Seit rund fünf Jahren orientieren sich die Berufsstände der Psychiater und Psychologen und ihre weiblichen Angehörigen am DSM-5, das seit 2013 trotz eines immensen Preises ($ 199-.) sehr oft verkauft wurde.

Es enthält wie seine Vorgänger Symptome und Zeichen. Es enthält keine Krankheitsbezeichnungen mit überzeugender Validität. Aus diesem Grunde wurde, wie Fred C. Alford in seinem Blog berichtet, die Melancholie nicht in die fünfte Ausgabe des DSM aufgenommen. Die Begründung lag in der Feststellung, dass das DSM lediglich Symptomaufstellungen ausbreite und keine Diagnosen stelle, die, wie bei der Melancholie, physiologische Parameter nachzuweisen erlaubte. Alford:“ In other words, it would show the DSM-5 up for what it was: a collection of symptoms that was organized more in accord with the political influence of those who proposed the disorder than with nature“.

Mentale Störungen als wesentliche Bestandteile des DSM wurden somit einem Bereich der (aktuellen und zukünftigen) Überprüfbarkeit in einem wissenschaftlichen Sinne entzogen, weil die Symptome im Wesentlichen subjektiv berichtet werden müssten und in den Fragen nach inneren Prozessen oder in Fragebögen bereits die Richtung der Antworten, oftmals suggestiv und mit beschränkter Auswahl, gebahnt würde. Außerdem werde im Symptomkatalog der PTBS keineswegs nur psychologische Folgephänomene, sondern auch individuell nicht zu verantwortende und soziale Desorientierungen neben nicht objektivierbaren Zeichen aufgeführt. Es ging den Pragmatikern des DSM allein darum, aus einem kommunikativen Kontakt Symptome zusammenzutragen und mit einem Schlüssel zu versehen, nachdem dieser durch messende und statistische Verfahren und Fragebögen als berechtigt bewertet worden sei. Dabei sei klar, dass subjektive Empfindungen durch kein Messverfahren objektiviert werden können. Das Verblüffende ist, dass dadurch Normen von natürlichen Abläufen aufgestellt wurden, obwohl seit Alters her bekannt ist, dass die Natur ohne Regeln und Normen auskommt.

         Man kann also folgern, dass die posttraumatische Belastungsstörung im engeren Sinne keine Diagnose darstellt, sondern ein Bündel an Symptomen repräsentiert, das durch Berichte aus der Subjektivität und invasive Fragen nach der Subjektivität entsteht. Es müssen keineswegs immer dieselben Symptombündel sein, sie müssen auch nicht zur selben Zeit auftreten. Sie bezeugen allein eine subjektiv als störend oder quälend wahrgenommene Veränderung nach einem Ereignis, wobei das Gedächtnis durchaus Streiche spielen kann, wenn es mit Zwecken kontaminiert werde. Weil es eine Evaluation von subjektiv gewichteten Empfindungen und eine an wissenschaftlichen Erfordernissen orientierte Empirie von Subjektivität nicht gibt und nicht geben kann (Evidenz ist hier ein schwaches Argument!), bleibt die posttraumatische Belastungsstörung ein Schwamm, der vieles aufsaugt, den common sense von Ursache und Wirkung nur scheinbar überzeugend aufgreift und im Begriff ist, sich in Beliebigkeit zu verlieren.

Für mich geht es bei der Beurteilung des Psychotraumas um eine bedeutsame Entscheidung zwischen herrschenden Diskursen: Neurowissenschaften plus Biochemie oder Philosophie. Beide sind hinsichtlich traumatischer Erlebnisse Verwandte der Humanwissenschaften. Wegen der oftmals existenziellen Dimensionen von Traumata und der Unerklärbarkeit des Pathomechanismus ist jeder Interessierte heute und nächster Zukunft in einem Zwiespalt: Können die Neurosciences mit Hilfe der Biochemie die finale Erklärung ermöglichen oder müssen wir uns abfinden mit der dauerhaften Reflexion eines Konstrukts aus Beobachtungen, Politik, ökonomischen und Verwertungsinteressen, Spekulation und Glaubensbekenntnis, denen Diagnostiker ihre individuelle Sicht auf Normen hinzufügen. Es gibt keinen Zwang, der einem vorschreibt, sich zu der einen oder anderen Seite zu bekennen. Hier kommt Glauben ins Spiel. Das erleichtert Handeln, denn dauerhafte Zweifler haben Probleme beim Handeln.         Posttraumatische Störungen zeigen auf Abweichungen vom „Normalen“. Sie betonen damit, dass es nach extremen Ereignissen auch normale und damit normative Reaktionsmuster gibt, was man mit Fug und Recht in Zweifel ziehen darf. Georges Canguilhem weist in seinem opus magnum nach, dass die zentralen Kategorien des Normalen und des Pathologischen von Anfang an mit Politik, Technologie und Ökonomie verknüpft waren. Daher ist in diesen Feldern nach Veränderung und Stabilitätschancen zu suchen und nicht allein im Individuum, das die Folgen dieser Einflusssysteme bisher allein zu tragen hat.     Es erweist sich einmal mehr, dass die Wirkungen von Struktursystemen wie Politik, Ökonomie, herrschende Gewalt sich im Individuum ablagern, von wo sie Entscheidungen fordern: der Macht unterwürfig folgen, mitleiden oder im Opferstatus verharren. In den Struktursystemen ist der Widerstand als Handlungsoption gegen schädliche oder fatale Entscheidungen nicht vorgesehen, ja, er wird primär bedroht, für unschicklich und unzivilisiert erklärt, eingesperrt, diffamiert oder gemeuchelt. Dabei existiert die Norm erst durch ihre Missachtung. Der Kampf um die Anerkennung der Befehlsverweigerung beim Militär illustrierte deutlich, dass es sich um eine eng umschriebene Ausnahme handelte, und die Befolgung von Befehlen überall die Regel zu sein habe. Befehlen zu gehorchen ist das „Normale“, sie in Frage zu stellen oder als „whistleblower“ tätig zu werden, ist damit das „Pathologische“. Das duale System funktioniert nicht bei der Mülltrennung, es funktioniert auch nicht bei Gesundheitsstörungen. So vielfältig psychosoziale Gesundheitsstörungen auftreten, so vielfältig sind auch die Einflussfaktoren, die zu solchen Störungen führen können.

Anmerkung:  Man könnte es als Ironie interpretieren, wenn insbesondere soziale Autisten mit Hilfe von Algorithmen die Einflussfaktoren für gesellschaftlich produzierte Gewalt und deren Folgen entschlüsseln, die in der allgemeinen Population psychosoziale Störungen verursachen. Ob wir einem solchen Resultat Glauben schenken würden, steht auf einem anderen Blatt und bleibt uns überlassen, wie wir glauben.