegen, sondern dieser vielmehr in umgekehrter Weise den Rahmen vorzeichnen.“

       

Bei Überlegungen zum Kern von Traumata sollten wir uns auf die im Zitat angesprochenen „geschichtlichen Kräfte“ einlassen, da von diesen geschichtlichen Kräften Motive und Handlungen ausgehen und begründet werden, die Wenige in Behaglichkeit, sehr viele aber in traumatisches Leiden führen. Diese geschichtlichen Kräfte liegen bis auf sehr geringe Ausnahmen nicht in der individuellen Biographie, sondern sie bilden den mit repressiven Maßnahmen ausgestatteten (staatlichen) Rahmen, in dem alltägliche und besondere Erlebnisse ausgehalten und bearbeitet werden müssen, und zwar ohne Einwilligung des Einzelnen und ohne seine unmittelbare Verantwortung. In diesem Rahmen, den wir leichtfertig Freiheit nennen, kommt es im Laufe der individuellen Entwicklung zur Begegnung mit Ressourcen der Bewältigung von alltäglichen und speziellen Stressoren; d.h. die Summe der Ressourcen ist nicht nur eingeengt, sondern auch unterschiedlich verteilt, weil es große und kleine, eiserne, goldene und hölzerne oder papierene Rahmen gibt, die den Spiel- und Leidensraum begrenzen.

        Dem System Kapitalismus sagt man zurecht nach, dass es nicht nur das Denken und Fühlen ökonomisiert, Mitmenschlichkeit zur Ware macht, die individuellen Psychen durchdringend manipuliert, allein das kapitalistische Subjekt für vollkommen und alternativlos hält, soziale Rollen erfindet und fixiert. Die Orientierung, die es übriglässt, ist bereits gleichfalls von diesem System kontaminiert und infiltriert. Sie enthält alle differenzierenden Elemente von Macht und Hierarchie, denen wir eine evolutionäre und biologische Triebkraft unterstellen. Von Entfremdung möchte ich nicht mehr sprechen, weil sie wohl ein moralischer Begriff ist und weil ich den ursprünglichen Zustand – vor der Entfremdung – nicht kenne und sich vermutlich jeder etwas anderes unter diesem Urzustand vorstellt.

        „Geschichtliche Kräfte“, die sich in ökonomischer, rechtlicher und Partizipations-Ungleichheit ausdrücken und Kriege, Bürgerkriege, Gewalt, Katastrophen hervorbringen und Herrschaftselemente durch alle Schichten und zwischen den Geschlechtern installieren, nehmen Einfluss auf das Dasein vieler Menschen, schädigen das Leben und die Gesundheit und stoßen am Ende der Wirkungskette auf den psychomedizinischen Komplex, dem die eigene schweigende Ohnmacht als notwendige, rituelle Handlungsfähigkeit vergoldet wird. Hierbei handelt es sich um eine Analogie zur Automobiltechnik, an dessen Ende die Reparaturwerkstatt oder der Schrottplatz wartet. Das ist für Menschen eine sehr beschränkte Perspektive, zu deren Verleugnung dem Menschen die Hoffnung eingepflanzt wurde. Für mich heißt das: das leidende Leben liegt nicht in der Absicht einzelner Kapitalisten, das kapitalistische System bedient sich aber des leidenden Lebens als Grundnahrungsmittel, weil es nach seiner Logik Märkte schafft, Hierarchien und Abhängigkeiten implantiert, Unmündigkeit verfestigt und nie satt wird.

Zu den geschichtlichen Kräften, die psychisches Leiden bewirken, zählt auch der Spezialisierungsfanatismus in einer unübersichtlichen Komplexität der Welt, der gerne der menschlichen Neugier zugeschrieben wird, eigentlich aber ein Kennzeichen des bewusstseinsvernebelnden Kapitalismus ist. Wenn nichts mehr sicher, keine Beziehung zuverlässig ist, das Heute in seiner Atemlosigkeit schon als veraltet gilt, dann werden Fragen zu Bedeutungen, Sinn, Interessen und Zwecken die einzige Chance des Kontaktes mit dieser Welt, auch wenn man keine befriedigende Antwort erhält. Wer fragt, zögert in seinen Handlungen, gewinnt die Distanz, die für Weitsichtige Betrachtungen möglich macht, weil Distanz sich für historische Dimensionen öffnet. Und wenn er/sie handelt, dann nicht wie ein dekapitierter Frosch, dem nur noch Reflexe bleiben.

Mit den Mosaiken der heutigen Reflexpolitik, die nur Rücksichten auf bestimmte Klientel nimmt, aber über keine langfristigen Vorstellungen verfügt, ist eine weitere irritierende geschichtliche Kraft angesprochen, die wie in der Armuts- oder Ungleichheits-“Bekämpfung“ tiefe Verunsicherungen und Leiden schafft. Wie in altrömischen Mosaiken sind einige Steinchen erhalten, man kann das Vorhaben der Künstler erahnen, die Farben z.B. eines unvollständigen Kleides kann man sich vorstellen, aber nicht wissen. Nun hatten die Mosaikkünstler früher ein komplettes Bild abgeliefert, heute begnügt man sich, um sich nicht auf ein Bild festzulegen, mit einzelnen Steinchen. Es geht bei der Reflexpolitik gar nicht mehr darum, ein vollständiges Bild zu bekommen und zu vermitteln. Daher können allein zweifelnde Fragen versuchen, aus den verstreuten Mosaiksteinchen ein taugliches Bild von Realität zu gewinnen, deren gesellschaftliche Konstruktion zugleich für die Bedingungen, Traumata zuzufügen, verantwortlich ist.

Wem das bisher Gesagte zu kryptisch erscheint, sei daran erinnert, dass psychische Traumata stets eine politische und verantwortliche Komponente enthalten, weil sie aus dem gesellschaftlichen Raum kommen und schweigende Zustimmung erfahren oder durch Verleugnung in die individuellen Keller verbannt werden, zuweilen auch nach extremem Stress nicht die adäquate Beruhigung für Erregte, Erstarrte, Entwertete und Gedemütigte bietet.

Das heißt, der zitierte Rahmen zeichnet zwar die Begrenzungen für die Bewältigung von Traumata vor, ist jedoch, als von Menschen gemachte Fakten und Bedingungen, auch für traumatische Erlebnisse mit-verantwortlich. Das ist es, was ich meine, wenn ich die politische Komponente von Trauma in den Vordergrund meiner Betrachtungen rücke. Und was ich zudem meine, wenn ich das individuelle Leiden als gesellschaftliches Problem erkläre. Daher halte ich am Ende der Wirkungskette von Macht und Gewalt, die psychische Traumata von Subjekten hinterlässt, eine Individualtherapie für ergänzungsbedürftig, weil sie die politische Dimension durch ökonomische Interessen, Machterwerb, Gesetze und Durchsetzungsinstrumente nicht im Inneren von Subjekten finden kann.