Man muss sehr wohl zwischen traumatischem Erlebnis, traumatischer Erfahrung und der individuellen Vulnerabilität unterscheiden.
Nicht jedes Trauma als Folge eines heftigen Stress weist die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung auf. Dies gilt vor allem für lange zurückliegende psychische Verletzungen, die zum Zeitpunkt der (übergriffigen, erniedrigenden) Verletzung noch nicht als traumatisch, sondern eher als bedrängend oder lästig wahrgenommen und ins Gedächtnis eingespeist wurden. Hierzu gehört die machtgestützte Herrschaft über den Körper einer abhängigen Person, sei es im Arbeitsleben oder Kindern gegenüber in deren Kindheit. Obwohl und wenn keine Anzeige nach sexualisierten Übergriffen erfolgt oder keine akuten Symptome auftreten, dann sei die durch die individuelle Biographie entstandene Verletzungsdisposition betroffen, da auch der Körper insgesamt sich ein Gedächtnis von jenem Ereignis gemacht habe.
Wenn solch eine erniedrigende Handlung, aus Macht und zum Zwecke der Befriedigung von Leidenschaften ausgeübt, zur individuellen Erfahrung wurde, dann ist sie eng mit Bedeutungen verbunden, die einen bewussten Umgang mit einem würdeverletzenden Ereignis anzeigen und voraussetzen. Erfahrung ist das von Bewusstsein durchdrungene traumatische Erlebnis. Die Bedeutung und der Sinn eines Ereignisses, die nicht vom Bewusstsein erfasst sind, können nicht zu Erfahrungen werden. Vielleicht liegt darin der Grund, warum Gewaltopfer in latenter Gefahr sind, erneut Gewaltopfer zu werden.
Ein traumatisches Erlebnis, das nicht zur Erfahrung wurde, kann bagatellisiert, ja verleugnet und vergessen werden. Es ist nicht an Bedeutungen und Sinn fixiert. Es kann mit Bedeutungen aufgeladen werden, indem es durch äußere oder innere Trigger aktualisiert wird. Vor allem kann die Erinnerung an das Erlebnis, obwohl es scheinbar keine beherrschende Wirkung auf den Alltag einer Person entfaltete, durch neue kulturell bedingte Bedeutungszuschreibungen Empfindungen wachrufen und Schamgefühle erzeugen, die sich darauf beziehen, dass die Person sich hilflos, von der Umwelt isoliert oder durch Macht erpresst gefühlt und keinen angemessenen Widerstand geleistet hat. So kann durch neue Bedeutungen, die mit einem sexualisierten Verhalten, mit einem aversiven Habitus oder einer hochmütigen Attitude verbunden sind, eine komplizierte Mixtur aus Scham, aktualisierter Erinnerung und einer gesellschaftlichen Forderung nach bekennendem Widerstand resultieren. Dies gelingt in der Gruppe leichter, wie die Bewegung #MeToo oder die Offenbarungen der Missbrauchten durch Priester/Pädagogen belegen. Indem sich ein neuer Diskurs in der Gesellschaft ausbreitet, können damit eigene Erinnerungen verbunden werden und aus dem Schamschatten heraustreten. Die Wahrnehmung von Erlebnissen ist nicht statisch. Ihre Bedeutung ist nicht einzementiert für alle Zeiten. Ein negativ erlebtes Ereignis kann durchaus erinnerbar sein, hat aber keinen traumatischen Charakter, kann aber sehr wohl traumatische Züge annehmen, wenn es durch das Prisma neuer und einleuchtender Bedeutungszuschreibungen betrachtet und nicht in individueller Isolation gefühlt wird. Selbst wenn die Handlung einer machtvollen Person vom Kind oder Abhängigen in einem schmeichelhaften oder vorteilhaften Sinne wahrgenommen wurde, bleibt im Gedächtnis das Gefühl der Unterlegenheit und eines unspezifischen Verlustes der Selbstbestimmung und Gleichberechtigung. Vulnerabilität bedeutet stets eine Einschränkung der Lebendigkeit. In diesem Sinne ließe sich die späte Aussage einer Frau zur Berufung des Richters Kavanagh an das oberste Gericht der USA und seinen beklagten sexualisierten Übergriffen verstehen. Sie will ihre Lebendigkeit wieder gewinnen. Das Erlebnis in der Vergangenheit wird in einem neuen Bewertungsrahmen nacherlebt und kann heute traumatischen Charakter annehmen. Es kann heute keine posttraumatischen Symptome ausbilden, weil sich diese bereits lange zuvor im Verheimlichten entwickelt haben. In der Vergangenheit hätte niemand dieser heute öffentlich geäußerten Anklage geglaubt. Die Frau musste folglich allein mit der Demütigung zurecht kommen. Erst die Bewegung schuf einen Rahmen, der es gestattete, die Erlebnisse zu offenbaren und eine Macht- und Gewaltkonstellation zu benennen, die in vergleichbarer Weise von Chorknaben, Messdienern, Schülern, Mädchen und Frauen erfahren und verborgen wurde. Die durch alle Medien ziehende Offenbarung zeigt eine nicht näher zu bestimmende Vulnerabilität an, die durch die gesellschaftliche Reaktion vermutlich erhöht wurde, wenn nicht das Selbstvertrauen der Frau und die Frauenbewegung zu einer relativen Stabilität beigetragen hätte. Man darf natürlich die politische Dimension nicht außer Acht lassen, die keine direkte Beziehung zur individuellen traumahistorischen hat: die Empörung, dass ein Mann mit einer unkontrollierten Herrschaftsattitüde ein Amt anstrebt, das mit enormer Macht verbunden ist, aber als moralisches Vorbild lediglich ein schlichter Sauhund ist, der die Vorwürfe bestreitet oder den sein Gedächtnis im Stich lässt.
Niemand vermag sicher zu sagen, dass solche scheinbar vergangenen Ereignisse nicht zu einer Steigerung der Verletzlichkeit für weitere biographische Traumata geführt haben. Deshalb soll hier auch nicht spekuliert werden. Tatsache ist, dass wir unterschiedlichen Ereignissen unterschiedliche Bedeutungen zuschreiben, die aus kulturellen, moralischen und politischen Einflüssen entstehen, die ihre Zeit haben und keinem Ewigkeitsanspruch genügen.
Der Mechanismus der Neubewertung von negativen Erlebnissen hat auch ambivalente Züge, die in die Gesellschaftspolitik hineinwirken, wenn z.B. Überlebende der Luftangriffe auf Dresden in ihrer Erinnerung schmerzhaft erstarren. Dagegen können solche Menschen, die nicht direkt die Bomben erlebten oder als damalige Kleinkinder lediglich davon berichtet bekamen, nur ein funktionales, instrumentelles Verhältnis entwickeln, das nicht mit Trauma gleichgesetzt werden darf. Es gibt kein Stellvertretertrauma! Es gibt aber wohl eine stellvertretende Forderung nach Gerechtigkeit unter Berücksichtigung des Gesamtkontextes des Geschehens.
Die Vulnerabilität ist eng mit der individuellen Biographie, den Erlebnissen und ihren Bearbeitungen, verknüpft. „Was uns nicht umbringt, macht uns hart“, ist ein Satz, der innig mit falschen pädagogischen und hochpolitischen Zwecken verbunden ist. Ein Satz von Männern für Männer. Innerhalb der Traumalehre ist er zudem komplett unrichtig und dümmlich sowieso. Vulnerabilität betont eine Disposition für weitere traumatische Erlebnisse, ohne festzulegen, ob deren Folgen gravierender oder geringer ausfallen. Ein diagnostiziertes Trauma macht Aussagen zur Vulnerabilität, nicht aber über das auslösende Ereignis, das allein durch gezeigte und ausgelebte Macht zustande kommt und vielfältige Formen annehmen kann.
Sehr schön kann man an dem aufgeführten Beispiel aus den USA nachvollziehen, dass Diskurse nicht nur isolierte neue Ideen repräsentieren oder neue Verknüpfungen herstellen, sondern auch eine alternative Praxis begründen können.