Great Expectations

 

 Wenn man die Forschungen, die sich auf epigenetische Phänomene beziehen, näher an sich heranlässt, dann kann man sich an Dickens’ Erzählungen erinnert fühlen. Worum geht es dabei? Und warum sollten sie an die „großen Erwartungen“ erinnern? Und wer schürt diese Erwartungen?

Eigentlich geht es um einen durchsichtigen Wurm, an dem unter experimentellen Bedingungen und unter dem Mikroskop beobachtet wurde, dass im Vererbungsprozess nicht nur die DNA von Spermien und Eizellen am Zellteilungsvorgang teilnehmen, sondern auch die umgebenden basischen Aminosäuren, die in ihrer Anordnung ermöglichen, dass ein 160 cm langer Strang von Erbinformationen so gepackt wird, dass er in einen Zellkern passt, wofür so genannte Histone verantwortlich gemacht werden. Epigenome bzw. das Chromatin waren bis vor kurzem in ihrer Bedeutung nicht erkannt worden. Histone bestehen aus basischen Proteinen und sind das die Doppelhelix umgebende Gerüst oder Stützmaterial, das zu wechselseitigen Prozessen fähig ist und anders als Gene der primäre Reaktionsort auf Umweltreize darzustellen scheint. Die Funktion der Methylierung von Histonen wird derzeit intensiv erforscht und steht überwiegend in Beziehung zur epigenetischenInaktivierung von Genen. So kann eine regionale Trimethylierung des Lysinseitenrestes zu einer Kondensierungder Chromatinstruktur in diesem Bereich führen. Dies hat dann eine Inaktivierung der Genexpressiondes auf diesem Abschnitt liegenden Genszur Folge.

Die großen Erwartungen gehen davon aus, dass intensive Erlebnisse (wie z.B. traumatische Ereignisse) über einen Methylierungsprozess zu einer Verwandlung der Erbinformation führen, die auf die nächste Generation weitergegeben werden kann. Wenn nicht Einflüsse auf die Erbinformation angenommen werden, wäre das begeisterte Interesse in der wissenschaftlichen Gemeinde nicht zu verstehen. Unter den diskutierten Einflüssen sei auch eine Empfänglichkeit für posttraumatische Symptombildungen anzuführen, die sich in der Folgegeneration auswirken könne.

„Epigenetic modifications, such as DNA methylation, can occur in response to environmental influences to alter the functional expression of genes in an enduring and potentially, intergenerationally transmissible manner.“ So beginnt das Abstract eines Aufsatzes von Rachel Yehuda und Linda Bierer (2009) The relevance of epigenetics to PTSD: implications for the DSM-V im Journal of Traumatic Stress.

Und in der Tat hat die Biologin Susan Strome in einer bahnbrechenden Arbeit mit ihrem Team nachgewiesen, dass epigenetische Strukturen durch Erfahrungen Veränderungen unterworfen werden können, die auf folgende Generationen übertragen werden, indem es zu einer Inaktivierung der entsprechenden Genexpression komme. Jedenfalls soweit eine Wurmspezies betroffen ist.  Professorin Strome und ihr Team konnten nachweisen, dass der epigenetische Apparat an der Zellteilung teilnimmt. Die Zwillingsforschung hatte bereits in diese Richtung gewiesen: In der Frühphase waren genetisches und epigenetisches Material bei eineiigen Zwillingen noch weit gehend identisch, während nach 50 Jahren die Analyse des epigenetischen Materials eine Differenz von rund 50% aufweisen konnte. Dies wird als Beweis angeführt, dass epigenetisches Material durch Umwelteinflüsse, d.h. Erlebnisse und soziale Prägungen, Veränderungen unterworfen ist, die sich durch mitotische Prozesse ziehen (können). Das bedeutet, dass epigenetische Veränderungen die Expression von Genmerkmalen beeinflussen, indem sie Potenzen der Expressivität von Genen aktivieren oder deaktivieren.

Inwieweit dies für sehr komplexe Prozesse wie traumatische Erlebnisse zutrifft, scheint heute eher unwahrscheinlich. Mit dem Impuls, das individuelle Überleben zu sichern, verfügen Menschen im Allgemeinen bereits über ein Grundgerüst für die Absicherung des Selbst in einer potentiell bedrohlichen Umwelt. Dieser „Trieb“ hat immer Priorität vor anderen Impulsen. Die Verarbeitung von negativen Erlebnissen kann als Detail des „Überlebenstriebes“ oder als erlernte  Potenz mit seinem individuellen hormonellen Mechanismus verstanden werden und soll folglich individuelle Katastrophen verhindern. In abgestufter Weise ist er für die Integration von subjektiv bedrohlichen Szenarien zuständig. Er kann dabei von Ressourcen gestützt werden und resiliente Muster der Abwehr, Verdrängung oder bewusster Bearbeitung ermöglichen.

Aber während Resilienzen bislang erworbene Muster repräsentierten, scheinen diese nunmehr als Erfahrungen zu chemischen Einflüssen auf den epigenetischen Apparat in der Lage zu sein und einen fixierten Prägemechanismus in Gang zu setzen. So muss man allerdings  annehmen, dass epigenetische Komplexe Dispositionen darstellen, die durch einen An- und Abstellmechanismus aktiviert werden können. Wie auch immer, der Chemismus im mikroskopischen Bereich entzieht sich dem Bewusstsein, was landläufig als das Geheimnis der Psychosomatik gefasst wurde, denn dieser Chemismus kann für Krankheiten und ihre Vorstufen verantwortlich sein, soweit sie sich auf Erlebnisse in der Realität beziehen.

Das extreme Trauma des Überlebens des Holocaust versucht man nun, über die Wirkungen epigenetisch veränderter Weitergabe an die Kinder- und Enkelgeneration zu erklären, wenn sich diese in auffälliger Weise zeigen. Das scheinen aber eher Schnellschüsse zu sein, denen es an hinreichender Empirie mangelt. Es handelt sich um Spekulationen, die komplexes Verhalten als chemische Repräsentationen und dies allein durch den Mechanismus der Aktivierung oder Hemmung bestimmter Formationen epigenetischer Prozesse der Methylierung begreifen. Man darf gespannt sein, inwieweit die großen Erwartungen berechtigt sind. Ist es berechtigt, das psychische Leiden in Nazi-Vernichtungslagern über einen genetisch-chemischen Mechanismus auf die folgende Generation zu übertragen und wie sähe die Spezifität der Genexpression aus? Lassen sich dann überhaupt verbindliche Klassifikationen annehmen?

Auf jeden Fall sind die Fragen länger und umfangreicher als die Antworten aus den Laboren.

 

Literatur:

Susan Strome, Heritable histones, The Scientist Magazine.https://www.the-scientist.com/daily-news/heritable-histones-36826

Rachel Yehuda and Linda Bierer, The relevance of epigenetics to PTSD: implications for the DSM-V, Journal of Traumatic Stress, 2009, vol. 22 (5): 427–434. doi:10.1002/jts.20448.