von Sepp Graessner

Auch nach fünf Jahren Praxis mit Menschen, die durch politische Verfolgung beschädigt wurden, wird man in einer latent gefährlichen Krisenregion wie in der Stadt Kirkuk die therapeutischen Ziele als vorläufig und fragil bezeichnen müssen. Sie sind ebenso wenig als richtig, fixierbar oder als unveränderlich anzusehen wie die Realität insgesamt. Die Realität nach extremen Traumata wiederzugewinnen, wird landläufig als das bedeutendste Ziel von Therapie betrachtet, weil ein Wust von widerstreitenden Affekten den Blick getrübt hat. Über die Bewertung der Realität können unterschiedliche Vorstellungen bestehen.. Oftmals hört man, die grausam behandelten Menschen hätten pathologische Krankheitsbilder erzeugt. Dies halten wir für falsch und für ein Ergebnis von Verleugnung, denn die politische Wirklichkeit hat Pathologien hervorgebracht.

Was also ist die Realität, die ein traumatisierter Klient verloren zu haben scheint und über deren Zusammensetzung, Bewegungsrichtung und Schwachstellen der Therapeut wissend verfügt? Wie wird ein individuelles oder kollektives Verhältnis zur Realität, der vergangenen und der gegenwärtigen, gebildet? Was ist dabei lässlich, was unverzichtbar?

Nach unserer Auffassung haben Klient und Therapeut zwei sehr verschiedene Vorstellungen und Betrachtungen von Realität. Sie werden im therapeutischen Prozess gemeinsam explizit und implizit ein Realitätsbild entwerfen, in das die Erfahrungen beider Personen eingehen. Wir gehen davon aus, dass mit jeder neuen biographischen Geschichte von Leiden und Verfolgung, die einem Therapeuten offeriert wird, dessen Realitätswahrnehmung und -beurteilung in Bewegung gerät. Auch der Therapeut muss einräumen, dass seine Sicht auf die Realität keine Konstante ist, auch wenn er sich von einigen Fixpunkten wie Menschenrechte, Geschichte und Gedächtnis getragen weiß. Auch der Therapeut hat Integrationsarbeit zu leisten. Am Ende einer Therapie steht bei ihm ein neues Realitätsbild. Daher hat die  Realitätsneuformulierung durch Klient und Therapeut den Charakter eines Kompromisses, was Klienten, die noch in ihre Wut eingesperrt sind, schlecht akzeptieren können, wenn zum Kompromiss auch noch die Forderung nach Unterwerfung unter das therapeutische Setting hinzutritt.

Dennoch bleibt die gemeinsame, egalitäre Realitätskonstruktion der Königsweg der solidarischen Therapie. Ein solcher Weg ist vor allem deshalb dringlich, weil Folterer den Realitätssinn des Opfers vorsätzlich verfälschen: durch Demütigungen, Schmerzen, willkürliche Verbote, Bedrohungen der sozialen Welt eines Individuums. Hieraus resultieren zahlreiche Selbstbeschuldigungen bei den Opfern. Opfer von Folter geraten nicht selten aus Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit in einen Prozess, in dem sie Zwänge der äußeren (politischen) Realität in einen inneren, sich selbst beschuldigenden Zwang umwandeln. Das nennen wir explizit eine durch Macht und Manipulation verfälschte Realitätswahrnehmung. Dieser Prozess wird potenziert durch eine Reaktion der Gesellschaft (von Freunden, Verwandten, Institutionen), die auf die Frage nach der Schuld sehr häufig auf das Opfer verweist. Diese gesellschaftliche Reaktion möchte liebend gern die Realität der aktuellen Gegenwart in einen Zustand des Wunsches und des Irrealen modifizieren. („Hättest du dich nicht dieser Gruppe angeschlossen,...“) Hier liegt ein erster Schritt der Realitätsverleugnung. In einer unbestimmten Summe können solche Verleugnungen – das ist der Kern unserer Hauptthese - zu einer konstanten Symptombildung führen, weil eine zweifache Verwirrung der Realitätsauffassung des Folteropfers einsetzt. Folterer und Gesellschaft produzieren Beschuldigungen, die in  existenzielle Zweifel und Selbstbeschuldigungen münden können, aus denen zu befreien die wesentliche Aufgabe des Therapeuten ist. Menschenverachtende, willkürliche Macht und Gewalt sind nicht von den Opfern zu verantworten. Die Schuldfrage muss folglich in (ehemals) tyrannischen Systemen dahin getragen werden, wo sie ursächlich angesiedelt ist. Sie muss folglich exkorporiert werden. Das ist das Wesen der Rückschau und der Konstruktion von Realität. An diese gemeinsam konstruierte Realität soll sich der Klient und Verwirrte anpassen, nicht an die Realität des Therapeuten. Vor allem ist eine alleinige Umgestaltung der Realität durch den Therapeuten und seine Methodik zu vermeiden, da es doch um Anpassung geht[1].

Grundsätzlich bestehen kulturell gewachsene Vorbehalte beim Autor und der Bevölkerung gegenüber Psychotherapie, sofern mit Therapie das ausgedehnte Ergründen intimer Sachverhalte und intimer Handlungsweisen gemeint ist. Aus der bislang geäußerten Kritik an den verschiedenen Konzepten von Trauma lässt sich folgern, dass professionelle Therapie bei extremen Traumata immer zu spät erfolgt.  Durch politisch motivierte Verfolgung beschädigte Menschen haben zahlreiche Gespräche, bevor sie eine Therapie aufnehmen. Zu spät, weil ein mitfühlendes Verständnis im sozialen Raum nicht stattgefunden hat oder zum anderen die angebotene Fürsorge nicht adäquat war und damit nicht ausreichte, oftmals, weil sie uneindeutige Botschaften enthielt. Psychotherapie wird zum Instrument der Kommunikation, wenn die Kommunikation zwischen nahe stehenden Personen durch eine immerpräsente Angst begrenzt wird. In Kurdistan wird eine solche Angst subjektiv in Verfolgten und misshandelten Menschen generiert. Sie hat jedoch angesichts der Bedrohungen durch Nachbarstaaten, Anschläge und interne Fehden objektive Ursachen, die nicht oder kaum von Traumatisierten zu beeinflussen sind. Objektive Gründe für Angst, die aus der Realität kommen, sind selbstverständlich auch nicht (oder nur selten) vom Therapeuten zu beeinflussen[2].

Die Beziehung zwischen Klient und einem Therapeuten, der im Falle kurdischer Klienten niemals nur Psychotherapeut, nur Soziotherapeut, sondern auch medizinischer Netzwerker ist, stellt besondere Herausforderungen dar. Wir haben schon aus zahlreichen geführten Interviews und Anamnesen erfahren, dass intime Erlebnisse von Gewalt und die symptomatischen Folgen von politisch motivierter Gewalt oftmals nicht im Familienkreise erörtert werden. Wenn solche Darstellungen im geschützten Raum des Kirkuk-Zentrums zur Sprache kommen, entstehen Übertragungen vom Patienten auf den Therapeuten, die eine Gegengabe einfordern. Zudem wird der Therapeut privilegiert, weil ihm Erlebnisse und Selbstwahrnehmungen anvertraut werden, die selbst im Familienverband oder Freundeskreis verborgen werden. Vielfach kann man im therapeutischen Gespräch eine Haltung des Patienten beobachten, die einer emotionalen Adoption entspricht. Der Therapeut muss sich immer erneut entscheiden, inwieweit er von dieser Vereinnahmung Gebrauch macht und wie er diese Beziehung reflektiert. Wer von seinen Angehörigen für „untragbar“ gehalten wird, soll von der Beziehung zum Therapeuten getragen werden. Dabei stellt sich das Problem einer Metaebene, in der die Erlebnisse der Patienten, die noch nicht zu Erfahrungen wurden, wirksam sind: Abhängigkeit, Ohnmacht, Double-binds, Denk- und Erzähltabus, Wut, Verwirrung und ein tief sitzendes Misstrauen gegen alle Befragungstechniken, die auf den Identitätskern zusteuern, bestimmen die Realitätswahrnehmung auch in der therapeutischen Situation.

In der kurdischen/arabischen Gesellschaft verläuft auch eine kommunikative Beziehung nach dem Muster von Gabe und Gegengabe, die nicht vom Nutzen bestimmt werden, aber auch nicht frei sind von Überlegungen zum adäquaten Gebrauchswert. Wenn Klienten in der menschlichen Beziehung Verständnis, Akzeptanz, Sympathie, Förderung der emotionalen Erlebnis- und Ausdrucksfähigkeit sowie Vermeidung von Machtallüren und soziale Gleichheit erfahren, stellt sich ihnen die Frage, wie sie sich darauf beziehen sollen. Da keine Kosten der Betreuung für die Patienten entstehen, ist vielen Patienten nicht erkennbar, wie sie sich revanchieren können, um einen Beziehung stiftenden Kreislauf in Gang zu halten. Das erzeugt Unsicherheit. Linderung von Leiden, Entlastung und Erleichterung sind indes Prozesse, an denen beide Partner Anteil haben. Sie müssen daher in Kurdistan erst einmal als gemeinsame Aktion etabliert und verständlich gemacht werden. Der Kommunikationsprozess trägt durch seine Orientierung auf Beziehung bereits die Zeichen eines Tausches.

 

 

Wenn wir sagen, extremes Trauma führe in ein isoliertes, subjektives Erleben, müssen wir uns fragen, ob diese absolute oder weit gehende Subjektivität des Erlebens, Wahrnehmens und der Integrationsbemühungen als Ergebnis eines extremen Traumas ( „ Was ich erlebt habe, kann ich nicht in Worten ausdrücken. Es ist nicht zu verstehen. Das schmerzliche Ereignis trennt mich von allen Menschen.“) nicht dadurch begründet wird, dass sich die Erwartungen an Gemeinschaft, Solidarität, Kollektivität als Illusion erwiesen haben und posttraumatisch keinen leitenden Wert mehr darstellen, den sie sehr wohl in den meisten Fällen in und nach der Kindheit hatten. Im Allgemeinen finden wir bei solchen Klienten eine Tendenz zum sozialen Rückzug, zur Vermeidung von Gruppenteilnahmen, zur sehr raschen Erschöpfung und zum Verstummen. Es ist schwer festzustellen, ob dies eine Folge von Scham, sich selbst verloren zu haben, oder von zerbrochenen Rollenmustern ist. Es hängt wohl sehr davon ab, wie wir Scham verstehen. Wenn Scham als Anerkennung des Folterers und der eigenen Unterwerfung und als Verhinderung einer Wutreaktion verstanden wird, könnte diese Reaktionsweise den posttraumatischen, sozialen Rückzug erklären. Dies würde jedoch nicht die verletzten Erwartungen an Gemeinschaft und Solidarität erklären. Illusionäre Erwartungen an Kollektivität und Hilfeleistung rühren eher daher, dass in der als absolute Ohnmacht erlebten Misshandlung ein Einschreiten einer bergenden Gemeinschaft ausblieb. Die Achtung der Würde eines Opfers von Folter wird nicht nur vom Folterer verletzt sondern auch von der tatenlosen oder handlungsarmen Gemeinschaft.

Wenn die Entwicklung eines Subjekts eng mit der Akzeptanz einer moralischen Haltung verknüpft ist, stellt die direkte Begegnung mit amoralischem, schmerzlichem Handeln die Grundlage für eine komplette Infragestellung der moralischen Grundlagen des Selbst und damit des Selbst dar. Die Bedeutung eines inkorporierten Habitus, d.h. des verinnerlichten Sozialen, wird gleichfalls in Frage gestellt und verweist damit auf somatische Ausformungen posttraumatischer Verunsicherungen.

Therapeutisch kann es aus dieser Betrachtung bedeutsam sein, die Zugehörigkeit einer traumatisierten Person zu einer Gemeinschaft wieder herstellen. Wir sind der Auffassung, dass mit dem posttraumatischen Subjektivismus soziale Orientierungen, soziale Wünsche und soziale Bindungen ihre Halt gewährende Funktion einbüßen (können). Folglich geht es um die Restitution dieser verdrängten Stabilisierungsfaktoren. Dabei ist die Beziehung zum Therapeuten nicht ausreichend für eine Stellvertretung der sozialen Erfahrung. Der Therapeut hat vielmehr koordinierend ein Netzwerk zu spinnen, in dem Familienmitglieder, Nachbarn, Gruppen das verloren gegangene Soziale aktiv repräsentieren und in einem behutsamen Prozess zu einer Erfahrung werden lassen. Dies halten wir für ein angemessenes Anti-Ritual zu den isolierenden Effekten von Folter und politischer Repression. Eine individualtherapeutische Herangehensweise, die allein im betroffenen Individuum die Störungen aufsucht, beschreibt und behandelt, kann die isolationistischen Tendenzen, die posttraumatisch auftreten, nicht ausreichend aufgreifen und besänftigen.

 

Im Kirkuk Zentrum bemüht man sich,  das Modell von „Care“ und „Cure“ anzuwenden. Angesichts großer Zahlen von betroffenen Menschen mit extremen traumatischen Erfahrungen und eines unzureichenden Angebots staatlicher Instanzen nimmt der Bereich „Care“ einen größeren Raum ein als „Cure“. Wir gehen ja davon aus, dass das Ziel von Behandlung und Zuwendung nicht im „Vergessen“ der traumatischen Situation liegen kann, folglich auch keine Heilung von belastenden Erinnerungen und begleitenden Symptombildungen erfolgt. Wir haben wiederholt erlebt, dass nach zum Teil sehr langer Latenz trotz aktiver therapeutischer Unterstützung traumatische Erinnerungen sich erneut einstellen, die über Jahre keine Desorientierung im sozialen Leben verursachten. In diesen Fällen wird stets ein modifiziertes „Care“ anzustreben sein. Es umfasst die Bereitschaft zum Zuhören, ein Knüpfen von stützenden Netzwerken und lebenspraktische Empfehlungen, die ihre Quelle in traditionellen Ressourcen haben. Solche Ressourcen borgen sich die Autorität der Tradition.

 

Es ist einleuchtend, dass eine Heilung von Erinnerungen, bewussten und unbewussten, unerreichbar ist, dass eine Linderung des quälenden Charakters von Erinnerungen aber sehr wohl erreicht werden kann. Die Forderung nach Heilung führt in den Bereich der Gehirnwäsche, weil Erinnerung und Gedächtnis nicht in den Kategorien von pathologisch oder pathogen gefasst werden sollten. Die entscheidende Frage ist hier, ob die Reduzierung quälender Erinnerungen im Verlauf der Zeit, d.h. durch die Vielzahl neu hinzutretender Sinneseindrücke, oder durch die Arbeit von systematisch operierenden Therapeuten eintritt. Da Therapeuten als Chronisten einer Veränderung der Erinnerungswirkungen fungieren, bestätigen ihre Wahrnehmungen leicht die selbst gesetzten Vorgaben. Das gemeinsame Gespräch, Anteilnahme, Bindung tragen jedoch am meisten zu einer sozial abgesicherten Stabilisierung von traumatisierten Menschen bei, wie aus allen Gesprächen und Interviews belegbar ist.  Sie sollen in ihrer Bedeutung zur Konsolidierung von Erinnerung in einer mündlich operierenden Alltagskultur nicht unterschätzt werden.

 

Unter Berücksichtigung des Vorschlags für eine alternative Betrachtung posttraumatischer Beschwerden (siehe Artikel zur „Entfremdung“) soll für die kurdisch dominierte Gesellschaft in Irak ein bescheidener und selbstverständlich vorläufiger Katalog von Therapiezielen formuliert werden, der sowohl die begrenzten Kapazitäten im therapeutischen Bereich, das Ausmaß an Verletzungen und die Sinn gebenden Strukturen kurdischer Kultur berücksichtigt. Das Ziel von therapeutischen Interventionen liegt sowohl in individuellen als auch in kollektiven Verbesserungen des Befindens. Die eher kollektiven Auswirkungen wurden bereits erläutert und setzen einen Konsens voraus, der aus politischem Handeln der Therapeuten hervorgeht. Die entsprechenden Maßnahmen orientieren sich auf zwei Ebenen:

 

Maßnahmen und Ziele zum Nutzen der einzelnen Klienten:

 

  1. Beseitigung oder Linderung  somatischer Begleiterkrankungen.

Ein solcher Ansatz repräsentiert die primäre Gegengabe nach der symbolischen Gabe des Vertrauens. Somatische Begleiterkrankungen können als Ausformung psychischer Überforderung und Erschöpfung aufgefasst werden oder unabhängig von traumatischen Erlebnissen aufgetreten sein. Sie können stigmatisierend sein oder als Quelle konstanter Störungen des Alltagslebens bestehen. Da Körper und Seele als eine Einheit betrachtet werden, ist eine Differenzierung in psychische, somatische oder psychosomatische Störungen in Kurdistan eher artifiziell.

 

  1. Ermöglichung und Akzeptanz spiritueller Äußerungen.

Das bedeutet, ein Bedürfnis nach Spiritualität ernst zu nehmen und im Zweifel sogar zu ermutigen. Der Glaube ist eine soziale Kraft. Er verweist auf den Ursprung einer Ordnung des Soziallebens durch Religion. Sie manifestiert sich in der Realität als bedeutsame Ressource des Überlebens und anerkennt die Grenzen von Vernunft und weiß zugleich um die Schrecken der „Vernunft.“ Als Ziel einer psychotherapeutischen Behandlung geht es im Orient nicht um Konfliktlösungen sondern um Veränderungen innerer Bewertungen[3]. Eigentlich versteht man darunter weniger ein Therapieziel, eher eine Methodik.

 

Maßnahmen und Ziele zum Nutzen der Gemeinschaft.

 

  1. Zugehörigkeit wieder herstellen.

 

 Das heißt, die Entfremdungsempfindungen lindern und die mit diesen Empfindungen einhergehende subjektive (oft auch objektive) Exklusionserfahrung zurückdrängen. Zugehörigkeit als elementares Recht richtet sich in erster Linie auf die (erweiterte) Familie, sodann auf die Zugehörigkeit zur kurdischen Kultur, die durch gemeinsame Sprache und Erziehungs- und Organisationsprinzipien prägend wirkt. Eine nationale Zugehörigkeit ist dadurch nicht angestrebt. Eine nationale Identität enthält bereits institutionell beabsichtigte  Abgrenzungen. Keineswegs ist von uns „der selbstmörderische Sirenengesang der Zugehörigkeit: Glauben, Blut, Erde“[4] gemeint, sondern eine soziale Verbundenheit, die andere Menschen in ihrer Verletzbarkeit anerkennt.

Zugehörigkeit in unserem Sinne meint zuerst einmal Gleichheit der menschlichen Attribute. Solche Art der Zugehörigkeit anerkennt  die gesellschaftliche Textur menschlichen Lebens, die in Gewaltakten angegriffen bzw. zerstört wurde. Patienten bringen zum Ausdruck, dass sie sich „irgendwie“ nicht zugehörig fühlten, nachdem sie von Willkür betroffen waren. Der innerhalb von Individuen sich vollziehende Bruch findet sich auch in einer Trennung des Einzelnen von der umgebenden Gesellschaft wieder. Negation von Zugehörigkeit ist ein aktiver Schritt der einrahmenden Gesellschaft, der durch Schuld, Scham und Ignoranz, Angst und Verleugnung in Gang gesetzt wird. Die Gesellschaft soll vielmehr sagen: „Wir sind vor dir zurückgewichen. Das war falsch. Jetzt wollen wir dich wieder bedingungslos aufnehmen.“ Damit tritt eine Anerkennung der Leiden und der gemeinschaftlichen Verantwortung für grausame Handlungsfolgen ein. Wenn ein Überlebender keine Verantwortlichkeit der Gesellschaft wahrnimmt, bleibt ihm Zugehörigkeit verwehrt. In einem wichtigen Schritt wird daher die Einbeziehung der Familie in den therapeutischen Prozess angestrebt.

 

  1. Gesellschaftliche Verantwortung gemeinsam einfordern. Hierfür sind vier Ebenen maßgeblich:

 

  1. Verbindliche rechtliche Absicherung der gesellschaftlichen Beziehungen, Öffnung des traditionellen Rechtskanons für emanzipatorische Entwicklungen, Neustrukturierung des öffentlichen Raums, ökonomische und soziale Gerechtigkeit, Reparation, Rückkehrchancen für Vertriebene und Zwangsumgesiedelte usw.
  2. Bekenntnis zur partiellen  Kollaboration mit dem Terrorregime, Eingeständnis von Rivalitäten im Bürgerkrieg. Nachbarschaftshilfe organisieren, nahe Angehörige in Versöhnungsschritte einbeziehen. Egoistische Bündnispolitik der Eliten kenntlich machen.
  3. Entdeckung von Massengräbern, Identifikation der Ermordeten, öffentliche Trauerzeremonien.
  4. Entwicklung von Kriterien für kollektive Versöhnung als sukzessiver Prozess, mediale Präsenz

 

  1. Orientierung auf kollektives Ziel. Testimonio und sekundäre Zeugenschaft. In erster Linie die  gemeinsame Organisation individueller und familiärer Geschichten zu  kurdischer Geschichte. Verhinderung einer Konstruktion von Geschichte allein durch die herrschenden Eliten. Gedenktage und Gedenkorte vorbereiten. Allmähliche Aneignung des öffentlichen Raumes und Rückgängigmachung und Modifikation der enteigneten Geschichte, die zuvor nur im Exil erforscht wurde.
  2. Bis auf wenige Fälle, die präzise analysiert werden müssen: Bestreiten einer psychiatrischen Relevanz des Traumadiskurses. Diese mag subjektiv geäußert und befürchtet werden („Ich glaube, ich bin (werde) verrückt“). Es ist dieser Furcht, die als reale Bedrohung empfunden wird (Absonderung),  insofern entgegenzutreten, als sie nahezu alle Kurden und in zunehmenden Maße auch Araber unter der Fortdauer von tödlichen Anschlägen betrifft. Definition von „normal“. Derek Summerfield (S. 18) : Das Wesen menschlicher Erfahrung von Krieg und Grausamkeiten kann nicht durch negative psychologische Effekte erfasst werden. Eine psychiatrische Relevanz kann als vorübergehender Effekt von schrecklichen Erlebnissen auftreten.
  3. Die Erfahrung von tragendem Vertrauen und dadurch die partielle, interpersonelle Verdrängung von Misstrauen.
  4. Kulturelle Einbettung. Wertedebatte (je nach Bildung und Abstraktionsvermögen differenziert) zu einem absichernden und Neuorientierung ermöglichenden Ende führen. „Du hast einen besonderen Wert, der in deiner Erfahrung liegt. Die Gesellschaft braucht dich für einen Neuanfang.“ Selbstverständnis gemeinsam formulieren, da auch Therapeuten von kollektiver Traumatisierung betroffen sind. Nach einer Bestandsaufnahme der kulturellen Verluste Entwicklung von positiven und reanimierbaren Werten. Beobachtung und Kommentierung der aktuellen politischen Entwicklungen und Adressierung von Forderungen.
  5. Anerkennung von Traumata von Männern und Frauen in gleicher Bedeutung. Allmähliche, aber radikale Beseitigung der Hierarchie von traumatischem Erleben. Dadurch Ermöglichung von emanzipatorischen Schritten zugunsten von Frauen. Einrichtung von Spezialeinrichtungen für traumatisierte Frauen inmitten der kurdischen Gesellschaft. Wir gehen davon aus, dass psychosoziale Traumata historisch von Männern beschrieben wurden, die Verletzungen der Frauen ausklammerten. Insofern ist der Traumadiskurs, wenn er sich als Diskurs durchsetzen soll, um die Erfahrungen von Frauen zu erweitern. Damit wird die Dimension von psychosozialen Verfolgungsleiden von Frauen und Mädchen aus der Privatsphäre in eine Öffentlichkeit gebracht. Dazu Ermutigung von Frauen, die ihre Sicht der erlittenen Gewalterfahrungen selbst vertreten müssten.

10)Balance zwischen historisch-politischen Schmerzen und Opferstatus.

Keineswegs geht es um die Verfestigung eines Opferstatus, um den sich in      Kurdistan ein resignativer Kult gebildet hat. Vielmehr ist auf das widerständige  Potenzial zu verweisen.

 

Aus dieser Zusammenschau wird deutlich, dass Autor ein deutliches Übergewicht bei den Zielen, die auf Gemeinschaft gerichtet sind, sieht. Die individualtherapeutischen Interventionen sind auf Ressourcen fokussiert, die einer kollektiv orientierten Sozialisation entspringen.

Die Betrachtung der uns bedeutsam erscheinenden Grundsätze von Therapiezielen zeigt Haltungen des therapeutischen Personals an, die sich als wirksam erweisen können und durchaus nicht in der kurdischen Gesellschaft versammelt sind bzw. verloren gegangen sind. Sie müssen vielfach erst in der praktischen Arbeit (wieder) erworben werden. Solche Haltungen nehmen zentrale Werte (Identitätsfindung) des kurdischen Widerstands gegen die Diktatur auf. Sie borgen sich gleichsam deren Bewertung für die kollektive Überwindung extremer Traumata.

Allerdings wird man einräumen müssen, dass die oben genannten Therapieziele im Allgemeinen für eine Phase nach Beendigung von Diktatur und Verfolgung gelten, für eine Periode relativer Sicherheit, wie sie jetzt in einigen Teilen Südkurdistans besteht. Sicherheit besteht nicht in Kirkuk und anderen Ortschaften, die von Kurden bewohnt werden.

Wenn wir Hans Keilsons Modell der traumatischen Sequenzen[5] , erweitert um Differenzierungen durch David Becker[6], zugrunde legen, stellen wir fest, dass die skizzenhafte Phase 5 in Kirkuk und den südlichen Ausläufern kurdischer/arabischer Siedlungsgebiete in diesem Modell nicht als abgeschlossen gelten kann, solange weiterhin Bürgerkrieg oder politisch motivierte, willkürliche Anschläge drohen. Ferner gibt es in der „Krisenregion Kurdistan“ keine Periode, die als „nach der Verfolgung“ bezeichnet werden könnte. Das bedeutet, Individuen und Gesellschaft befinden sich im vierten oder fünften Stadium. Genau lässt sich dies mit Blick auf Nordkurdistan nicht definieren. Im relativ autonomen Kurdistan/Irak dürften wir uns im Stadium fünf befinden, in Kirkuk jedoch nicht.

Im Folgenden zeigen wir nochmals die Sequenzen, die in ihrer Zusammenschau für Kurden den Tatbestand kollektiver Traumatisierung ausmachen:

 

 

 

Prozessschema für Prä- und Posttrauma

 

  1. Lebensstrukturen vor Beginn des traumatischen Prozesses. Nahezu alle vorhandenen Abhandlungen beginnen in ihren textlichen und graphischen Darstellungen mit dem traumatischen Ereignis, als gäbe es ein Leben vor dem Trauma mit den vielfältigsten Variablen nicht. Die sozial und kommunikativ gebildeten Lebensstrukturen sind insofern von Bedeutung, als sie in der individuellen Entwicklung frühen Kontakt mit Traumata eingehen und zu individuell sehr unterschiedlichen Abwehrmechanismen führen. Aktuelle Traumata haben in ihrer Vorgeschichte als Referenzereignisse kleinere Traumata als Demütigungen, Strafen und Kränkungen. Auch Rohrstockpädagogik („Das Fleisch für Dich, die Knochen für mich.“) zählt zu frühen Traumata.
  2. Beginn der Verfolgung: Oftmals unscharfe Phase, in der Feindbilder bestimmend sind, Diskriminierungen stattfinden, Einschränkungen der Muttersprache, des Erwerbs von Eigentum, Beschränkung des Zugangs zu wichtigen Ressourcen, oftmals gesetzlich festgeschrieben und durchgesetzt: Der Wert bestimmter Menschen wird reduziert. Das Recht wird einäugig angewandt. Drohungen in programmatischen Äußerungen. Definition eines Gruppencharakters.
  3. Akute Verfolgung – der direkte Terror. Das kann durch Razzien, willkürliche Verhaftungen, Folter, Zwangsumsiedelung, Verschleppung, Verschwinden lassen, Unbrauchbarmachung von Ressourcen usw. geschehen.
  4. Akute Verfolgung – Chronifikation. In dieser Phase führt fortgesetzte Verfolgung zu unterschiedlichen Reaktionen. Angst wird chronisch, Resignation bewirkt Handlungsarmut und bildet die Vorstufe zu Depressionen, Wut zieht (selbst) zerstörerisches Verhalten nach sich, Erregung klingt nicht mehr ab und erschwert kreative Tätigkeiten, Kultur tritt auf der Stelle.
  5. Zeit des Übergangs. Hierunter wird das Ende von Diktaturen, Intervention von Ordnungsmächten, Revolution von unten verstanden. Verfolgende Instanzen (Geheimdienste, Militär, Einheitspartei usw.) verlieren ihren institutionellen Charakter. Verfolgte erleben ein befreites Gefühl, das jedoch noch nicht mit Zuverlässigkeit gleichzusetzen ist. Misstrauen dauert an. Quälende Erinnerungen noch häufig auftretend. Einsetzen eines Trauerprozesses mit öffentlichem Charakter. „Heldenproduktion“ und Mythenproduktion. Erste rechtliche Bearbeitung der Willkürkomplexe.
  6. Nach der Verfolgung. Es kommt zu einer affektiven Konsolidierung (Containment). Die Systeme sozialer Geborgenheit treten in Kraft: Familie, Stamm, Partei, Nachbarschaft. Symptome einer Spontanverarbeitung und chronisch reaktive Beschwerdebilder. Die kollektiven Reaktionen beeinflussen nachhaltig die individuellen Verarbeitungsmöglichkeiten. Sie geben einen Rahmen vor, in dem Sinngebungen und Integration sich abspielen. Scham und Schuld der Gesellschaft treten mit individueller Schuld und Scham in Wechselwirkung. Isolation der Gewaltopfer. Sicherheit bleibt fragil.

 

Wenn man also davon ausgeht, dass angesichts einer fortwährenden Bedrohungslage eine sozialtherapeutische Bearbeitung der kollektiven traumatischen Erlebnisse  nur in reduzierter Form vorgenommen werden kann, dann muss auch auf die Einschränkungen der Ziele eines therapeutischen Prozesses sowie der Methoden hingewiesen werden.

 

  1. Eine Angst reduzierende Behandlung, individuell oder in Gruppen, kann unter konstanter Bedrohung durch Morde, Entführungen und Racheakte sowie unter fortgesetzten Kränkungen (u.a. durch nicht gehaltene politische Versprechen) bzw. subjektiv wahrgenommenen Demütigungen nicht nachhaltig und stabil sein.
  2. Bei zuvor Traumatisierten ist die gesellschaftliche Anerkennung ihrer seelischen und körperlichen Beschädigung die wesentliche Grundlage einer sozialen Zugehörigkeit. Sie wird von politischen Instanzen derzeit gefördert.
  3. Da Schutz und Sicherheit in Krisenzeiten und Krisenregionen nicht geboten werden können, stellen Solidarität, Empathie, Geduld und Wohlwollen jene Muster zur Verfügung, für die Professionalität nicht zwingend ist. Relativer Schutz und begrenzte Sicherheit resultieren aus den Bindungen innerhalb der Großfamilie, in viel geringerem Maße durch Bindungen innerhalb von Parteien.
  4. Unter dauerhafter Bedrohung und Konfrontation mit dem Tode nutzen sich die Fähigkeiten zur Solidarität, Geduld und Empathie ab oder entwickeln sich zu fixierten traumatischem Verhaltensweisen.
  5. Jeder kommunikativen Behandlung von traumatisierten Menschen muss eine Selbstbefragung eigener traumatischer Erlebnisse durch den Therapeuten oder Unterstützer vorausgehen, d.h. eine Analyse der eigenen Kräfte, Ressourcen und Mechanismen erfolgen.
  6. Unter permanenter Bedrohung durch Terror oder Tyrannei büßen Institutionen ihre regulierende Kraft gegenüber spontaner, willkürlicher Gewalt ein. Das Recht wird zum Lotteriespiel, die interne Trennlinie zwischen Tätern und Opfern verwischt. Politische Theologie erhebt Führungsansprüche.
  7. Die Seelenverletzung (oder Seelenmord) ganzer Bevölkerungskreise lässt bei vielen Menschen das physische Überleben als letzte Waffe erscheinen. Bei einer Minderheit wird der Körper zu einer diffusen Ressource des Widerstands gegen eine Gewalt, die als zukünftig antizipiert wird. Wenn das individuelle oder kollektive Überleben ideologisch oder religiös aufgeladen wird, erhält es den Charakter eines Auftrages im Dienste einer höheren Macht und entzieht sich daher einer therapeutischen Beeinflussung..
  8. Rache und Wut als primäre reaktive Affekte nach Gewalterlebnissen können durch therapeutische Interventionen nur dann eingedämmt werden, wenn ein kultureller und gesellschaftlicher Rahmen für eine Unterbrechung des Gewaltkreislaufs existiert. Ohne diesen kulturellen Rahmen ergibt sich kein Sinn für Selbstbeherrschung, gezähmte Gewaltphantasien, sowie Verzicht auf unangemessene Gewalt. Für die Entwicklung eines Rahmens ist die jeweils aktuelle Gesellschaft verantwortlich.
  9. Therapeutische Interventionen (T.I.) im Stadium 5) sollten diese primären Affekte nach Gewalterlebnissen ernst nehmen. Solche Affekte treten auch auf bei anderen Erfahrungen von Ungerechtigkeit und addieren sich: Ungerechtigkeitsempfinden bei missbräuchlicher Benutzung von Eigentum, Macht, Geschichte, bei verhinderten Zugang zu Lebensmitteln, Wasser, Bildung, Energie usw. Sie werden als gegen die menschliche Würde gerichtet aufgefasst, bedrohen objektiv existenziell und fordern unmittelbar dieselben Affekte wie bei physischer Gewalt heraus, wenn es einen Adressaten gibt. T.I. haben es in Kurdistan mit einer kumulativen Vielzahl von primären Affekten zu tun, wovon die Affekte nach Gewalt nur einen Teil darstellen.

10) Affekte betreffen immer Kollektive, gleichgültig, ob es sich um physische oder psychosoziale Gewalt gegen Einzelmitglieder oder existenzielle Beschränkungen von Ressourcenzugang für umschriebene Gruppen handelt. Erst aus der Wechselwirkung von Kollektiv und Individuum lassen sich sinnvolle Konzepte für T.I. ableiten. Das traumatisierte Individuum westlicher Prägung hat in dieser Region keinen Bestand.

11) Kollektive Trauerrituale sind formale, rahmende Formen der Anerkennung von Verlusten und Verletzungen. Sie können individuelle Abschiede und Trauer erleichtern, jedoch nicht ersetzen. Sie stiften Zugehörigkeit und können Zugehörigkeit durch charismatische Akteure usurpieren.

12) In westlichen Expertenkreisen favorisiert man für verlängerte Verfolgung (Andauern des Stadiums 4 im Übergang zu Stadium 5) die Intervention durch psycho-edukative Maßnahmen. Sie richten sich an die kognitiven Fähigkeiten traumatisierter Personen und sollen das Ausmaß von Erregung und Unerklärlichkeit, d.h. Angst, lindern, indem sie kognitive Zugänge zum kollektiven Trauma ebnen.

13) Ich halte eine Stützung im psychosozialen Sinne im Stadium 5 für die angemessene Methode. Sie braucht neben Experten die nachbarschaftliche Solidarität und Empathie, d.h. sie sollte aus der Gesellschaft entspringen und den Alltag erleichtern. Tiefere, aufdeckende Methoden einer Psychotherapie oder Diagnostik nach Katalog halte ich für unpassend. Allerdings wird man differentialdiagnostisch gravierende psychotische Episoden herausfiltern müssen, um chronische Entwicklungen zu vermeiden.

14) Sinnfragen nach einem Warum wird man eher an die Gesellschaft richten, als sie im Gespräch zu lösen suchen.

 

Es erscheint trotz anhaltender Bedrohung wichtig, eine gute Dokumentation im Sinne eines Archivs aufzustellen, weil aus einem dokumentierten Gedächtnis das Bild der Geschichte entstehen kann. Die mündliche Erzählung übernimmt dazu einen herausragenden Platz.

 

Individuell orientierte Therapieziele, wie sie in zahlreichen Psychotherapien methodisch ausgewiesen sind, haben in Kurdistan eine geringere Bedeutung als im Westen. Sie lassen sich an einem Vergleich verdeutlichen: Während in den westlichen Konzepten ein „Erkenne dich selbst!“ als Imperativ bestimmend ist, liegt der Hauptakzent im Kurdischen auf „Erkenne Deine soziale Bestimmtheit!“.

Hiermit ist die dauerhafte Anerkennung eines Angewiesenseins auf Andere angesprochen. Wenn wir resümierend feststellen, dass unter der Wirkung extremer Traumata vor allem die prägenden sozialen Werte und Bedeutungszuordnungen Schaden nehmen, die resultierende Hilflosigkeit des Individuums vor allem das Ergebnis von für „untauglich“ gehaltenen sozialen Prägungen ist, dann erscheint Rehabilitation vorrangig als die Neuformulierung sozialer Qualitäten. Formulieren reicht aber nicht, soziale Qualitäten müssen konkret erfahren und dann gelernt (inkorporiert) werden.

 

Therapeutische Interventionen bei kollektiven Traumata nehmen zwar ihren Ausgangspunkt in der Erfahrung willkürlicher Gewalt. Sie werden im Therapeutisch-pädagogischen Prozess als unterschiedlich wahrgenommen. In der Formulierung von stabilisierenden Zielen sind die unterschiedlichen Gewalterfahrungen eher nicht von Bedeutung. Dies liegt wesentlich an der Tatsache begründet, dass kollektive Traumata ganze Kollektive betreffen, unabhängig von den individuellen Erfahrungen. „Das, was mein Bruder oder meine Schwester erfahren hat, habe auch ich erfahren oder werde es (nach einer Latenz) erfahren.“

 

Ein wichtiges, scheinbares Paradoxon ist zu behandeln, im Wesentlichen zum eigenen Verständnis des Therapeuten: Wie kommt es, dass Kurden, die durch ihre Erziehung und Sozialisation zur Anerkennung von Autorität und zur Inkorporation von Attitüden gegenüber der Macht gelangen, diese Anerkennung den fremden Herrschern und Autoritäten aber versagen und daher immer wieder seit Jahrhunderten in Aufständen sich auflehnen?

 Es muss folglich eine genaue Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden vorhanden sein. Die Präferenz für das Eigene, das Nahe und vertraute Prägende als bestimmende Faktoren ist bereits in der Sozialisation angelegt und verweisen damit auf einen Gehorsam gegenüber der Familien- und Stammeshierarchie, der Gehorsam gegenüber fremder und kolonialer Macht ausschließt. Unter den Beschreibungen der westlichen Literatur (nicht nur Karl May, sondern durch alle, die als Informationsquellen sich auf die Bewertungen der Hohen Pforte oder britischer Offiziere stützten, die jeweils als Kolonialmacht auftraten) wurde aus diesem kurdischen Hang zur autonomen Selbstbestimmung, der auch im therapeutisch geleiteten Prozess eine herausragende Rolle spielt, „das wilde Kurdistan“, „das kriegerische und räuberische Volk“. Dadurch wird Politik, die ein kollektives Selbstbild entwirft und mit ihm operiert, verfälschend erschwert und eine Entwertung eingeleitet. Auch therapeutische Interventionen, wenn man sie denn so nennen will, haben die Außensicht der Kurden zum Gegenstand zu machen, wenn diese Betrachtung eine Innensicht beeinflusst.

 

Man muss mit Edward Saids maximalistischen literaturwissenschaftlichen Bewertungen nicht einverstanden sein, wenn er sagt, der Orient und das Bild, das man sich im Westen von ihm macht, sei ein Produkt rein westlicher Betrachtung, Beschreibung und westlicher Interessen[7]. Es lässt sich jedoch nicht bestreiten, dass auch die Konstruktion des „kurdischen Wesens“ eine Hervorbringung imperialer Mächte war und ist, indem Einzelbeobachtungen zu einem „Volkscharakter“ verallgemeinert wurden und als schriftliche Zeugnisse weiterwirken. Es kostet zweifellos immer viel Energie, gegenüber diesen Zuschreibungen Gelassenheit zu zeigen und trotz der osmotischen Wirkung solcher kolonialer Zuschreibungen eine Kernidentität zu bewahren. Übersehen wird bei solchen verkürzenden Verallgemeinerungen die innere Differenzierung von Verhaltensmustern, die in Kurdistan genauso groß ist wie in westlichen Gesellschaften, wo sie nicht etwa Homogenität hervorbringen, sondern eine Bandbreite von Verhalten. Der Golf spielende Dandy aus Zehlendorf und der Automaten fütternde Glücksspieler aus Kreuzberg leben in einer Stadt. Übersehen wird ferner, dass Urteile, die durch Macht gestützt sind, anders ausfallen als solche, die von Machtarmut geprägt sind.

Wertungen, die sich zu Vorurteilen auswachsen, werden nicht nur von außen oder durch Kolonialmächte verordnet. Sie entstehen auch aus der zugelassenen Binnendifferenzierung einer Gesellschaft. Unserer Ansicht nach ist dieser Aspekt von Said vernachlässigt worden.

 

 

 



[1] Um diese Auffassung und Differenzierung geht es Philip Rieff (1966) Triumph of the Therapeutic. New York: Harper & Row, S. 55ff. Rieff behandelt das Modell der Freudschen Psychoanalyse.

[2] So hat die Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen in Deutschland immer das Korsett zu berücksichtigen, das ihr durch Gesetze, Gerichtsurteile und Behörden angelegt wird. Therapie in einem weiten emanzipatorischen Sinne führt daher immer an oftmals enge Grenzen, die durch Institutionen gesetzt sind. Diese Institutionen haben eine penetrierende Tradition und sind nicht vom traumatisierten Flüchtling gewollt oder zu verantworten. Sie sind aber einer Psychotherapie nicht äußerlich, insofern sie als Grenzen wirken und von den Partnern des therapeutischen Prozesses verinnerlicht werden.

[3] Azhar, M.Z. (1997). Einbeziehung der islamischen Religion in die kognitive Verhaltenstherapie in Malaysia. Verhaltenstherapie (7), 34-39.

[4] Paolo Flores d’Arcais (2009) Die Linke und das Individuum. Berlin Wagenbach, S. 92.

[5] Hans Keilson (1979) Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Stuttgart: Enke

[6] Becker  David Becker (2006) Die Erfindung des Traumas – Verflochtene Geschichten. Berlin: edition Freitag

[7] Vergl. Edward W. Said(1979) Orientalism. New York, Vintage Books und E.W. Said (1994) Culture and Imperialism. London Vintage.