Wiederholt wurde ich gefragt, ob nicht ein bedeutsamer Paradigmenwechsel eingesetzt hätte, als im Jahre 1980 die Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS) im DSM-III auftauchte.

Die Fragen bezogen sich innerhalb einer diagnostischen Strategie auf die Ursache-Wirkungs-Relation und damit vor allem auf die Methodik.

Wenn ein Mensch einen Fahrradunfall erleidet, dann sind im Allgemeinen die resultierenden Verletzungen (z.B. Frakturen, Desorientierung, Hautabschürfungen usw.) auf den Unfall zurückzuführen. Ursache und Wirkung stehen in einer logisch erscheinenden Beziehung zueinander.

In vergleichbarer Weise sind psychosoziale Symptome einem Ereignis, das intensiven Stress hervorruft, zuzuordnen. Auch der Fahrradunfall geht mit plötzlichem Stress (z.B. Überflutung von Hormonen) einher. Er wurde allerdings nicht unter die Auslöser von PTBS gefasst. Die Auslöser, die eine PTBS bedingten, schlossen somit eine ganze Reihe von Stressoren aus, weil sie ursprünglich von den Task-Force-Psychiatern der APA, die das DSM aktualisieren sollten, auf soldatisches Erleben und Erleiden in Vietnam bezogen wurden.

Mit dem Paradigmenwechsel tritt nun eine neue Situation ein. Die Ursache für psychiatrische Veränderungen liegt nun auf dem Tisch: es ist nicht der Fahrradunfall, sondern allein das Fronterlebnis eines Krieges mit dauerhafter Angst, Verlusten und Tabubrüchen, d.h. passiven Erfahrungen und aktiven Handlungen.

Im Verhältnis zu körperlichen Verletzungen werden die aufgelisteten Symptome der PTBS durch ein plausibles und entscheidendes Ereignis zum Faktum. Die Diagnostik muss nun nicht mehr aus den geschilderten oder beobachteten Symptomen auf ein Krankheitsbild schließen, wie es bei allen sonstigen psychiatrisch reklamierten Auffälligkeiten und Leidensprozessen galt, sondern der Patient bringt seine Diagnose als Narrativ mit. Die Diagnostik mittels Fragebögen hat dann nur noch affirmativen Charakter, ist allerdings nicht in der Lage, vorgetäuschte PTBS von realer oder aktueller zu unterscheiden, weil beiden Formen eine subjektiv getönte Schilderung mit unterschiedlichen Zwecken zugrunde liegt.

Nehmen wir das Beispiel einer Blinddarmentzündung, die, wie psychosoziale Beschwerden, zu Beginn für den Außenblick verborgen ist. Der Schmerz im rechten Unterbauch, eine rektale Temperaturerhöhung, Appetitlosigkeit und allgemeines Krankheitsgefühl werden alsdann ergänzt um die Prüfung des Loslassschmerzes und die Leukozytenzählung. Erst jetzt wird eine begründete Verdachtsdiagnose gestellt. Das wäre, was im angelsächsischen Raum als bottom-up-Diagnostik bezeichnet wird: von der Basis der eruierbaren Symptome gelangt man zu einer Krankheitsbezeichnung. Im Kontrast dazu steht die Top-Down-Diagnostik, die nicht bei einer Krankheitsbezeichnung landet, sondern vielmehr die Diagnose im Vorverständnis des Diagnostikers findet und dann mittels Fragebögen absichert. Entscheidend ist dabei das geschilderte, extrem traumatische Ereignis. Diese Umkehrung des klassischen Vorgehens in der Diagnostik hat sich mit  einigen gravierenden Problemen auseinanderzusetzen. Hier sind die unspezifischen Symptome oder Zeichen zu nennen, die auch bei zahlreichen anderen Störungen auftreten können. Die katalogische Auflistung von Symptomgruppen mit ihren Unterkategorien müssen geschildert werden. Lediglich zwei oder drei Unterkategorien müssen vorhanden sein oder genannt werden, um die Diagnose PTBS als berechtigt zu stellen. Bei genauer Prüfung wird man feststellen können, dass diese auch bei Angststörungen, Depressionen oder psychotischen Episoden (inkl. Wirkungen und Nebenwirkungen von Pharmaka) vorkommen. Insgesamt kann man zum Urteil kommen, die PTBS stelle eine Retortendiagnose dar, die an ihrem Ursprung einen politischen Zweck erfüllen sollte.

Nun könnte man angesichts der gravierenden Veränderungen der heimkehrenden US-Soldaten zu dem Schluss gelangen, dass es müßig sei, methodologische Neuerungen kritisch zu befragen. Die Ursache-Wirkungs-Relation läge auf der Hand und erschiene jedem plausibel: Kriegserlebnisse mit Todesnähe verursachten nun einmal die katalogisierten Symptome, die für signifikant erklärt werden. Die Ausbildung zum Verstoß gegen das Tötungstabu wird nicht unter die präformierenden Symptome gerechnet. Auch nicht der Krieg, der nicht dem Überleben der Bevölkerung und Nachbarn gilt, sondern allein geostrategischen und politischen Zwecken. Wenn dann noch innenpolitische Krisen zu militärischen Abenteuern verleiten, wirkt das soldatische Leiden wie ein Trapezakt ohne Netz und doppelten Boden, der zwangsläufig Angst und Unsicherheit hervorruft.

Das bedeutet, der methodische Paradigmenwechsel hat für Psychologen und Psychiater eine gewisse entlastende Funktion, weil die ursächlichen Voraussetzungen einer Störung geklärt sind. Man muss nun nicht mehr zwischen sozial-kulturellen, familiär-kommunikativen und biologischen Ursachen hin und her manövrieren, je nach Beruf, Opportunität und Nützlichkeit. Das negative biographische Erlebnis steht am Beginn einer Kaskade aus physiologischen und sozialen Reaktionen und am Beginn eines Mangels an Schutz und Zugehörigkeit. Durch diese Erkenntnis kam es zu einem Hoffnung versprechenden und zugleich trübenden Ansatz: Die Beziehung zwischen machtvoller Umwelt und Subjekt kann sowohl begeistern als auch zu fortgesetztem Leiden führen, indem Subjekte zu Objekten gemacht werden und am Ende gar die sozialisierten Kosten für ihre Rehabilitation (Zeit, Kraft, Versicherungsbeiträge) tragen müssen.

Übrigens: Sprachlich kann man sich reflexiv selbst verletzen, wenn es um körperliche Verletzungen geht. Psychische Verletzungen kann man nur durch Andere erleiden. Ob das so stimmt??