Sepp Graessner
Wo ist das Problem?
Zu guter Letzt möchte ich doch noch einige Überlegungen und Kommentare zur Geschichte einer Diagnose anstellen, wobei ich mich auf öffentlich zugängliches Material stütze (also kein Archivmaterial) und die Wandlungen im Verständnis der Diagnose über rund 40 Jahre verfolge. Man mag fragen, was denn an den kritischen Befragungen der Diagnose PTBS interessant sein soll und ob die behauptete Wirkmächtigkeit der PTBS nicht übertrieben sei. Warum sollte ein posttraumatischer Status psychosozialer Befindlichkeit nicht einen Namen und einen beigeordneten Katalog von Symptomen erhalten? Dabei stelle ich fest, dass die phänomenologischen Beschreibungen psychischer Verletzungen sich vor und nach 1980 nicht fundamental verändert haben, wohl aber die Klassifikationen, die in den meisten Fällen Präzision durch Quantität ersetzen, gleichwohl vorgeben, eine eigenartige Präzisierung von Evidentem anzustreben. Viel wissenschaftliches Know-how ist hier aus unterschiedlichen Disziplinen aufmarschiert, als gelte es, eine universelle Krankheit der Menschheit einzudämmen und ein Menschenbild von Opfern und helfenden Expert*innen zu entwerfen, das mit Elan und missionarischem Eifer über den Globus verbreitet werden müsse.
Ich weiß, dass ich als Kritiker der reflexionsarmen Anwendung einer posttraumatischen Belastungsstörung im diagnostischen Alltag gelte. Offen gesagt, das sind Zuschreibungen von Menschen, die nicht genau hinschauen. Grundsätzlich stützt sich jeder, der an der Dynamik von Psychotraumata interessiert ist, auf die Autoren und Autoritäten, die das eigene Grundempfinden und Basiswissen absichern und exkommuniziert jene Praktiker und Forscher sowie ihre Publikationen, die dieses Empfinden als Summe von plausibel erscheinenden Überlegungen verunsichern oder stören. Es kommt zu einer Verunsicherung einer Haltung, einer Meinung und einer Idee, die als Erfahrung von vielen anderen Zeitgenoss*innen stammt und durch Imitation (obsessiv oder opportunistisch) in sich aufgenommen wurde und dadurch Expert*innen erzeugt hat. Anwender sind Konsumenten. Sie fragen nur selten nach der Zusammensetzung eines Produkts, von dessen gefühlsprovozierender Wirkung Sicherheit ausgeht und Vertrauen erzeugt wird.
Die Entstehungsbedingungen der posttraumatischen Belastungsstörung setzen sich hauptsächlich aus der wissenschaftlich-methodischen Erforschung des uralt Alltäglichen, aus Akzenten des Zeitgeistes, aus Zufall und aus Akteuren aus Politik, Psychomedizin und Medien zusammen. Der Zufall spielt insofern eine Rolle, als in einem bestimmten Zeitraum eine Erfindung und Etablierung eines Diskurses auf begünstigende Akteure, unterschiedlich fördernde Interessen und ein allgemeines, auch emotionales Bedürfnis treffen muss, um wirkmächtig zu werden. Die „Kriegsneurotiker“ des ersten und zweiten Weltkrieges waren noch nicht Anlass genug, damit eine Diagnose entstehen konnte, die seit drei Jahrzehnten im Zeitgeist vagabundiert und Engagement motiviert. Man darf nicht unterschlagen, dass diffuse gesellschaftliche Schuld, US-Soldaten in einen verlorenen und verlustreichen Krieg geschickt zu haben, den Hintergrund bildeten, vor dem die Diagnose eine sozialpsychologische Entlastung darstellte.
Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS, PTSD) ist durch eine krakenartige Erfolgsgeschichte charakterisiert. Die Tentakel der Diagnose des psychischen Traumas erstrecken in viele Disziplinen und haben sich dort festgesaugt. Ein notwendiger Ansatz einer Kritik an der ausschweifenden „posttraumatischen Belastungsstörung“ sollte sich folglich auf die gesellschaftlichen Bedingungen der wirksamen Entstehungsgeschichte der Diagnose beziehen, die in ihrer Wirkgeschichte relativ jung ist, in ihrer Ideengeschichte aber eine über 100 Jahre währende Schwangerschaft aufwies, bis es zur Geburt von PTBS kam. Sie wurde in den vergangenen 30 Jahren trotz einiger Korrekturen zu einem Triumph der Klassifizierer, die ein weltweit existierendes Bewertungsmuster bedienen und in den 1970er Jahren der Psychiatrie aus einer Krise der Diagnostik und Glaubwürdigkeit halfen, die durch zwei bedeutsamen Publikationen verursacht worden war:
1) Psychiatrische Patienten erhielten im Rahmen des US-UK-Diagnostical Project in London häufiger die Diagnose bipolare oder affektive Störung, in New York wurden überproportional viele Schizophrene und Alkoholkranke diagnostiziert. Dies sei trotz gemeinsamer Sprache durch mangelhafte Kriterien der Beurteilung zustande gekommen. Durch standardisierte Verfahren sei es zu einer Annäherung der vergebenen Diagnosen gekommen.
2) Im Rahmen des so genannten Rosenhan-Experiments wurden 8 Pseudopatienten stationär aufgenommen, obwohl sie „normal“ waren und zum Schein geäußert hatten, sie hätten Stimmen gehört. Es handelte sich um bewusste Täuschungen und Provokationen, die das psychiatrische Beurteilungssystem herausfordern sollten. Der Spielfilm „Einer flog über das Kuckucksnest“ nahm die Erkenntnisse des „Experiments“ auf. Das „Experiment“ diente dazu, die Schwierigkeit nachzuweisen, eine sichere Trennung von Normal und Anormal zu machen .
Es wurde nicht eindeutig aufgeklärt, ob es sich um interpretationsbedürftige Ausnahmen oder ob es sich um Fehler handelte, die im psychiatrisch diagnostischen System angelegt waren. Jedenfalls verhalfen diese Auffälligkeiten der „Neo-Kraepelians“ genannten Gruppe mit präziseren Mess- und Befragungstechniken zu einer Vorrangstellung bei der Ausarbeitung von DSM-III. Robert L. Spitzer als Vorsitzender der Task-Force gehörte zu dieser Gruppe. Er hatte sich als fähiger biomedizinischer Statistiker erwiesen.
Die Diagnose „posttraumatische Belastungsstörung“ hatte fraglos bedeutsame sozialpolitische Implikationen. Sie war in gerichtlichen Entschädigungsfällen Voraussetzung für Geldleistungen und Renten. Sie half, die Einschränkungen im Arbeitsalltag besser zu verstehen oder zu akzeptieren. Sie verwies auf erlebte Gewalt, sie fixierte dauerhaft Opfer und konnte bei Flüchtlingen zu einem Aufenthaltsstatus führen. Da explosive Wutausbrüche („bursts of anger“) im Symptomenkatalog der PTBS genannt wurden, waren in speziellen Fällen aktive Gewalthandlungen auf passiv erfahrene Gewalt (via „Imitation“?) zurückzuführen und konnten u.U. somit eine verminderte Schuldfähigkeit hervorrufen. Das heißt, die Diagnose PTBS hatte eine Reise durch unterschiedliche Institutionen angetreten und war noch lange nicht am Ziel angekommen. PTBS durchzieht die Geschichte der Menschheit, auch wenn man nicht zu jeder Zeit mit einer psychiatrischen Diagnose reagierte. In einem früheren Beitrag habe ich die Probleme von PTBS als Konzept darzustellen versucht.
In der Vergangenheit wurde aktive Grausamkeit, Gewalt und Demütigung, also Täter, mit Attributen wie Wahnsinn, Enthemmung, Machtmissbrauch versehen. Seit 1980 wird offiziell das Opfer solcher Gewaltpraktiken mit einer psychiatrischen Diagnose versorgt, vermutlich weil sich Motive und Handlungsziele von Gewalttätern im Opfer absiedeln können, wofür exzessive Gewaltpraktiken von US-Soldaten im Krieg und von Vietnamveteranen in der abweisenden Zivilgesellschaft die Beispiele lieferten. Gewaltpraktiken konnten sich auch gegen die Veteranen (Drogen, Suizide, Söldnertum usw.) selbst richten. Man könnte vermuten, immer wenn das Leben und das Lebendige aus der Perspektive von Tätern und Opfern nicht den höchsten Wert repräsentieren, entstehen Symptome aus Schuld, Enttabuisierung, Scham.
Der kritische Ansatz einer Reflexion der Fundamente einer Diagnose, die auf definierten Gewalterlebnissen und Demütigungen beruht, wird in nahezu allen maßgebenden Darstellungen vermisst, wohl weil traumatische Erlebnisse und ihre diagnostische Feststellung den Rang eines elementaren Selbstverständnisses eingenommen haben wie Essen und Trinken, Bewegung und Fortpflanzung. Emanzipation von einer naturalisierten Gewaltgeschichte ist trotz aller Dementis nicht vorgesehen. Hierdurch werden alle Bemühungen, Gewalt und Gewaltfolgen zu bändigen, entmutigt. (Wir kommen ohnmächtig auf die Welt, und für fast alle bleibt es dabei.) Damit reduziert sich die Geschichte der psychiatrischen Diagnose PTBS auf eine chronologische Beschreibung von traumatischen Ereignissen (Eisenbahnunglücke, Trommelfeuer, Sturmangriff, Geiselnahme, Bombenangriffe, technische Katastrophen, so genannte Chemieunfälle usw.), die jene Entwicklung des heute vertrauten und liebgewonnenen Begriffs vom Trauma und seinen Folgen hervorbrachten, welche wir heute in vielen, auch alltäglichen Konstellationen antreffen, ohne sicher angeben zu können, ob die Entwicklung eines volatilen Traumabegriffs an ihr Ende gekommen ist oder sich in dauerhaftem Wachstum aufbläst.
Klassifikation von Subjekten
Allein zur Klassifikation psychischer Störungen finden wir kritische Anmerkungen, die hier kursorisch aufgegriffen werden. Ferner fallen die Wandlungen der Hauptakzente in den rund 60 Jahren der Existenz des DSM ins Auge, belegen sie doch die Vorläufigkeit der Erkenntnisse, die sich in Klassifikationen spiegeln . Es lassen sich Klassifikationen psychischer Störungen, ohne deren praktischen Nutzen für Experten zu unterschlagen, begreifen als
(1) die Festschreibung artifiziell entstandener Einheiten, denen ein unangemessener dauerhafter Realitätsgehalt ohne Dynamik zugebilligt wird, also das, was ich an anderer Stelle als Hybride bezeichnet habe,
(2) die Verwechselung von Deskription mit der Erklärung einer Störung, was schon Karl Jaspers beklagte,
(3) eine Verschleierung basaler Dimensionen, wodurch Störungen möglicherweise nicht in unterschiedlichen Kategorien existieren, sondern Ausdruck unterschiedlicher Positionen auf einem Kontinuum steigender Intensitäten sind,
(4) Beginn einer Etikettierung und Stigmatisierung,
(5) nicht hinreichend ausgewiesene Selektion der Kriterien unübersichtlicher subjektiver Komplexität .
Innerhalb therapeutischer Interventionen sollte von Subjekten, nicht von Opfern ausgegangen werden.
Wir wissen selbstverständlich, dass die Summe von abgefragten, bestätigten Zeichen und Symptomen nicht in der Lage ist, eine posttraumatische Störung des psychischen und Alltagsbefindens in allen Dimensionen zu erfassen. Klassifikationen operieren mit Differenzen. Sie lehnen ein Kontinuum ab. Alles, was zwischen den definierten Störungen liegt oder nur blasse Zeichen wie bei Höhlenmalereien hervorruft, entgeht einer diagnostischen Beurteilung, die aber ein bestimmtes und einmaliges Subjekt zu identifizieren vorgibt. Das Dazwischen im subjektiven Erleben und Verarbeiten von psychischen Verletzungen kann viel von der traumatisierten Persönlichkeit enthalten (Resilienz, Widerstand, Auflehnung) und dieses „Dazwischen“ kann im therapeutischen Prozess zu einer aktivierenden oder kreativen Ressource werden. Eine andere Form der Abweisung des „Dazwischen“ wird im DSM-IV und DSM-5 praktiziert: Bei ADHS werden 18 mögliche Symptome beschrieben, für eine Diagnose braucht es aber mindestens nur 6 identifizierbare Symptome. Da weiß man doch gleich, warum das altgriechische Wort Symptoma Zufall bedeutete. Klassifikationen von teilweise unsichtbaren Phänomenen tragen immer auch den Anspruch von Herrschaft (wie Religionen) oder Autorität in sich, die im Allgemeinen denen zugebilligt werden, die als erste Klassifizierer auf den Plan getreten sind, z.B. Lamarck, Darwin oder Kraepelin.
Mit positiver Grundhaltung können wir in Klassifikationen von Subjektivität einen (nicht immer sicheren) Ansatz für therapeutische Interventionen erkennen. Die geheimen Rückzugsgebiete des Subjektiven und der inneren Erfahrungen lassen sich damit nicht aufschließen, zumal das Subjektive, d.h. Singuläre nicht einmal dem Subjekt bewusst sein muss. Daneben ist das Hauptargument für Klassifikationen in Zweifel zu ziehen: Möglichst homogene Patientengruppen für Statistiken, Forschung und Fachkommunikation zu kreieren konnte nach Stieglitz/Freyberger (s.FN1) nur eingeschränkt erreicht werden, obwohl zusammenfassende Homogenisierung gerade als wichtiger Vorteil für Klassifikationen betrachtet wurde. Ferner wird man bestätigen können, dass Auffällige und Leidende im Sinne von PTBS wenig von Klassifikationen profitieren ebenso wenig wie Eidechsen von der Klassifikation ihrer Art. Es ist immer der andere, menschliche Blick, den es zu Klassifikationen drängt und der mit Ordnungskategorien Entfremdung bewirkt, weil das Lebendige allein Anerkennung benötigt.
Was die Wandlungen der Klassifikationsorgien in der Fortsetzungsserie „Mental Disorders“ im DSM betrifft, so bietet die Dissertation Andrea Kellers einen knappen Überblick:
Auszüge aus der Geschichte des DSM
Im DSM-I von 1952 finden wir den pragmatischen Einfluss Adolf Meyers auf die US-amerikanische Psychiatrie. Meyer nahm an, dass psychische Störungen die Reaktion auf psychisch-kommunikative, soziale und biologische Faktoren darstellen. Das könnte man durchaus bis heute akzeptieren, wenn man die einzelnen Hauptfaktoren aufschlüsselt und ihnen den gebührenden Rang bei der Störungsentstehung zuspricht.
Nach Keller ist das DSM-II von 1968 dadurch gekennzeichnet, dass es eine traditionell intrapsychische Sichtweise in den Vordergrund rückte, d.h. psychodynamische Prozesse, der Psycho- und Verhaltensanalyse entlehnt, bestimmten die Diagnostik. Ein von außen wirkender Stimulus, der in Verbindung mit biologischen Bearbeitungen psychische Störungen hervorruft, war noch kein anerkanntes Prinzip. Vielmehr wurde im DSM-II der Terminus „Reaktion“ als Repräsentation psychobiologischer Auseinandersetzung mit der Umwelt gestrichen. Eine von Robert L. Spitzer mitbewirkte Streichung der Homosexualität aus dem DSM-II war zu jeder Zeit eine aufsehenerregende Neuerung im psychiatrischen Verständnis.
Das änderte sich 1980 mit dem DSM-III, das mit der traditionellen Bewertung von Störungen/Neurosen „abrechnete“. „Mit dem DSM wird seit der Version III (1980) ein von theoretischen und ätiologischen Annahmen fast unabhängiger, deskriptiver Ansatz verfolgt.“ Mit dem DSM-III nimmt auch die Quantifizierung des Abweichenden, Auffälligen, Grenzwertigen und Kranken Fahrt auf, sodass heute die Verhaltenstherapie glaubt, auf eine Verhaltensanalyse mit präzisen Beobachtungen verzichten zu können, und sich auf einzelne katalogisierte Symptome konzentriert, deren Bedeutung für die Zuordnung zum komplexen „Krankheitsbild“ aus der Auswertung von Inventaren gefolgert wird. So hat z.B. die Symptom Check List mit 90 items (SCL-90-R) die Hopkins Symptom Check List mit 58 items (HSCL) abgelöst, wobei individuelle Auskünfte über Symptome der vergangenen 7 Tage innerhalb von 10 Minuten (also ohne Nachdenken) auf Fragebögen als „Selbstbeurteilung“ notiert werden. Das kann zur Beurteilung von Therapieverläufen Bedeutung erhalten, als Ansatz für therapeutische Interventionen ist es als Gestochere im Heuhaufen der Subjektivität zu betrachten, weil eine Konstruktvalidität des SCL-90 angezweifelt werden muss. Diagnosen sind immer Reduktionen aus einer Fülle von Informationen, wobei kanonisierte Reduktionen den Experten und die Expertin hervorbringen und sie auszeichnen. Messbarkeiten psychischer Befindlichkeiten können nie völlig ihre Herkunft aus dem Ökonomischen verbergen, da durch Messungen psychischen Befindens immer auch Werte und Äquivalente bestimmt werden, die in soziales Leben übertragen werden. Der Sozialdarwinismus findet späte Auferstehung durch Statistiken, Berechnungen, Prognosen, Risikofaktoren, Prävalenzen und Inzidenz. Landläufig halten wir diese methodischen Erweiterungen für unverzichtbaren Fortschritt. Effektivität und Effizienz beherrschen auch das Feld psychischer Verletzungen und ihrer Beseitigung. Das DSM erneuerte sich 1980 also durch Definitionen für einzelne Störungen, die durch eine multiaxiale Klassifikation mit Unterstützung von Feldstudien vor der Einführung des DSM-III überprüft worden waren. Multiaxial meint in diesem Zusammenhang jene fünf/sechs Einflusssysteme, die auf die Entstehung und/oder die Folgen von psychischen Syndromen sich innerhalb einer Diagnostik auswirken, darunter auch problematische: Entwicklungsstörungen, Intelligenzniveau, aktuelle abnorme psychosoziale Lebensumstände, globale Anpassungsleistungen, körperliche Symptomatik u.a.
1987 erscheint mit dem DSM-III-R erstmals der Begriff der Komorbidität im diagnostischen Raum, nachdem offensichtlich geworden war, dass nicht alle katalogischen Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung durch ein spezifisches Erlebnis allein verursacht sein konnten. Vielmehr gebe es auch ein Davor und ein Danach zum Trauma, was in Deutschland an die Debatte um die „Wiedergutmachung“ nach den Naziverbrechen erinnerte, die man aus moralischen Erwägungen nicht wieder aufleben lassen wollte. Rechtsprechung und Gutachter hatten Schuld auf sich geladen. Das Konzept der Komorbidität machte zudem deutlich, dass es eine Spezifität der Symptome nach Trauma nicht gäbe, sondern fließende Übergänge zu anderen Störungsbildern bestünden. Die Erfahrung und Persönlichkeit des Diagnostikers entschieden über die „richtige“ Zuordnung der Symptome. Dies ist und bleibt eine Schwierigkeit und kann zum Versinken im Symptomenozean aus PTBS und Komorbiditäten führen.
Das DSM-IV von 1994 bringt dann weitere Akzentverschiebungen: Es versucht, „wieder biologische, psychologische und soziale Faktoren einzubeziehen, um Störungen besser verstehen, vorzubeugen und behandeln zu können. Auch das Ansprechen auf medikamentöse Behandlung, genetische und neurobiologische kausale Bedingungen von Störungen werden stärker im DSM-IV berücksichtigt als in früheren Versionen“ . Allerdings wird die Vergabe der Diagnose DESNOS zu sehr begünstigt, weil Spezifizierungen fehlen und/oder die Forschung die Aufklärung dieser unbestimmten Symptombilder, die nicht in das Klassifikationsraster passen, nicht nachhaltig untersucht hat.
Als 2013 das DSM-5 (jetzt nicht mehr mit römischer Ziffer) erschien, waren zahlreiche Literatur-Reviews, vergleichende Untersuchungen zum ICD-10 der WHO und die Überlegungen von rund 400 Experten als Vorarbeiten zu Rate gezogen worden. Der Vorsitzende der DSM-IV- Kommission, Allen James Frances, konnte sich mit dem neuen Werk nicht anfreunden. Er bemerkte seine Skepsis, als er am DSM-5 mitarbeitete. Erst dann befürchtete er eine Inflation psychiatrischer Störungen, die von den eigentlichen Aufgaben der Psychiatrie ablenke. Vor allem gegen die Vorverlagerung von diagnostizierten Störungen ins Kindes- und Jugendalter fand er kritische Bemerkungen. Außerdem würden zu viele Ressourcen an Experten, qualifizierten Fachfrauen und damit Geldmittel in die falsche Richtung gehen. Besonders in die Kritik geriet die neue Kategorie „Somatic Symptom Disorder“ (SSD), von der Laien und Experten befürchteten, dass eine Psychiatrisierung somatischer Krankheiten begünstigt werde, ohne sich im psychosomatischen Sinne auf ein Verständnis der Wechselwirkungen von Körper und Psyche zu gründen. Die Autoren Dimsdale et al. fassen zusammen, dass die SSD „persistent somatic symptoms associated with disproportionate thoughts, feelings, and behaviors related to these symptoms“ verursache. Eine äußerst schwierige Kategorie, die berichtet werden muss und sich einer Objektivierung entzieht, zugleich aber den Zugriff der Diagnostik auf Gedanken, Gefühle und Verhalten betont.
Es handelt sich bei der posttraumatischen Belastungsstörung unter den sozialen Bedingungen des Diskurses um Trauma und psychische Verletzung um einen „interaktiven Gegenstand“, der auf seine Klassifikation reagiert – vor allem dadurch, weil traumatisierte Personen und psychologisch entsprechend ausgerüstete Therapeuten anders miteinander interagieren und damit der Entwicklungsprozess unter der Therapie different verlaufen kann. Pointiert gesagt: Traumatisierte entwickeln sich nun anders als je zuvor, sie werden anders und erhalten im Wissenskosmos einen neuen Stellenwert.
Uns interessiert vor allem, welches neue Verständnis von der PTBS sich in der Unübersichtlichkeit des DSM-5 versteckte.
Wandlungen im Bereich der PTSB
Posttraumatische und Akute Belastungsstörung beziehen sich mit dem Kriterium A auf die Exposition eines traumatischen Ereignisses. Eine Differenzierung zwischen akuter und chronischer Belastungsstörung gibt es nun nicht mehr. Die Reaktion der betroffenen Person mit Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen als ursprüngliches A2-Kriterium ist nicht mehr aufgeführt. Im DSM-5 werden für die Posttraumatische Belastungsstörung 4 Symptomcluster spezifiziert. Das Symptomcluster der Vermeidung und Verringerung der Reagibilität im DSM-IV wurde in Vermeidung von traumaassoziierten Stimuli und negative Veränderungen in traumaassoziierten Gedanken und Stimmungen aufgeteilt. Neu hinzugefügt wurden Zusatzkodierungen zu dissoziativen Symptomen (Depersonalisation, Derealisation) und zu Ticassoziierten Zwangsstörungen. Für Kinder unter 6 Jahren werden eigene Diagnosekriterien aufgeführt. Schon zuvor war im DSM-IV das direkte Erleiden traumatischen Stresses nicht mehr die conditio sine qua non als Kriterium A, denn nun war auch das sinnliche Wahrnehmen einer Traumatisierung Dritter geeignet, eine posttraumatische Belastungsstörung hervorzurufen, wenn sie Schrecken und Hilflosigkeit verursacht. Dazu zählen allerdings nicht Fotos und Videos mit Gewaltinhalten im Internet.
Mit jeder Neuausgabe des DSM glaubt man, den Fortschritt der Erkenntnis begünstigt zu haben, ja man sei am tiefen Grunde der Erkenntnis angekommen. Nun ist aber Erkenntnis nur sehr beschränkt durch Klassifikationen, die phänomenologische Zeichen ordnen, zu erreichen. Diese Ordnung mag Voraussetzung für erkennende Prozesse sein, besonders wenn es um das oftmals chaotische psychische Befinden von Subjekten geht. Eine der wesentlichen Bedingungen für Erkenntnis ist die Reflexion der Umstände, unter denen klassifiziert, beschrieben, selektiert, geforscht und praktiziert wird. Ohne Berücksichtigung der Zeitströmungen oder des „Zeitgeistes“ können diese Bedingungen der Erkenntnis nicht erfüllt werden. Diagnosen psychischer Störungen haben ihre Zeit, weshalb man die Zeit der Entstehung und Entwicklung einer Diagnose betrachten muss, wenn man die Störungen verstehen will. Freud ist noch Paris gefahren, um Demonstrationen von „Hysterie-Patientinnen“ an der Salpêtrière bei Charcot zu erleben. Mit Breuer verschob Freud die Ursache für Hysterie von der Gebärmutter in die psychische Verursachung, wobei er sich wegen der Reputation Charcots offenbar nicht traute, die regelmäßige Wiederholung der Symptome und des Verlaufs bei Augustine, dem Lieblingsobjekt Charcots, mit Hypnose in ursächliche Verbindung zu bringen. Subjektive Äußerungen der Psyche bildeten in der Geschichte psychiatrischer Befunde eine ambivalente, nie völlig durchschaute Wirkung. Die Dichotomie von normal und anormal ist schon deshalb nicht aufrechtzuhalten, weil z.B. die meisten Kriege von so genannten Normalen entfesselt werden. Zu dem eingeschlagenen Weg, der zum DSM-5 führte, sagte der Insider Allen Frances: “In standardising, much was gained but something was also lost. More attention is paid to symptoms and less on the patients themselves, leading to reductionism in psychiatry. The biggest misuse is that pharmaceutical companies began selling diagnoses as all due to chemical imbalance that can be treated with a pill.”
Zweifellos ist es verlockend, die Symptombildung als Folge eines Ungleichgewichts im chemisch-metabolischen Haushalt eines Körpers zu betrachten, der einem Gewalterlebnis ausgesetzt war. Ein solcher Mechanismus lenkt dann aber noch mehr ab von der Auseinandersetzung mit den Ursachen eines Traumas und von der Ungleichzeitigkeit einzelner Symptome, die in ihrem Beitrag zum Leiden subjektiv sehr unterschiedlich gewichtet werden können. Außerdem vernachlässigt der plumpe Pilleneinwurf die soziale Genese von Leiden und leidenden Personen. Die Kommissionen aus zahlreichen Mitgliedern und Fachexperten haben zumindest in den letzten drei Ausgaben des DSM Zuwendungen von der Pharmaindustrie erhalten. Damit wurde das Urteil der Expert*innen in eine Nähe zur Verwertbarkeit und zum Markt gerückt. Wertfreie und für den Markt verwertungsfreie Forschung ist nicht möglich, wenn die Politik diese Form der Erkenntnis im Bereich der Humanwissenschaften durch Gesetze und Empfehlungen fördert und ihr durch kosmetische Anordnungen lediglich eine neue Gesichtsmaske verschreibt . So belegte eine Studie der Universität von Massachusetts in Boston, dass 63% der gesamten Mitarbeiter am DSM-5 Zuwendungen der Pharmaindustrie erhalten hatten, in der Arbeitsgruppe „affektive Störungen“ waren es gar 83 % und in der Arbeitsgruppe Schlafstörungen glatte 100%. Bei solchen Beeinflussungen kann die Intercodierzuverlässigkeit, die angibt, welchen Grad an Übereinstimmung die diagnostische Zuordnung von zwei Kodierern erreicht , nur gegen null wandern. Honi soit qui mal y pense, könnte auf dem Orden von Big Pharma stehen.
Mich treiben also die Fragen um, wie aus einem lange schwelenden Diskurs nach weit über hundert Jahren die faktische Diagnose PTBS geworden ist? Was charakterisiert die Zeitläufte und die Akteure, die das ermöglicht haben? Was haben die US-amerikanischen Vietnamveteranen in ihren oft performativen Symptomdarstellungen von Zerstörung und Selbstzerstörung der bis dahin im DSM-II gebräuchlichen „Anpassungsstörung“ und „gross stress reaction“ als ausschlaggebenden Erkenntnisgewinn hinzugefügt, damit aus einer evidenten und allseits akzeptierten Beobachtung eine neue Diagnose im psychiatrischen Sinne werden konnte? Man könnte noch hinzufragen: Ist es der breitgefächerte Katalog von Symptomen der posttraumatischen Belastungsstörung und weiterer Störungen (disorders) gewesen, der sich permanenter Erweiterungen erfreut und der die Diagnose einer Neurose verdrängt hat, obwohl die PTBS als Angstfolgestörung die meisten Kennzeichen der Neurosen aufnimmt? So tritt im DSM-III von 1980 die Bezeichnung Neurose nicht mehr auf. Im Bauchladen des DSM-Katalogs für posttraumatische Symptome ist viel enthalten außer einer überzeugenden Theorie. Diese ist vom amerikanischen Pragmatismus aus betrachtet auch nur hinderlich. Was sicherlich viele Menschen für den Ausdruck des common sense halten, wenn spezifische Erlebnisse zu andauerndem Schmerz, Irritation, Trauer usw. führen, wird mit Begriffen wie Evidenz, evidenzbasierte Erkenntnis und medizinischer Diagnose in ein exklusives Expertenwissen gezogen, das auf common sense verzichten zu können glaubt, was nur durch Eingemeindung in einen wissenschaftlichen Kanon möglich wurde. Auch die Übersichtskontrolle mittels Epidemiologie und Statistik und eine spekulative Prognostik wurden Bestandteile der neuen Begrifflichkeit vom Psychotrauma und seinen Folgephänomenen. Wir sind hier im stürmischen Zentrum des Begriffs von Wissenschaft.
Vermutlich handelte es sich in den 1970er Jahren, als die Geburt der Diagnose PTBS eingeleitet wurde, um ein eigenartiges Gemisch aus politischen Absichten, Antichambrieren und Andienen von Psychiatern, Interessen der Pharmaindustrie und einem gesellschaftlich mehrheitsfähigen Wunsch nach einem Transfer eines Problems, das von vielen Akteuren explizit oder implizit verursacht war, in den therapeutisch zugänglichen Bereich einer Individual- oder Gruppenbehandlung, weil dadurch unter eine demütigende Niederlage in Vietnam ein Schlussstrich gezogen werden durfte, ein Schlussstrich, der nur noch von platten heroisierenden und verfälschenden Umdeutungen aus Hollywood unterbrochen wurde. (So konnte die Frage nach dem exzessiven Drogengebrauch (Echoeffekt, Flashback, Wahrnehmungsverzerrung) beim Militär als Teilursache (Kriegsdoping) für posttraumatische Verhaltensänderungen nie beantwortet werden, weil sie nicht erforscht wurde.) Die Diagnose und ihre therapeutischen Ansätze hatten folglich einem Harmoniebedürfnis in einer US-Gesellschaft zu dienen, die in zwei aversive und sich gegenseitig misstrauende Lager gespalten war. Wenn schon nicht Harmonie erreicht werden konnte, so doch zumindest eine dämpfende Wirkung auf den gesellschaftlichen Druckkessel, der durch eine länger schon vorbereitete Diagnose aus politisch gewünschten und geförderten Absichten Dampf abzulassen erlaubte. Daneben kann man ferner unterstellen, dass durch die Überweisung eines Menschen mit posttraumatischem Gewaltausbruch oder mit aus Schuld entwickelter Suizidalität bei Veteranen in das therapeutische Setting eine Anerkennung der Behandlungsnotwendigkeit resultierte, was die Voraussetzung ist für eine Aufnahme in den Diagnoseschlüssel des DSM war. Man musste lediglich achtgeben, dass nicht alle widrigen Ereignisse zu Traumata erklärt wurden. Psychiater und Politiker spielten sich die Bälle zu und begünstigten dadurch eine Dynamik der Diskursverfestigung. Insgesamt werden seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts soziale Probleme in einigen Fällen willigen Psychiatern überlassen oder von Chirurgen mit dem Skalpell gelöst, wofür Ärzte von der Politik einen Zipfel vom Tischtuch der Macht fordern.
Durch die Medikalisierung wird beim individuellen posttraumatischen Prozess vom zentralen Problem weggeführt: Nicht die Qualität des subjektiv erfahrenen Erlebnisses, dessen Gründe und Hintergründe und dessen weitere Rahmenbedingungen geraten im therapeutischen Setting in den Fokus, sondern allein die Wirkungen von Schrecken, Angst, Hilflosigkeit, Ohnmacht im Individuum, die als spontane Stressreaktionen das A 2 –Kriterium der posttraumatischen Belastungsstörung im DSM-III und IV bildeten, im DSM 5 aber, weil sie nur durch einen Bericht und nicht empirisch erhoben werden konnten, gestrichen wurden. Da diese akuten Reaktionen auf bedrohlichen Stress bislang mittels eines Katalogs von Symptomen einfach zu erheben waren, jedoch auch leicht simulierend erfunden werden konnten, ist die Streichung im DSM 5 als Zugeständnis an die Versicherungswirtschaft und gegen mutmaßliche Simulanten zu werten. Damit wird aber nicht das ganze Problem aufgegriffen, sondern eine professionell herbeigeführte und legitimierte Verschiebung angebahnt. Die zentrale Frage richtete sich nun nicht mehr auf die Ursachen von Gewalterlebnissen, sondern nur noch auf deren Folgen und die individuellen Konsequenzen im Innenleben von traumatisierten Personen, wenn dekretiert wurde, dass eine Krankheitswertigkeit vorliege. Niemand hat diese Verschiebung eindrucksvoller beschrieben als Allan Young in seinem schon 1995 erschienenen Buch „The Harmony of Illusions“ , als er belegte, dass mit einem vorgegebenen Katalog ganz bestimmte Diagnosen und Feststellungen begünstigt werden, die aus der Engführung der Diagnosestellung durch Fragen und Tests sich herleiten.
Anleihen bei Hecking
Wenn man mit Ian Hecking von einer Selbstkonstitution von traumatisierten Personen ausgeht, d.h. der Traumatisierte betrachtet nach seiner Erschütterung sich selbst und die Welt mit neuem Verständnis und Gefühl, so lässt sich hinsichtlich der Resultate der Mechanismus der Selbstkonstitution als mehrfach möglicher deuten:
Man kann (1) z.B. sich als Opfer konstituieren, das Appelle an die Umwelt richtet und eine Kompensation fordert. Man kann (2) im Bewusstsein der eigenen verbliebenen Macht Gerichtsverfahren anstrengen, in denen man Einzelpersonen oder Staaten als absichtsvolle Verursacher zur Anklage bringt. Man kann sich (3) ferner in einer zeit- und kulturgebundenen Hierarchie der Trauma-Verursacher und Trauma-Erleider verorten und sich mit anderen Traumatisierten vergleichen, weil Erwachsene überall auf dem Planeten ein subjektiv bestimmendes Trauma oder mehrere in ihrem Leben erlitten haben. Trauma und das traumatische Gedächtnis, das nach Ansicht von Experten erstaunlicherweise so beschaffen ist, dass es nur traumatische oder demütigende Inhalte aufbewahrt, bestimmen das Selbstbild und zugleich die Sicht auf andere Traumatisierte mit Empathie oder Geringschätzung. Man kann (4) auch ein erlittenes Trauma als mildernden Umstand oder als Rechtfertigung für ein Fehlverhalten oder kriminelle Akte entschuldigend einsetzen. Man kann (5) auch episodisch unter der Last der Erinnerung zusammenbrechen und sich kreativ allmählich wieder aufrichten.
Oft hört man (6), nach dem traumatischen Erlebnis mit psychisch wirksamen Folgephänomenen sei niemand mehr der Gleiche, der er zuvor war. Durch diesen Effekt des negativen Stress müssen wir uns einer Verwandlungskraft stellen, die uns nachhaltig verändern kann und die über gewöhnliche Kommunikation hinausreicht (ongoing Stress, posttraumatische Kommentare Dritter, Zweifel, Ungeduld u.a). Diese Kraft entspringt der Beziehung von Erlebnis und Gedächtnis, die Symptome hervorbringen kann. Selbstverständlich ist man landläufig auch nach der Geburt eines Kindes nicht der/dieselbe, der/die man zuvor war, ohne dass man von Trauma sprechen würde. Diese Veränderungen muss man aushalten, abwehren oder verschieben, solange sie das Leben begleiten. Sie betreffen den so genannten Sinn, die Weltsicht, die Verlässlichkeit der Mitmenschen usw. Das Innenleben eines Menschen zeigt zuweilen jenes Chaos an, das eine Entsprechung im äußeren Chaos hat. Trauma kann deshalb Nachhaltigkeit entfalten, weil ein Ordnungs- und Sicherheitsbedürfnis dauerhaft verletzt ist, und dies erzeugt Angst.
Nun ist diese Selbstkonstitution auch dafür verantwortlich, dass Subjekte aus den traumatischen Wirkungen ihrer verstörenden Erlebnisse sich zu Objekten äußerer diagnostischer Gewalt und Macht machen (lassen), wenn diese in psychologischen Kategorien erfasst werden. Durch das Gedächtnis wird das traumatische Ereignis inkorporiert, vagabundiert durch den Alltag bis in die Träume, wird Gegenstand von Selbstwahrnehmungen. Dadurch ermöglichen sie die Erforschung des objektiven Anteils traumatischer Phänomene und ihrer Träger. Die traumatisierte Person ist zum Forschungsgegenstand geworden, nachdem vorausgegangene Klassifikationen dies ermöglicht haben. Zuerst entwickeln sich also Klassifikationen psychologischer Natur, die von den Klassifizierten als anormales Selbstbewertungsmerkmal akzeptiert und mit Selbstbewusstsein und Forderungen an die Gesellschaft gewendet werden. Ehemalige Psychiatriepatienten nennen sich „Verrückte“ und körperlich Behinderte „Krüppel“. Durch Sprechen über solche Selbstbeobachtungen betritt der Objektcharakter des Traumas die Bühne. Er wird heute in der Physiologie der Wahrnehmung, der Funktion des Gehirns und in den sozialen (Hilfs-)Zuordnungen von Sinn und Bedeutung gesehen. Der Subjektanteil traumatischer Erlebnisse entzieht sich bislang glücklicherweise einer Ausforschung. Der Subjektanteil speist sich aus der individuellen Wahrnehmung von Machtlosigkeit und Passivität sowie aus den eigenen Bearbeitungen des vorausgegangenen Lebens. Das Subjekt scheint mit Blick auf Laboruntersuchungen und Experimente eher eine Störung zu sein. Es geht zentral um Wissen, das subjektive und das der Experten, die in der kultivierten Trennung beider Wissenssphären eine allmähliche Konvergenz nicht zulassen wollen. Die Aufmerksamkeit des Selbst für innere posttraumatische Zustände wächst ebenso wie der hartnäckig verteidigte „Erkenntnis“pool in externen Fachzeitschriften, Expertengesprächen, Weiterbildungen. Beide Tendenzen entfernen sich jedoch voneinander, wobei der behauptete Erkenntnispool sich wie das Riesenrad auf dem Jahrmarkt verhält: Ein- und Ausstieg trotz einer Fahrt in luftige Höhen nahezu an derselben Stelle. Ein Erkenntnisgewinn durch die betroffenen Traumatisierten, die sich vor allem zu den sozialen Dimensionen von Trauma und Trauer äußern könnten, wird nicht angestrebt, weil der Rahmen für die Diagnose bereits in den Befragungsinstrumentarien reduktionistisch enthalten ist. Durch einen Messbarkeitswahn psychischer Befindlichkeiten haben sich Leitorientierungen aus quantitativen Statistiken gebildet, die aber qualitative Beurteilung nur vorgaukeln und die sich in screenings, ratings, Ankreuzen von Fragebögen, d.h. der oberflächlichen, vielleicht orientierenden Messbarkeit erschöpfen, dabei zugleich Ein- und Ausschluss herbeiführen. Die Macht über die methodische Definition von normal und anormal erlaubt eine Verschiebung in den Therapiebereich, in dem Ausschluss oder Tabuisierung durch erhöhte Aufmerksamkeit und Hilfsangebote inkomplett ersetzt werden. Über Fürsorge und Hilfsangebote aus dem psychologischen Arsenal kommt eine Remoralisierung von Gewalt und ihren Folgen ins Spiel. Wissen und Macht haben sich in der Psychotraumatologie verbunden. Eine Selbstermächtigung der traumatisierten Betroffenen kratzt an der Macht der Experten, was „Veterans’ Movement“ und feministische Frauenbewegung bewiesen haben, worauf sich die Politik auf die Seite der Experten geschlagen hat.
Ohne politischen Einfluss und einflussreiche Akteure geht im Feld der Klassifikationen nichts
Die politischen Einflüsse auf die Entstehungsgeschichte des diagnostizierbaren Traumas und der Folgen ließe sich sicher aus den Akten und Protokollen der Akteure der Task-Force vor 1980, die sich aus Vertretern der US-Psychiatrie, des Militärs, der Politik und der Versicherungswirtschaft zusammensetzte, rekonstruieren. Ob diese Unterlagen öffentlich sind, ist mir nicht bekannt. Möglicherweise ist das Anliegen des Militärs und der Militärpsychiater am Projekt DSM-III und posttraumatische Reaktionen eher ein Grund für begrenzte Öffnung. Die Politik war auf jeden Fall gefragt, als es darum ging, die psychischen Verletzungen den körperlichen Behinderungen hinsichtlich der Renten, Behandlungsansprüche und der Entschädigungen gleichzustellen.
Personen sind Entwickler, Träger und Multiplikatoren von Ideen und Diskursen. Als initiale Interessenvertreter für eine Aufnahme eines posttraumatischer Syndroms hatten sich bereits seit den frühen 1970er Jahren zwei Psychiater hervorgetan: Robert Jay Lifton und Chaim Shatan. Sie taten sich mit so genannten „rap-groups“ zusammen, die im Rahmen der „veterans’ movements“ über deren Vietnamerlebnisse und deren psychische Folgen diskutieren wollten und zugleich Anklage erhoben. Sensibilisiert waren die beiden Psychiater für das Thema von Henry Krystal, William G. Niederland und Mardi Horowitz, die sich mit Überlebenden des Holocaust befasst hatten und eine spezifische Symptomatologie des posttraumatischen Überlebens mit ihren Patienten entwickelt hatten. Shatan entwickelte das Post-Vietnam-Syndrome aus seinen Beobachtungen in den rap-groups, die sich in Diskussionen und Berichten auf soziale und psychische Phänomene nach Kriegseinsatz richteten. Lifton hatte sich mit „Gehirnwäsche“ an Soldaten in Gefangenschaft, mit „Totalismus“ als umfassende Kontrolle über menschliche Äußerungen befasst. Die Wirkungen traumatischer Erlebnisse interessierten ihn, wobei man berücksichtigen muss, dass die Aufklärung der psychischen Mechanismen von „Gehirnwäsche“ bereitwillig von den US-Nachrichtendiensten aufgegriffen wurde. In Abu Ghraib und Guantanamo konnte man späte Lehrlinge auf Fotos beobachten. Die 1960er Jahre wurden von der Illusion beherrscht, man könne jedes Verhalten in gewünschter Weise manipulieren, wenn man z.B. die Skinner-Box einsetzte, die sich später zu Experimenten in der camera silens entwickelte und im Rahmen von Hochsicherheitsgefängnissen zu reizarmen Umerziehungskuren führen sollte, wodurch die psychische Misshandlung durch die Hintertür als gesetzeskonforme Misshandlung auftauchte und sich etablierte.
In der o.a. Krise der Psychiatrie bot sich die Gelegenheit, mehrere Hebel zur Imageverbesserung neu einzustellen. Es wurde eine Task-Force gegründet unter dem Vorsitz des Psychiatrieprofessors Robert L. Spitzer, der sich am biometrischen Forschungszentrum der Columbia-Universität ausgezeichnet hatte. Das Ziel war die Weiterentwicklung des DSM zur dritten Ausgabe unter Berücksichtigung aktueller Beobachtungen an Soldaten und misshandelten Frauen. Mit Spitzer zog zwar nicht die Messung psychischer Befunde in die Psychiatrie ein, aber eine durch Statistiken, Prävalenzberechnungen, Prognosen, Epidemiologien usw. legitimierte und geadelte Verbreitung war jedenfalls die Folge des DSM-III. Im Bereich der Anwendung bildeten sich Institute, die Messverfahren und Messinventare entwickelten und verkauften. Durch die Messung und Befragung psychischer Befunde mit Checklisten konnte im Bereich posttraumatischer Symptomatik eine rasche Diagnose und ein Vertrauen auf die präzise Wirksamkeit von Inventaren sichergestellt wurde. Das DSM förderte die Messungen also auf indirekte Weise, indem es die Diagnosestellung als pragmatische Anwendung mit ökonomischen Kategorien von Effektivität und Effizienz verband. Immer mehr voneinander unterschiedene Störungen forderten für therapeutische Strategien den raschen Griff nach dem DSM. Man würde fraglos von starken Männern mit Zwangsjacken abgeholt, wollte man diesen Mechanismus als Gelddruckmaschine bezeichnen. Man könnte aber auch erkennen, dass Klassifikationen von menschlichem Verhalten und seinen Abweichungen in ihrer mechanistischen Anwendung kein anderes Interesse zwischen Diagnose und Therapie treten lassen dürften als das Wohl der beschädigten Person. Bei Behandlungsfehlern durch Internettherapie mit Personen aus fernen Ländern, mit so genanntem Skypen, ist die Frage der Verantwortung und des Regress nicht ausreichend geklärt.
Es geht hier nicht um Bashing verdienstvoller Psychiater wegen ihrer Initiativen zur phänomenologischen Beschreibung von Störungen im DSM, die jeweils von deren biographischen und interessegesteuerten Akzenten geprägt wurden. Es geht allein um die Bedingungen der Entstehung und Beförderung von Diskursen und damit menschlichen Befindens, die zu Diagnosen wurden und sich dazu unterschiedlicher Durchsetzungsinstrumente (z.B. Politik, Militär, Versicherungen, Kongresse, Fachpublikationen, Weiterbildung) bedienten. Wer eine historische Dimension dieser Prozesse vernachlässigt oder gar verleugnet, macht in seinem Erkenntniswillen möglicherweise am Geldbeutel Halt oder genießt die resultierende Macht über Subjekte.
Es ist also noch zu klären, welcher Erkenntnisgewinn und welche Begleitabsichten hinter der Umbenennung der „gross stress reaction“ im DSM-II in die „posttraumatic stress disorder“ im DSM-III standen, da beide Reaktionen auf einem intensiven Stressimpuls basieren. Die begriffliche Verbindung vom Stress zum psychischen Trauma hat nach definierten Erlebnissen Krankheiten hervorgebracht, die auch unter gross stress reaction hätten beschrieben werden können. Der Erkenntnisgewinn aus der Umbenennung war also gering. Trauma jedoch öffnete durch die Ähnlichsetzung von Vietnamkriegsfolgen und Holocaustüberlebenden viele Türen für Forschung und Gelder. Es ist zu vermuten, dass die seelische Verletzung (aus Gewalterlebnissen) und die biologische Komponente (Stress und seine physiologische Begleiter) enger zusammengebracht werden sollten als dies zuvor der Fall war. Heute mischt sich ein diffuser neurobiologischer Ansatz in den Vordergrund.
Damit konnte eine Beruhigung der feministischen Frauenbewegung, die sich gegen männliche Herrschaft wandte, eine anerkannte Krankheitswertigkeit mit Reparationsansprüchen generell, eine Umlenkung des Veteranenunmuts und eine ausgedehnte Einkommensquelle für Therapeuten erreicht werden, vier Asse mit einer Diagnose: PTBS. Einer tendenziellen Verschiebung wurde der Weg geebnet: die Wirkungen von Gewalt führten in die Krankheit, die verursachenden Kräfte wurden nicht oder kaum berührt. Vom DSM-I bis zum DSM-5 hat sich die Zahl der definierten Störungen von 106 auf 374 erhöht. Es braucht daher ein immer feineres Differenzierungsvermögen, was landläufig den standardisierten Inventaren (Check-Listen, screenings, ratings, scorings, Fragebögen, Informationsblättern) überlassen wird, ohne dass der Hilfesuchende erfährt, welche Schlüsse ein Therapeut aus diesen Hinweisen zieht, wie er sich deutet, wenn er die Fragenkataloge vorlegt. Der Diagnoseschlüssel muss für Gutachten und Abrechnungen getroffen werden. Übrigens gilt dies auch für kodifizierte somatische Erkrankungen. Präzision der differenzierten Bewertung gibt es nicht, solange Denkfaule die Auswertungen vornehmen. Das klassifikatorische Prinzip der Differenz in den Humanwissenschaften ist statisch, schreibt fest und ist stimatisierend. Wenn man in der Differenz keine Chance oder Bereicherung erkennt, will man vermutlich das Heterogene vertreiben und sich der Homogenität hingeben.
Die Vereinigten Staaten von Amerika haben uns mit ihrer pragmatischen Sicht im Verlauf der letzten 50 Jahre zahllose Diagnosen für psychische Störungen gebracht. Es ist an der Zeit, sie ihnen wieder zurückzuschicken, denn in dieser Büchse der Pandora steckte viel mehr als nur Einheitlichkeit, Kommunikationserleichterung, Erkenntnisgewinn und Hilfestellung. Wer sie öffnet, wird von der pragmatischen und messungsbesessenen US-Sicht auf psychische Störungen infiziert, übernimmt vorgekochte Evidenzen, bestätigt das Abdanken theoretischer Bemühungen in den Humanwissenschaften und ordnet sich einem Universalismus unter, der als europäisches Denkprinzip schon Ideologie (aus altgriechischer Philosophie, römischem Recht und Christentum) war und heute veraltet erscheint, in der US-amerikanischen Fassung wegen des mitschwingenden Hegemonialstrebens aber verhängnisvoll. Eine Interessengleichheit ist strukturell derzeit nur für Big Pharma festzustellen.
Zuweilen werde ich gefragt, ob mir denn nicht auch etwas Positives einfiele im Zusammenhang mit PTBS und DSM. Positive Phantasien habe ich selbstverständlich. Aber sind Phantasien mit Klassifikationen und Kategorien einzufangen? „Traumatische Erinnerungen schaffen ein neues moralisches Wesen. Das Trauma bietet nicht nur eine neue Form der Wahrnehmung des Wesens der anderen und der möglichen Gründe ihres Verhaltens, sondern es bringt auch ein neues Selbstgefühl: ein Gefühl dafür, wer man ist und warum man so ist, wie man ist.“ Mein Damaskus-Erlebnis hatte ich, als ich feststellte, dass extrem Traumatisierte trotz intensiver Therapie sich verschlechterten und andere ohne Therapie frei von Symptomen wurden. Spontanheilungen waren im Katalog nicht vorgesehen, und zugewandte, einfühlende Kommunikation war nicht der alleinige Einflussfaktor, der Verschlechterung verhindern half. Diese einflussreichen Stellschrauben liegen nach meiner Überzeugung weder in den Genen noch in der isolierten Psyche des Subjekts. Man wird vermutlich in den sozialen Dispositionen fündig werden, wenn man die Forschung darauf konzentriert.
Dieser Beitrag soll als Anregung verstanden werden, Details der Bedingungen der Entstehung und der Zwecke einer Diagnose zu vertiefen.
Hinweise auf Literatur: