Gedanken zu einem Buch von Susan Brison (2002) Aftermath: Violence and the Remaking of a Self.

 

Im Bewusstsein, dass es elementare Hindernisse gibt, wenn Männer über Frauen sprechen, äußere ich mich hier zum Leiden einer Frau nach extremtraumatischen Erlebnissen. Die Hindernisse liegen für Männer nicht nur in der ungenügenden Reflexion von Macht/Ohnmacht und in den testosterongesteuerten Urteilen zur Welt, vielmehr in der oft fehlenden Sensibilität für Ohnmacht und in den meist verschlungenen Bemühungen der Frauen, Ohnmacht zu überwinden.

Frau Brison überlebte im Jahre 1990 als Touristin auf einem Spaziergang eine Vergewaltigung in Frankreich, wurde gewürgt und nach einem Schlag mit einem Stein gegen ihre Stirn in bewusstloser Verfassung liegen gelassen. Sie erlebte alle Stationen einer psychischen Traumatisierung, die von der Justiz Vergewaltigung und Mordversuch genannt werden. In ihren 12 Jahre später veröffentlichten Reflexionen (Frau Brison ist Professorin für Philosophie) wird erkennbar, was neben physischen und psychischen Wunden verletzt wurde: ihre aus sozialer Kommunikation konstituierte Weltbetrachtung. Bei der empathischen Lektüre ihres Buches wird erkennbar, dass ihre posttraumatische Wahrnehmung für kommunikativ geäußerte Zweifel, Verleugnung, Relativierung durch ihre Umwelt ebenso geschärft ist wie die Verletzlichkeit durch Ereignisse aus der Umwelt, die vor dem traumatischen Geschehen keinen beunruhigenden Bezug zu ihrem Leben gehabt hätten. Ihr Blick ist nach den traumatischen Ereignissen ein anderer geworden. Es geschieht oder unterbleibt etwas, auf das eine solch traumatisierte Person keinen Einfluss nehmen kann, wodurch sich ein Gefühl der Ohnmacht in die Zukunft erstrecken kann.

 

Der folgende Unbehagen bereitende Satz aus ihrem Buch kann nicht die Bedeutung von Begriffen in einer anderen Sprache und Tradition adäquat aufnehmen. Nur angenähert lässt sich ein Verständnis erreichen.

 

 “When the trauma is of human origin and is intentionally inflicted, the kind I discuss in this book, it not only shatters one’s fundamental assumptions about the world and one’s safety in it, but it also severs the sustaining connection between the self and the rest of humanity” (S.40)

 

In ihrem Buch geht es im Wesentlichen um das posttraumatische Narrativ, das ein sensibler Zuhörer zu erfassen sucht, ohne Urteile und Bewertungen einzuflechten. Im Erzählakt vor einem empathischen Zuhörer entsteht die Neugewinnung von „Sinn“, jedoch nicht nach Auslöschung des Erlebnisses, sondern durch Integration des traumatischen Geschehens in das weitere Leben. Wenn man Integration sagt, meint man vor allem Sinngebung durch das Bewusstsein. Das heißt, das erste Narrativ ist meist nicht in der Lage, die Integration zu ermöglichen. Es müssen wohl erst mehrere Narrative entstehen, bis die Realität wahrgenommen wird, wie sie ist, wenngleich sie nicht akzeptiert werden kann. Das wird man folgerichtig die soziale Integration posttraumatischen Leidens nennen. In diesem Prozess muss eine extrem traumatisierte Frau erkennen, dass ihre Annahmen über die Welt und ihre eigene Sicherheit mit Gewalterlebnissen kollidierten und nun einer Rekonstruktion bedürfen. Sie wird auch erkennen, dass ihre prätraumatische Wahrnehmung der Welt gleichfalls eine Konstruktion war, die durch ihren Charakter als Illusion eine Hoffnung, Mut und Zuversicht ermöglichte. Sie wird bereits zuvor erfahren haben, dass ihre Weltsicht und ihr Sicherheitsgefühl nicht für alle Menschen gilt, dass ihre Betrachtungen sie von anderen Menschen trennen. Solche Erkenntnisse machen es noch einmal schwerer, im eigenen individuellen Trauma einen Sinn und in der umgebenden Gesellschaft – nach dem Überleben – eine Stütze zu finden, denn gewisse Illusionen bilden die oft benutzte Grammatik des sozialen Lebens. Jeder extrem Traumatisierte stellt fest, dass die eigenen Begriffe und Bedeutungen der Sprache nicht ausreichen, um die innere Verletzung zu beschreiben.

In dem Zitat aus ihrem Buch lässt sich ein gewisses Pathos herauslesen. Mir gefällt der martialische Begriff „shatter“ nicht und auch nicht die Trennung der stützenden Verbindung zwischen dem Selbst und dem Rest der Menschheit. Das sind große Worte aus dem subjektiven Inneren, wenn nach dem extrem traumatischen Erlebnis mit Lebensgefahr zu niemand mehr Verbindung aufgenommen werden könne, zugleich aber ein Narrativ davon durch die Autorin einem empathischen Zuhörer, ja einer weltweiten Leserschaft angetragen werde. Was hat die erneute Zuwendung zur Welt bewirkt? Die Welt ist nicht dazu da, das Selbst verbindlich zu stützen. Das wäre pure Illusion. Das vermögen halbwegs Versuche durch Eltern, Geschwister, Freunde, Lehrer, Kommune. Die Welt ist einfach da, d.h. die Realität sollte in ihrer wirksamen Verfassung wahrgenommen werden und nicht in illusionärer Verkennung. „Zerschmettern“ von Grundannahmen (die Welt ist gut) und „Durchtrennen“ menschlicher Beziehungen sind plakative Begriffe, die aus dem pathetischen Begriffsarsenal einer Bulman-Janoff stammen. Sie setzen Machtäußerungen voraus, weshalb allein nach meiner Erfahrung ein posttraumatisches Narrativ, das sich mit Macht/Ohnmacht befasst und in der konstanten Beschäftigung mit Macht, die immer angemaßt ist, die eigene Ohnmacht lindern oder hinter sich lassen kann. Nun ist es wohl für jede Person schwierig oder unmöglich, die unterschiedlichen Formen der Macht – ökonomische Macht, Männermacht, Technikmacht, politische Macht – analytisch zu bearbeiten. Sie nur zu benennen, führt nicht zur Entlastung. Aber kann solch ein bewusst kognitives Vorgehen die trägen Emotionen mitnehmen und zugleich eine emotionale Erkenntnis und Wandlung bewirken? Ohnmacht in der Vergangenheit bleibt in der Gegenwart, was sie war. Sie verliert allmählich ihre schädigende Energie. Man kann sie dann vor allem nicht zu Macht umdeuten, ohne sich zu beschwindeln. Wenn eigene Macht einer traumatisierten Person ins Spiel kommt, dann liegt sie im bescheidenen sozialen Prozess der Verarbeitung, der Integration, der Selbstermächtigung.

Das traumatische Gedächtnis, das ein traumatisches Erlebnis immer wieder präsent macht, ist keine Schiefertafel, auf der man eingeschriebene Worte löschen kann. Wie mit unsichtbarer Tinte bleibt der traumatische Kontext erhalten. Er wird auch nicht durch positive Erlebnisse weggewischt, weil dies eine Öffnung für positive Erlebnisse voraussetzen würde. Der vollständige Kontext verliert allmählich seinen dauerhaft quälenden Charakter und tritt dann nur noch durch bestimmte Auslöser hervor. Es kann jedoch zu einer Fixierung an das traumatische Ereignis und die nachfolgenden Symptome kommen. Aus diesem Grunde bieten sich zwei Erklärungen an: Positive posttraumatische Erlebnisse sind in der Lage, die quälende emotionale Energie durch Wiederholungen zu überschreiben, wenn es eine Bereitschaft gibt oder zweitens: Im organischen Leben verliert jede Wahrnehmung ihre Energie, weil sie in zahlreichen metabolischen und sozialen Alltagsprozessen umgewandelt wird und dann vom vordergründigen zu einem hintergründigen Faktor der Lebensbeeinträchtigung  wird. Es ist nicht allein der bewusst wahrgenommene Sinn als kognitiver Akt, der traumatische Energie besänftigt, was Teile der kognitiven Verhaltenstherapie glauben machen wollen. Die Dämpfung der emotionalen Wirkungen des traumatischen Geschehens folgt nie direkt der Einsicht und kognitiven Affirmation des bereitgestellten oder angeeigneten Sinns. Emotionale Einsicht benötigt längere Zeit und einen vom Bewusstsein unabhängigen Weg. Die Physiologie dieses Prozesses ist nicht bekannt und daher auch nicht von außen bewusst zu beeinflussen. Sie bewegt sich zwischen den Polen von Resignation, d.h. dauerhafte Anerkennung der eigenen Unterwerfung unter Macht und Gewalt, und auf der anderen Seite von Hoffnung, d.h. Stärkung durch erfahrbare Lebendigkeit und durch Bekenntnis zu bedeutsamen Stationen der eigenen Biographie.

Sehr interessante Überlegungen finden sich bei Judith Butler in einem Kapitel über Primo Levi und seine bezeugende Berichte vom Überleben in einem Vernichtungslager der Nazis. Es geht ihr darum, herauszuheben, was in einem Zeugenbericht über erlittene Grausamkeiten und Drangsalierungen enthalten sein kann: wie viel ein Ich-Erzähler von den Erlebnissen in sachlicher und überprüfbarer Weise berichtet, und wie viel Emotionen durch Formulierungen und Rhetorik bei einem Adressaten ausgelöst werden. Vollständigkeit des Narrativs ist eine Illusion; es geht immer ein Teil bewusst oder unbewusst verloren. Ein Bericht erfüllt immer zwei Wirkungen.  Das Ich, das vom Gefängnis, vom Lager, von der gewalttätigen Misshandlung oder von der Geiselhaft erzählt, ist dabei handelndes und „misshandeltes“ Subjekt. Es wurde Opfer von Grausamkeiten, und es handelt schreibend nach dem Überleben, indem es im Leser Gefühle auslöst. Allerdings ist auch das Ich, das ein Narrativ formt, das Resultat zahlreicher Einflüsse aus dem gegenständlichen und interpersonellen Bereich, die zusammen die Bedingungen der Ich-Entwicklung bilden. Das Ich ist beim Erzählen nicht nur zugespitzt auf das traumatische Ereignis. Es führt eine lange und komplexe Geschichte in die Berichte von traumatischen Ereignissen mit sich. Zeugnis ablegen hat stets mehr als ein Ziel. Dabei ist das schriftliche Zeugnis, das Reflektionen aufnimmt, vom spontanen mündlichen zu unterscheiden. Das Schriftliche kann emotionale Figuren nur selten adäquat wie in die Rede einlassen, besonders wenn es wie nach Vergewaltigung und Mordversuch Erwartungen verspürt und seine Erzählung den Erwartungen anzupassen sich gezwungen wähnt, weil es Pathos und falsche Akzente zu vermeiden sucht. Was in Primo Levis Berichten eine Abgrenzung gegen Revisionisten beabsichtigte, ist in einem reflektierenden Bericht über männliche Gewalt eine gegen Relativisten gerichtete Haltung, die direkt und indirekt deutlich machen muss, das Ausmaß des Schreckens sei mit Worten nicht zu erfassen. Selbst Verwandlungen in Musik, Gesang, künstlerische Symbolisierung können nur Annäherungen sein.

Den größten Anteil der Integrationsarbeit musste Frau Brison selbst leisten. Sie war in dieser Periode sehr allein, ja sie musste sich den entlastenden kommunikativen Rahmen auch erst aus eigener Kraft herstellen. Nicht jedes Narrativ traf auf eine erleichternde Antwort, zumal die entstandene Vulnerabilität hypersensitiv für belastende Äußerungen, Mimik und Gesten machte.

Die Beobachtungen und Reflexionen, die sie in ihrem Buch ausbreitet, sind lesenswert, obwohl sie sehr persönlich und daher nicht verallgemeinerbar sind. Wir erfahren sehr viel über die zahlreichen Ebenen der psychischen und sozialen Vulnerabilität nach einem extremtraumatischen Erlebnis. Wir nehmen Teil an der Dauer der Bearbeitung und an Rückschlägen. Eine Übersetzung ins Deutsche liegt seit 2004 vor: „Vergewaltigt: Ich und die Zeit danach. Trauma und Erinnerung. C.H. Beck: München.

Sehr persönliche Betrachtungen benutzen ihre eigene individuelle Sprache und führen eine Auseinandersetzung mit den Bedeutungen, die im traumatischen Prozess enthalten sind, und in der nachhallenden US-amerikanischen Gesellschaft. Übersetzungen sind ein schwacher Ersatz.