Sepp Graessner

 

Die „Willkommenskultur“ war in Deutschland noch einmal ein Aufblühen, später dann ein Aufbäumen teilkollektiver empathischer Empfindungen, bevor sie zwischen den politischen Parteien und Lagern zerrieben und ein Opfer taktischen Kalküls wurde, zuweilen auch durch allzu innige Identifikation mit Notleidenden zur Erschöpfung führte. Gefühle, Mitgefühle und das Schicksal von Flüchtlingen und Asylbegehrenden sind ein besonderes Kapitel nicht nur der Moral, sondern auch innerhalb unseres Rechtssystems, das die Reichweite menschlicher Äußerungen zu privaten und kollektiven Gefühlen vorschreibt.

Das europäische Asylrecht versteckt die aus anthropologisch primären Gefühlen der Mitmenschlichkeit und des Mitleids zusammengesetzte Regung, Verfolgten (von wilden Tieren und noch wilderen Menschen) Zuflucht zu gewähren, hinter rationalen handhabbaren und damit taktischen Regelungen, sodass vom ursprünglichen spontanen Impuls nur noch ein gesetzlich vorgezeichneter Weg normierter Abläufe übrig bleibt. Durch eine gesetzliche Regelung von Empathie, die ja schon durch die Beschränkung auf politisch Verfolgte Schaden genommen hatte und „verregelt“ wurde, kommt Mitmenschlichkeit unter die Räder der Justiz, wo sie mühsam dahinsiecht, soweit sie sich auf Flüchtlinge bezieht. Unter den Vorzeichen eines Pragmatismus, der sich auf Mehrheiten mit selektiver Empathie stützt, wird die je nach Umständen unterlassene Hilfeleistung als Straftat auf hiesige Zeitgenossen in unserem Rechtsraum beschränkt. Das Recht gilt nur in einem umschriebenen Nationalstaat. Solidarische und mitfühlende Emotionen machen aber nicht an den Grenzen Halt. Sie gelten der Gattung. Ihnen müsste als Gefühle der Primat eingeräumt werden, obwohl eingeräumt werden muss, dass sich Empathie auch falsche Orientierungen wählen kann. Empathie braucht den Anderen, um überhaupt in Erscheinung zu treten. Sie muss sich immer wieder erproben und benötigt dazu nicht nur den signifikanten nahen Menschen sondern auch den fernen Anderen.

Erst mit der zentralen Stellung des Eigentums im gesellschaftlichen Selbstverständnis kommen taktische Erwägungen zu primären Gefühlen ins Spiel. Eigentum, das man verlieren könnte, hat seither den Primat vor dem Ausleben spontaner Empfindungen, die im Verlauf zivilisatorischer Entwicklung überhaupt erst Zusammenleben und Kooperation ermöglicht haben. Die Angst vor dem Verlust des Eigentums wurde seit Menschengedenken zum Motor für kurzfristig taktische Einschränkungen der Asylgewährung, weil nämlich mitmenschliche Hilfegewährung in rechtliche Vorschriften verpackt, zur Staatsaufgabe erhoben und damit unsichtbar gemacht wurde. Damit wir keine Angst vor dem Verlust von Eigentum haben müssen, nehmen wir bewusst qualifizierte Flüchtlinge und Migranten auf, die unser kollektives Eigentum vermehren und schieben jene trotz ihrer Gefährdung z.B. in Deutschland und Afghanistan ab, von denen wir uns keinen eigentumsmehrenden Vorteil versprechen. Dieser Gebrauch von Menschen als Ware hat einen äußerst muffigen Geruch, den alle Menschen ausdünsten, die Fremde nach Nützlichkeit unterscheiden.   Da unsere heutige Generation auch Kultur als ihr Eigentum betrachtet, wenngleich oft nur als ohne Verdienst ererbt und als Verbraucher, Eigentum, das man rauben, verdrängen und verfremden kann, zeigt sie ihr materialistisch orientiertes Verständnis von Wirklichkeit, in der man traditionelle symbolische Sinnwelten wie Kultur aktuell zur Ware machen kann und konnte, nachdem jedes Eigentum obersten Schutz genoss und für unabdingbar im Rahmen einer Identitätsbildung erklärt wurde. Wer aber Fahne, Landesgrenzen, Hymnen oder äußere und zufällige Körpermerkmale zur eigenen Identitätsbildung braucht, der hat bereits in seiner primären Sozialisation Defizite erlitten. Vielleicht entsteht empathiearme Identität ja aus der Kultivierung von Defiziten. Das können vermutlich Milliardäre besser beantworten, wenn sie den Machtaspekt nicht verschweigen.

Das heißt, eine Institutionalisierung der reduzierten Emotionen findet statt, wenn es um Asylsuchende und Flüchtlinge geht. Die Priorität des rationalen Regelwerks des ziemlich wasserdichten Asylrechts im Umgang mit Flüchtlingen stumpft die dahinter darbenden primären Gefühle ab, gibt das Recht als Interessenverteidigung aus und diffamiert solche Empfindungen des Mitgefühls als „Gefühlsduselei“. Ob bayerische Politiker oder Himmler und Sauckel – sie gebrauch(t)en diesen Ausdruck als Warnung vor Mitgefühl. Das darf man als Politik zur Regulierung von Affekten, oft als Entertainment verkleidet, in Bierzelten angeboten und polizeilich überwacht, bezeichnen. Politik kann Gefühle dämpfen oder erregen, um ihre Ziele zu verfolgen, und wir sollen offenbar in aller Naivität denken, es handele sich um unsere selbst hervorgebrachten spontanen und unmittelbaren Gefühle. Welche Illusionen!

Vivo ergo erro. Ich lebe, also irre ich. Aber nicht das Leben ist ein Irrtum, jedoch das Leben leben, das ist voller Irrtümer. Irren aber kann man aber wohl nur, wenn man bereits ein Urteil gefällt oder eine Handlung vollzogen hat, bevor der Maßstab für ein Urteil oder eine Handlung erkennbar wird. Immer wenn Gefühle reguliert und normiert werden (sollen), lassen sich über die entsprechenden Maßstäbe nur Vorurteile hervorbringen, denn jedem rationalen Urteil gehen Gefühle voraus, Gefühle der Angst und des komplexen Gehorsams gegenüber einer sozial vermittelten Weltbetrachtung.

Exorzismus von Empathie – eine kurze zornige Einlassung