Meine Kritiken aus unterschiedlicher Perspektive an der Diagnose PTBS, ihrem Gebrauch, ihrem historischen Auftauchen, ihren politischen Zwecken und ihrer Vervielfältigung habe ich hier formuliert, obwohl mir bewusst war, dass ich dadurch Beifall von unerwünschter Seite erfahren könnte und zugleich diejenigen verärgerte, die mit dem Zugriff zur Diagnose ihren Mandanten und Klienten im öffentlichen Vortrag nützlich sein oder die Sensibilität für das psychosoziale Befinden von Flüchtlingen in der gesellschaftlichen Debatte wecken und verfeinern wollten. Die Diagnose, so die allgemeine Auffassung, sei die (wenn auch unpräzise) Zusammenfassung von Beschreibungen innerer Prozesse von Flüchtlingen und Asylsuchenden, wenn sie nach Gewalterlebnissen in Europa angekommen seien. Mit dieser Diagnose, die aus dem psychiatrischen Arsenal stammt, sei der psychosoziale Status von Flüchtlingen leichter zu verstehen und zu korrigieren. Dieser psychische Status verlange Schutz, Hilfe, Geduld, Geborgenheit und therapeutische Stützung sowie eine Perspektive in einer neuen gesellschaftlichen Umgebung. Dazu verpflichteten die Moral, Menschenrechte und humanitäre Betrachtungen im globalen Kontext. Sowohl Behördenmitarbeiter (BaMF, Ausländerbehörden) als auch Rechtsanwälte in Asylverfahren oder Flüchtlingshelfer haben mich wohl nicht richtig verstanden, wenn sie meine Einlassungen in ihrem Interesse funktionalisierten oder als störend und kontraproduktiv empfanden. Es besteht einfach ein Unterschied zwischen einem wissenschaftlich untauglichen Begriff (PTBS) und dem pragmatischen Gebrauch dieser Störungsbezeichnung, bei dem man sich im Allgemeinen nicht klar macht, dass sie Mystisches und Unerklärliches transportiert.
Es ist daher wohl eine Klarstellung angebracht.
1) Weil nicht jeder Mensch, der extremen Erlebnissen oder extremer Macht unterworfen wurde, langfristige Symptome ausbildet und an ihnen leidet, ist eine präzise Differentialdiagnostik erforderlich, die mindestens zwei Bedingungen erfüllt: a) es genügt nicht, allein subjektive Schilderungen mit einem zentralen traumatischen Erlebnis zur Grundlage der Diagnose PTBS zu machen. Fragebögen und Screenings haben dieselben Einschränkungen. So genannte objektive Parameter des Nachweises posttraumatischer Symptome existieren derzeit nicht. Sie können daher nicht von Diagnostikern oder staatlichen Akteuren in Anspruch genommen werden. Aus diesem Grund wird man auf b) verwiesen: Die Prüfung der Glaubhaftigkeit. Man wird – und dies gilt in besonderem Maße für staatliche Akteure – deutlich machen müssen, warum man einer Darstellung glaubt oder nicht glaubt. Die Kriterien für ein Bestreiten der posttraumatischen Symptomatik dürften sich ausschließlich auf die geschilderten Symptome einer PTBS beziehen. Ein z.B. falscher Name, der aufgedeckt wird, kann nicht zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit eines in eine Diagnose gefassten Leidens herangezogen werden, denn in Gutachten oder in Stellungnahmen wird wesentlich die Glaubhaftigkeit einer PTBS, ihrer Behandlungsbedürftigkeit und der prognostische Zeitrahmen festgestellt. Wer diese Faktoren in Frage stellt, muss sich derselben Methodik und Kriterien bedienen, andernfalls wird ein Urteil über den Wert eines Flüchtlings angeführt, und das ist nicht Aufgabe staatlicher Akteure. Der entscheidende Unterschied zwischen staatlichem Akteur und therapeutischem Experten liegt in der Bereitschaft zu primärem Misstrauen bzw. primärem Vertrauen oder Kredit. Nichts ist dümmer als die Aussage: „wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“, weil Erinnern und Sprechen über innere Prozesse so komplex ablaufen, dass sie individuell sehr unterschiedlichen z.B. Zwecken, Selbsterforschungen und sprachlichen Fähigkeiten unterliegen. Eine Diagnose, die ganz überwiegend auf subjektiven Schilderungen beruht, ist in einem spezifischen Dilemma: Hintergründe einer Traumatisierung in einem fernen Land oder auf der Flucht müssen geschildert werden, und die psychischen Folgen traumatischen Erlebens und Überlebens müssen gleichfalls berichtet werden. Nur geringe Indizien der Körpersprache stützen oder entkräften die Glaubhaftigkeit. Diese einschränkenden Bedingungen, sich einem Wahrheitsgehalt zu nähern, müssen sich alle mit Flüchtlingen befassten Personen oder Institutionen vor Augen führen. Sie mahnen zur Vorsicht. Nichtwissen darf nicht zu einem negativen Urteil führen.
2) Bei Flüchtlingen bewirkt die Diagnose im Unterschied zum diffusen Leiden, das nicht nur aus traumatischen Erlebnissen entstehen kann, ein spezifisches Merkmal, das eine behutsame und rücksichtsvolle Behandlung einfordert, obwohl die nicht von der Diagnose ausgeht, sondern vom stützenden Angebot interpersoneller Beziehung. Die Diagnose kann sozialpolitische Implikationen und Alltagserleichterungen entfalten, wenn sie zu besonderer verpflichtender Rücksicht auf Kranke führt.
3) Wenn man das Leiden gequälter Menschen lindern will, braucht es nach meinem Verständnis keine Diagnose aus dem psychiatrischen Korpus. Das würde nämlich andeuten, dass es Reaktionsformen auf Gewalterlebnisse gibt, die keinen psychiatrischen Stempel benötigen, weil sie keine oder nur geringe Symptome nach sich ziehen. Eine mit solcher Diagnose verbundene Stigmatisierung würde erst aufhören, wenn „psychiatrisch“ nicht mehr negativ konnotiert wäre, sondern die Reaktion auf Gewalterlebnisse als individuell natürlich und von der eigenen Biographie und der sozialen Umwelt hervorgebracht angesehen würde. Dann bräuchte es allerdings keine solche Diagnose. Das individuelle Leiden gequälter Menschen geht auf Machtäußerungen zurück, die unausrottbar erscheinen. Jede Machtäußerung fordert Anerkennung oder ist zu Strafen fähig. Von daher ist die gesellschaftliche Verantwortung herausgefordert, weil Machtäußerungen das menschliche Leben konstant schmerzhaft durchziehen. Es gibt immer Nutznießer von Macht und Unterworfene. Macht lässt sich nicht beschreiben und kritisieren, ohne auf den Autoren zu verweisen. Es gibt keinen Ort außerhalb menschlich angemaßter Macht. Wo Menschen sind, wird Macht gebildet. Nur in Märchen kann man machtfreien Königen, fairen Adligen und interesse- und selbstlosen Helfern (sind das Helfer ohne Selbst?) begegnen. In staatlichen Institutionen wird man diesen Idealtypus nicht antreffen. Das liegt wohl daran, dass Macht erst wirksam ist, wenn sie Komplizen produziert. Durch Teilung und Hierarchie wird Macht oft mehr und größer.
4) Innerhalb der Auslegung des Asylrechts und in den Bestimmungen des Ausländerrechts gibt es bescheidene Ermessensspielräume. Sie betreffen spezielle Rücksichtnahme auf Kranke, Gefährdete oder Schwangere. Muss ein Flüchtling als krank deklariert werden, damit er Rechte hilfsweise in Anspruch nehmen kann oder spezielle Unterstützung erfahren kann oder in den Asylverfahren begünstigt wird? Das Asylrecht ist in erster Linie ein geschriebenes Abwehrrecht (im Gegensatz zum ungeschriebenen Gastrecht). Es muss sich nolens volens mit der posttraumatischen Belastungsstörung, die einen wesentlichen Wandel von der Störung zur Krankheit vollzogen hat, auseinandersetzen. PTBS kann einen Krankheitswert annehmen, der unter Stress aktualisiert und verstärkt wird. Immer wenn sich Gesetze bei Flüchtlingen über existenzielle Grundbedürfnisse hinwegsetzen, entsteht ein Stress, ein innerer Aufruhr, der durch hormonelle und vegetative Einflüsse einen unerträglichen Schwebezustand und schlecht beherrschbare Angst verursacht.
Unter dem Gesichtspunkt psychischer und sozialer Gesundheit haben wir es mit einem Paradoxon zu tun: Wer als politisch Verfolgter mit dem Flugzeug nach Deutschland kommt, darf auf den Art. 16 a des Grundgesetzes hoffen. (Die Fluglinie wird nicht als Schlepperorganisation bewertet, obwohl sie ein Geschäft macht und Geld fordert.) Wer unter permanenter Lebensbedrohung über das Mittelmeer in Europa landet, nachdem er/sie aus Seenot gerettet wurde, kann einen Asylantrag stellen, dem mit dem Abwehrrecht begegnet wird, obwohl er/sie extrem traumatischen Erlebnissen (z.B. in Libyen, im Herkunftsland und auf dem Mittelmeer) ausgesetzt war. Politische Verfolgung entsteht stets aus machtpolitischer Willkür. Diese machtgestützte Willkür lässt sich annehmen, wenn eine Regierung ihre Bevölkerung hungern lässt, Bildung verweigert, Zukunft verdunkelt, sich durch Korruption bereichert, das Militär privilegiert, mit kriminellen Banden paktiert und sich letztlich den Interessen und Interessenten unterordnet, die in Europa Asyl definieren. Dann wird es global fatal, und für ein Begehren, solchen Verhältnissen zu entkommen, ist das Asylrecht nicht gemacht, weshalb der Ermessensspielraum in europäischen Amtsstuben hinsichtlich psychosozialer Beschädigungen so bescheiden ausfällt. Im Asylrecht werden inkompatible Kategorien nach politischen Vorgaben vermischt. Moralische Kriterien bleiben auf der Strecke, obwohl sie im Zentrum humanitärer Empfindungen stehen sollten.
5) Wenn man die aufgelisteten Symptome und Zeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung im einzelnen betrachtet und auf sich und die eigenen Empfindungen überträgt, dann wird man nicht umhinkommen einzuräumen, dass alle Symptome, wenn auch nicht zugleich, im eigenen Leben registriert und daher erinnert werden können: jeder vermeidet, hat übererregte Phasen und bemerkt in den Tiefen intrusive Repräsentationen. Auch die Unterkategorien hat jeder/jede wiederholt bei sich bemerkt, von der Schlaflosigkeit über die Antriebsschwäche bis zur Beziehungsunlust, von der Beherrschung durch innere Bilder bis zum sozialen Rückzug und der Vermeidung von Personen, Orten und Situationen. Das bedeutet folglich, es werden Auslöser festgelegt, nach denen eine Vielzahl an aufgelisteten Symptomen und Zeichen einer PTBS sich einem Menschen aufdrängen, nachdem er extremem Stress ausgesetzt war. Was extremer Stress ist und daher vereinheitlichende Klassifikationen gestattet, ist die subjektiv wahrgenommene Bedrohung des physischen und psychosozialen Lebens, ist die Begegnung mit der Möglichkeit des eigenen physischen Todes oder der Auslöschung sozialer Attribute, denn ein Mensch ohne soziale Attribute ist kein Mensch mehr, ist folglich der Welt abhanden gekommen. Alle Stressoren unterhalb der Vernichtungsandrohung enthalten in ihrer Wahrnehmung wesentlich mehr subjektive (kulturell geformte) Anteile, so dass homogenisierende Klassifikationen problematisch werden. PTBS ist eine soziale Konstruktion, die in der Lage ist, Leiden anzuerkennen und einen therapeutischen Sektor auszubauen. PTBS hat in der Kommunikation von Expert*innen eine gute Gebrauchssicherheit (reliability), aber eine geringe Validität, d.h. Messgenauigkeit für Merkmale oder Zeichen.
Wenn nun die jeweilig genannten Symptomgruppen und Unterkategorien auch das durchschnittliche Leben begleiten, darf man fragen, ob ein Ereignis aus der Realität geeignet ist, die gleichzeitige Vielzahl an Symptomen und Zeichen dauerhaft hervorzubringen, so dass daraus ein Leiden, eine Pathologie entsteht, die bei längerer Persistenz auch somatische Symptome und Zeichen bedingt, die „zwangsläufig“ auf das traumatische Erlebnis und nicht auf den individuellen Integrationsprozess sowie auf das posttraumatische Sozialleben zurückgeführt werden. Fragen erheben sich auch bei langfristigen Vergleichen von symptomatischen Minderheiten zu symptomfreien Mehrheiten, die vergleichbare Erlebnisse hatten. Was unterscheidet sie? Solche Fragen lenken die Aufmerksamkeit auf die Kliniker und Forscher, ihre Motive und Kriterien, auf die Psychiater, die einen heilsbringenden Diskurs in die Welt setzten. Die rasche Verbreitung des Diskurses in einem bestimmten Teil der Welt schien ein Bedürfnis zu befriedigen, und der Diskurs hatte in der Tat neue Betrachtungen über die Beziehung von Umwelt und Individuum, von außen und innen im Gepäck.
6) Ich habe mich vor allem kritisch zur posttraumatischen Belastungsstörung geäußert, weil - ich war mir dessen sicher - unter den aufgeführten Symptomen und Symptomgruppen eine bedeutsame fehlte: die posttraumatische Wut, die wie kaum ein anderes Symptom und Zeichen katastrophales Handeln bei Traumatisierten und ihrer Umgebung hervorrufen konnte. War hier extreme Vermeidung bei der Entwicklung des Katalogs im Spiel? Passte Wut nicht zur Beschreibung von Opfern, deren hervorstechendes Merkmal durch Passivität gebildet wird (das unschuldige Lamm im christlichen Sinne). Empathie zu entwickeln ist viel leichter mit Opfern als mit Wütenden. Unruhe, Hypervigilanz, Konzentrationsverminderung können auf eine fortdauernde Wut hinweisen. Jeder/jede, die durch Bedrohung der Existenz und durch willkürliche Macht zur Flucht getrieben wurde, empfindet gegenüber den Auslösern mehr oder minder, oft oder weniger oft Wut. Flüchtlinge lassen im Allgemeinen den Auslöser ihrer Wut hinter sich und haben dann keinen direkten Adressaten für emotionalen Ausgleich oder Satisfaktion. Nur diejenigen empfinden keine Wut, die sich resigniert unterworfen und die Machtverhältnisse anerkennend inkorporiert haben. Wut gilt bei uns als unschicklich, weil in der Wut die Selbst“beherrschung“ aufgegeben werde. Dabei kann anfängliche Wut im Exil produktive Züge annehmen: durch Organisation in informellen Gruppen, durch Hilfe auf Gegenseitigkeit und durch Teilnahme an einem begrenzten Widerstand gegen die Verhältnisse, die zur Flucht gezwungen haben. In fortdauernder Hilflosigkeit und Isolation kann die Wut eines Flüchtlings sich brutale Ventile suchen oder sich gegen sich selbst richten. An den US-Veteranen des Vietnamkrieges lässt sich zeigen, dass Wut und Schuld (als verkürzte Erklärung) zu Suiziden oder zu Amok führten.
Es lässt sich kursorisch bilanzieren: Bei Flüchtlingen ist ihre Wut Teil eines posttraumatischen Störungs- bzw. Krankheitsbildes und muss daher im therapeutischen Kontakt ernster genommen werden als die übrigen Symptome, weil sie die individuelle oder kollektive Sozialität schädigen kann. Die Wut ist Ausdruck einer massiven Ungerechtigkeit, die zu keiner Aufhebung, keiner Anklage und keinem Urteil führt. Die Wut kann mit der Zeit zur Ruhe kommen. Sie ist aber jederzeit durch äußere Signale entflammbar. Wut kann sich jedoch, nicht nur aus taktischen Gründen, mit Vernunft verbinden, um den Zirkel der Gewalt zu durchbrechen. Da die posttraumatische Wut nicht in den aufgelisteten Symptomen und Zeichen erscheint, wird sie nicht im notwendigen Maße wahrgenommen und zur Entspannung gebracht. Und: Jeder weiß, dass behördliche oder gerichtliche Begegnungen einen Flüchtling vor die Wahl stellen können, zu resignieren, Dauerangst zu verspüren oder Aggressionen ohne Rücksicht auf sich und andere auszuleben, mit einem Wort: krank zu werden bzw, aus dem Gleichgewicht zu kommen, was Gedächtnis, Konzentration und andere physische Potenzen betrifft.
Meine Kritik richtete sich stets auf den wissenschaftlich oder mystifizierend angemaßten Begriff einer posttraumatischen Belastungsstörung, niemals aber auf das Leiden, das durch bedrohliche Ereignisse ausgelöst wird, obwohl ich den Umwandlungsprozess eines Erlebnisses in ein Leiden nicht verstehen konnte. Er ist einfach noch nicht aufgeklärt, und was nicht erklärlich ist, gerät in das Reich des Mystischen, und das Mystische gestattet jedem seine eigene Deutung.