Sepp Graessner (2002)

Nach Stoffels’ Artikel über „False Memory“ und die darin enthaltene Sehnsucht nach einem Opferstatus, der eine gesellschaftliche Anerkennung und Zuwendung erfährt, erscheint es notwendig, mit Blick auf traumatisierte Flüchtlinge grundsätzlich über dieses Problem nachzudenken. Schon im Beitrag über den „sicheren Ort“ habe ich mich auf Freud bezogen, der in seinem Aufsatz „Hemmung, Symptom, Angst“ aus den Jahren 1925-1931 über den sekundären Krankheitsgewinn  der Neurose geschrieben hat. Auffällig erscheint hier die Ignoranz gegenüber den Fragestellungen, die Stoffels angeregt hatte.

Stoffels’ wichtigster Zeuge für seine These ist der Schweizer Wilkomirski, der sich eine jüdische und verfolgte Biographie erfand. Wilkomirski war, wie sich Jahre später und nach zahlreichen Ehrungen herausstellte, ein uneheliches Kind, das von seiner Mutter in ein Heim gegeben wurde. Im Rahmen einer Psychotherapie ist Wilkomirski möglicherweise Suggestionen erlegen, die ihn motivierten, eine Biographie mit Opferrolle zu konstruieren. Er mag am Ende seine erfundene Geschichte selbst geglaubt haben. Die Rolle, die er einnahm, brachte ihm gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Bedeutung.

Übertragen auf Asyl suchende Flüchtlinge bedeutet dies den Verdacht, einige von ihnen könnten ihre Folterbiographie erfunden haben, weil sie Suggestionszwängen erlagen, die in einer Institution zur Therapie von Folteropfern zwangsläufig auf das Bekenntnis einer Folteropfererfahrung hinausliefen. Es ist hier zu fragen, ob Wilkomirski mit den Spezifika von Flüchtlingen mit oder ohne Foltererfahrung in einen Topf zu werfen ist und ob der psychische Mechanismus, der bei Wilkomirski zu einer erfundenen Biographie führte, auch bei Asyl suchenden Patienten/Klienten angenommen werden kann.

Folgende Feststellungen sind zu berücksichtigen, wenn man den Verdächtigungen nachgeht, die therapeutische Situation könnte möglicherweise erst die Biographie produzieren, die eine erhöhte Aufmerksamkeit und Schutzhaltung herausfordert. Diese Feststellungen stammen aus individuellen Beobachtungen, gesellschaftlichen und moralischen Tendenzen und Zwangsläufigkeiten, die durch den Einfluss der Gesetzgebung bedingt sind:

1)   Einige Klienten (unter den Kurden) beklagen sich, wir unterstützten Personen, die gar nicht als politisch Verfolgte und Gefolterte aufzufassen seien. Dies sei für sie eindeutig an ihrer Herkunft und ihrem Herkunftsort, an ihren Aktivitäten, ihrer Bildung und ihren Kenntnissen zu erkennen, und ihren geschilderten spezifischen Beteiligungen an Widerstandshandlungen sei anzumerken, dass sie so nicht stattgefunden hätten. Es handele sich um Armutsflüchtlinge oder um solche, die persönlichen Repressalien (Blutrache, Verrat, reaktionäre Haltungen, denen Täterhandlungen vorausgegangen seien) entgehen wollten.

  1. Das Unterstützungspotenzial für Flüchtlinge ist in Deutschland immer weiter eingeschränkt worden. Rechtsberatung und soziale, integrative Arbeit sind in der Tat seit der Asyldebatte zu Beginn der 90er Jahre stark reduziert worden. Es gibt nur noch wenige Orte und Personen, die sich wohlwollend mit Flüchtlingen befassen. Flüchtling zu sein, sei ein unter Umständen gefährliches Stigma, das jeder schnell loswerden wolle. Dazu im Gegensatz steht eine allgemeine Empathie im Fernbereich wie bei Flutkatastrophen.

3)   Spezifische Institutionen erfordern schon nach ihrem offiziellen Etikett, dass sich nur Folteropfer bei ihnen einfinden, sieht man von Kriegsflüchtlingen ab.

4)   Die Lebensentwürfe von Flüchtlingen machen für eine aufenthaltsrechtliche Anerkennung die Existenz einer Folterbiographie erforderlich. Foltererfahrung wird hierbei als besonders intensive politische Verfolgung aufgefasst. Zahlreiche Flüchtlinge hängen existenziell an der Unterstützung, z.B.  durch das BZFO.

5)   Das angeblich erlebte Folterereignis wird in einigen Fällen erst nach der Abschiebeandrohung „erinnert“.

6)   Zahlreiche Patienten erscheinen präpariert, wenn sie ihre Symptome vortragen. Die Fragen und eine gewisse Bereitschaft seitens der Therapeuten lenken in die Richtung einer Folterbiographie. Es gilt, möglichst viele posttraumatische Symptome zusammenzufassen. Das Konzept der PTBS rückschließt aus der Schilderung von Symptomen auf die Erfahrung eines traumatisierenden Ereignisses. Die Symptome haben keinen spezifischen Charakter für eine Foltererfahrung.

7)   Wahrheitsprüfungen, wie beim Gericht oder Bundesamt, werden als belastend für die therapeutische Beziehung angesehen. Da es sich bei der Foltererfahrung um ein Ereignis handelt, das Grundvertrauen auflöst, möchte zur Vermeidung einer Retraumatisierung der Therapeut nicht dazu beitragen, Misstrauen und Unsicherheit zu schüren und damit Behandlungserfolge zu gefährden.

8)   Eigene Erfahrungen mit Anerkennungsverfahren haben belegt, dass einige Patienten nach der Verhandlung deutlich machten, dass sie stolz waren über die Tricks, mit denen sie die Richter überlisteten und dass sie die Therapeuten als Komplizen bei diesem Deal ansahen.

9)   Wer  z.B. das BZFO betritt, befindet sich in einer suggestiven Atmosphäre. Er findet Wohlwollen, Empathie, Ernsthaftigkeit und die Bereitschaft, im Zweifel für den Besucher Fakten oder Geschildertes zu interpretieren. Therapeuten empfinden es als Bürde, wenn sie sich existenziellen Fragen des Besuchers aussetzen. Sie tendieren dazu, Einwände gegen ihre Urteile als staatliches Misstrauen und Traumaignoranz auf Seiten der Verwaltungsbehörden zu betrachten, und es wird viel Energie darauf verwandt, staatlichen Einwänden durch sophistische Interpretationen zu begegnen, die Möglichkeiten enthalten, jedoch nicht auf klassischen Beweisen fußen. Vielfach wird als Beweis das Expertentum der Diagnostiker betrachtet.

10)            „Last-minute-Fälle“ nahmen immer mehr zu. Die therapeutisch orientierte Institution soll zum letzten Rettungsanker in solchen Fällen werden, in denen andere Organisationen keine Chance mehr sehen. Größenphantasien, gepaart mit Machtattitüden, werden dadurch befördert. Dies verführt zu Rettungskonstruktionen.

11)            Flüchtlinge sind in einer objektiv existenziell gefährdeten Lage. Sie fordern einen Hilfsimpuls beim Therapeuten heraus. Kein Therapeut möchte ungerecht sein oder sich unterlassener Hilfeleistung zeihen lassen. Therapeuten sind nicht Richter. Gleichwohl machen sie sich zu Hilfsrichtern, indem sie Biographien mit dem Hinweis auf eine Vertrauensbeziehung, die sich von der zu Behörden grundlegend unterscheide, alternativ interpretierend ausdeuten.

12)            Therapeuten halten grundsätzlich jede Scheußlichkeit für möglich. Das ist berechtigt. Sie halten jedoch auch jede Scheußlichkeit bei allen Flüchtlingen für möglich. Das ist falsch. Sie kennen keine Details der Herkunftsländer, besonders wenn es sich um sehr unterschiedliche Länder handelt. Sie schreiben im Grunde, was eine Geschichte in ihnen ausgelöst hat. Sie spiegeln eine Biographie in ihrem Gefühls- und Wahrnehmungshorizont mit einem Erkenntnisgerüst von PTBS. Sie vermischen Gegenübertragungen mit Realität, Tatsachen mit Wünschen, Erzählungen mit eigener Phantasie.

13)            Wiederholt haben Patienten Krankheitsfolgen als Folterfolgen ausgegeben. Dies galt für angeborene Mängel oder Poliofolgen oder Anfallsleiden, aber auch für psychotische Episoden. Verbrennungsfolgen wurden auf Folter zurückgeführt. Selbstbeschädigungen wurden als Folter ausgegeben. Klienten bestanden heftig darauf, dass ihrer Version Glauben geschenkt wurde. Sie waren nur schwer und unter Gefährdung der Beziehung von ihrer Geschichte abzubringen. Manche wurden sogar sauer und bezweifelten die Kompetenz der Therapeuten. Sie waren oder wurden an ihre Version fixiert. Ob es sich dabei um Fixierungen mit Widerständen gegen ihre Beseitigung (im psychoanalytischen Sinne) handelt, wäre zu prüfen.

14)            Traumatische Erfahrungen sind häufig. Folter ist dagegen nicht so häufig. Oftmals besteht eine Diskrepanz zwischen der Rolle und Bedeutung politischen Engagements und den behaupteten erpressten Informationen einerseits und den Fähigkeiten eines Patienten. Es wird eher selten berichtet, dass ein Folteropfer sich nationalen oder ethnischen Organisationen anvertraut, bevor er/sie das Land verlässt. In diskrepanten Fällen ergänzen Therapeuten den Mangel an Konsistenz oftmals mit “Willkür“, die jeden treffen könne.

15)            Ein Klient, der eine Unterstützung bei der Aufenthaltssicherung wünscht, muss in der Regel eine Verfolgungsbiographie mit Foltererfahrung oder ein Äquivalent aufweisen. Seine sichere Existenz ist abhängig nicht nur von der Glaubwürdigkeit seiner Geschichte, sie muss geradezu verwoben sein mit seinem Leben im Exil, seinen Aktivitäten und seinen Kommunikationspartnern. Er muss signalisieren, dass seine Verfolgung/Aktivität in der Heimat konsistent im Exil fortgesetzt wird. So muss er begründen, warum er nicht mehr aktiv ist, wenn er sich aus dem politischen Leben zurückzieht. Das fällt z.B. Palästinensern schwer, die im Exil oft keine Aktivitäten zeigen, weil sie in ihrer Heimat sehr stark missbraucht wurden.

16)            Folter ist seit Beginn der 90er Jahre zu einem Thema geworden, das zunehmende öffentliche Aufmerksamkeit fand. Die Einrichtungen, die sich bis dahin um Flüchtlinge kümmerten, verlegten ihren Schwerpunkt seither auf Folteropfer, und dies nicht nur, weil es dafür eher europäische Gelder gab. Erst seit der öffentlichen Verschmelzung von Menschenrechten mit der Forderung nach Therapie von Folteropfern ist ein neuer Zweig der Sozialpsychologie entstanden.

17)            Wir registrieren eine zunehmende Bereitschaft in unserer Gesellschaft, Opfern von ungerechtfertigter oder willkürlicher Gewalt einen Anspruch auf Wiedergutmachung zu attestieren. Dies bezieht sich auf Opfer von sexuellem Missbrauch, von Zwangsarbeit, von staatlicher Willkür und Folter. Wir können eine Tendenz erkennen, in einer zunehmend verrechtlichten Welt Rechtsansprüche zu formulieren, die sich aus internationalen Vereinbarungen ergeben. Ein Beispiel mag die Forderung nach Wiedergutmachung der Sklaverei sein.

18)            Damit hat sich ein Wechsel in der Betrachtung des Opfers ergeben. Das Opfer hat Rechte und findet Institutionen, die diese Rechte durchzusetzen helfen. In unserer Gesellschaft mag diese Entwicklung Folge einer Sichtweise sein, die aus historischen Gründen Menschen in Täter und Opfer einteilt. Aus den schwierigen emotionalen Folgeerscheinungen des Nationalsozialismus hat sich eine Tendenz herausgebildet, sich eher mit den Opfern zu identifizieren. Das hat Jahrzehnte gebraucht. Zuerst war die stumme oder gar engagierte Entlastung der Täter vorherrschend. Beide Haltungen, die Dichotomie von Tätern und Opfern und die Bereitschaft zur Identifikation mit Opfern, erlauben keine differenzierten Zwischentöne im kollektiven Gesang der Verherrlichung von Opfern. Wenn wir davon ausgehen, dass das Individuum ein Produkt kollektiver Einflüsse ist, dann ist der Schutz seiner Freiheit, die ihn als Individuum konstituiert, zugleich auch immer Schutz jener Haltungen, die auf es sozialisierend wirken.

19)            Die Wahl einer Opferbiographie korrespondiert mit Phantasien eines Neubeginns, eines neuen Lebens mit neuer Identität, denn das „unschuldige“ Opfer ist schuldfrei, kann wie ein Kind seine künftige Erfahrungswelt neu und ohne Schuldbelastungen erobern.

20)            Opferbiographien werden aus verschiedenen Gründen nicht so leicht hinterfragt. Diejenigen Patienten, die ihre falsche Biographie später geoutet haben, haben dabei ihre Täteranteile (Verrat) bewusst zugedeckt.

 

Aus dem oben genannten Gebräu aus Feststellungen wird jedoch der Mechanismus nicht deutlich, der sich aus der therapeutischen Situation auf die Konstruktion von Biographie ergibt. Welchen Wirkprinzipien unterliegt ein Patient durch suggestive Faktoren, die vom Therapeuten, der therapeutischen Situation, der Institution und den juristischen Implikationen ausgehen? Möglicherweise autosuggestiven?

Wir haben wiederholt festgestellt, dass Patienten, die über keinen gesicherten Aufenthalt verfügen, keine Motivation zur Genesung entwickeln können, weil und wenn ihr Status als Opfer von ungesetzlicher Gewalt den Aufenthalt im Exil begründet. Seelische Genesung und Beendigung der Therapie bedeuten in ihrer Wahrnehmung die Abschiebung. Wir haben es hierbei also seitens des Patienten mit einer (un)bewussten Verweigerung von  Entwicklung zu tun. Diese Haltung ist eine regressive, denn sie verbindet die Erfahrung einer frühkindlichen Hilflosigkeit mit Signalen und Ansprüchen auf besondere Zuwendung. Regressives Verhalten bildet die Voraussetzung für wechselseitige suggestive Effekte.

Man kann nun nicht über eine wie auch immer geartete Sehnsucht nach dem Opferstatus sprechen, ohne die wechselseitigen Einflüsse von Regression zu beleuchten.

Im therapeutischen Prozess ist die Bedingung einer Regression angelegt. Der Therapeut erlaubt dem Patienten durch die „Vertragsbedingungen“, durch seine Rolle und Ausbildung und das Ambiente zu regredieren. Der Patient erlaubt sich zu regredieren, indem er auf seine eingeschränkten Kräfte und Handlungsoptionen verweist und indem er eine Biographie präsentiert, deren Kern eine erzwungene Regression darstellt, die zu wiederholen wesentlicher Teil des Pathomechanismus ist. Regressives Verhalten erlaubt einen virtuellen Neubeginn nach Scheitern eines Lebensentwurfs und den einzelnen Entwicklungsschritten, die ihn ermöglichen sollten. Es ist dem Zwangsverhalten verwandt oder dem Los, das auf „Start“ verweist. Es bedeutet, dass zahlreiche stattgehabte Entwicklungsschritte gelöscht erscheinen oder besser: verleugnet werden.

Die Biographie, die als erfundene die wahre eigene überdecken soll oder mit ihr verschmilzt, ist eine, die zur Tarnung selbst Elemente von Regression erfasst. Sie hat keine heldenhaften Attitüden, sondern nimmt, indem die Opferrolle gewählt wird, Bilder von Schwäche und Verlorenheit auf. Richard Gist fragt in einem Artikel von Lauren Slater in der New York Times: Why are we only fascinated with frailty? Und er antwortet sich: The trauma industry knows they can make money off of frailty.

Bezogen auf unsere Patienten könnte es bedeuten, dass symbolische Ähnlichkeiten gewählt werden, um eine erfundene Geschichte, die jedoch auf der Symbolebene verwandte Muster mit der wahren Geschichte enthält (existenzielle Bedrohung, Angstgefühle, Entwertung, Verlust von Würde und sozialer Rolle), in den Bereich gesellschaftlicher Akzeptanz zu bringen. Der Mann, der jahrelang ein hartes Leben mit Angst vor Razzien führte und der einige seiner Angehörigen durch die Machthaber verlor, Verrat aus kleinlichem Opportunismus beging, sich wiederholt über Schikanen erregte, in seiner ökonomischen Entwicklung durch die Machthaber behindert wurde, sich vor Minen auf seinem heimatlichen Areal fürchtete, dessen Widerstandskraft ohne organisatorischen Rahmen erlahmte, der seinen Kindern nicht den gewünschten Namen geben durfte usw., dieser Mann verlässt sein Land, wie ja viele Auswanderer irgendwann die Schnauze voll hatten, der dauerhaften Angst entkommen wollten und ein neues Leben suchten, das solange eine Illusion seiner Vorstellung war, bis er es ausprobierte. (Die Bremer Stadtmusikanten sagten übereinstimmend, bevor sie sich der Gruppe anschlossen, dass sie etwas Besseres als den Tod überall fänden.) In das Bild eines neuen Lebens flossen Phantasien, Wünsche und Heilsversprechen ein, ein bisschen Realität und eine Portion Zuversicht. Dieser prototypische Mann suggeriert sich, dass er es schafft, ein unbedrängtes Leben zu führen. Er hat Geld eingesetzt und Entbehrungen auf sich genommen. Und er stellt dann fest, dass er den erstrebten Neubeginn nur schaffen kann, wenn er sich eine Verfolgungsbiographie zulegt, weil seine Gründe der Emigration nicht in das europäische Asylverfahren passen. Er steht vor der Wahl, ein platter Schwindler zu werden oder sich mit einer erfundenen Geschichte zu verschmelzen und an sie zu glauben. Die Rettung seines neu eingeschlagenen Wegs ist nur mit einer Deckgeschichte möglich. Andere Emigranten haben das auch durchgesetzt. Durch alle Instanzen sieht er sich gezwungen, seiner erfundenen Geschichte die Treue zu halten. Sie wird Teil seines Neustarts. Er muss wenigstens so lange durchhalten, wie das Verfahren dauert, und seine Verwandten in die neue Geschichte einweihen, weil die Behörden in der Lage sind, Querverbindungen zur berichteten Verfolgung herzustellen. Ein solcher Mensch gelangt in den Bann von autosuggestiven Kräften.

Zur Aufrechterhaltung seiner erfundenen Biographie ist er sogar bereit, eine Therapie aufzunehmen, die aber nur der symbolischen Ähnlichkeit seiner wahren Biographie gelten kann. Die Angst vor einer Razzia durch Paramilitärs wird zur stattgefundenen Razzia usw. Affekte suchen sich stets eine begründende Geschichte. In der therapeutischen Situation erfährt er einen Ort, an dem ihm seine Geschichte abgenommen wird. Sie wird nicht in Frage gestellt wie in den übrigen Instanzen. Ja, er erhält sogar Solidarität, Einfühlung, soziale Unterstützung, darf an Festen teilnehmen. Die therapeutische Situation erschafft nicht die erfundene Biographie durch suggestive Einflüsse, sie befestigt jedoch die intrapsychische Integration der Deckgeschichte. Und sie modelliert die vorhandene Symptomatik durch lenkende Fragen und Hinweise zu einem Komplex, aus dem der Therapeut die Existenz von erzählter Foltererfahrung ableitet und der Patient die Stimmigkeit und Überzeugungskraft seiner Deckgeschichte und sein notwendiges Festhalten an ihr, bis in die Details. Die Verführung zur Deckgeschichte, die als Notwendigkeit für einen Aufenthalt durch die rechtlichen Forderungen begründet erscheint, wird in der Doppelrolle des Therapeuten als Behandler  psychischer Nöte und Erscheinungen, die das fremde Exil verursacht, und als Unterstützer im rechtlichen Anerkennungsverfahren verstärkt. Erst die Vermischung aus Bildern von Albert Schweitzer und Raoul Wallenberg gibt der Deckgeschichte eine justiziable Statur. Um die therapeutische Integrität zu erhalten, muss der Therapeut von der Doppelrolle befreit werden.

Deckgeschichten können bestimmte Anteile von Biographie variieren, zumeist solche, die wegen ihrer Schmerzen kaum integrierbar sind, sie können eine völlig andere Biographie entstehen lassen, weil die wahre eigene keine Asylrelevanz hat. Bei Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen wird die Biographie oftmals schon unter den unmittelbaren Erlebnissen verändert. Es werden Teile, die mit Scham verbunden sind, ausgeklammert. Es wird das, was nicht verstanden wird, ausgelassen, damit die Herrschaft über die eigene Erinnerung nicht verloren geht. Angst als Folge von Erinnerung lässt verstummen. Zuweilen setzen manche Traumatisierte ihre Erzählung aus verschiedenen Biographien zusammen, die der eigenen ähnlich sein können, vor allem, wenn sie eine Integration der Erlebnisse verweigern oder sich vor der Obsession der Erlebnisse fürchten. Der Zweck dieser Veränderungen von Erlebtem ist letztlich die rationale Selbstlegitimation für das Verlassen der Heimat und der Freunde und Familie, und er wird durch rechtliche Forderungen im Aufnahmeland noch zusätzlich geformt, in dem ein biographischer Ausschnitt einen  vorgeschrieben Zweck erfüllen soll. Wie kann eine Biographie einen Zweck erfüllen? Wir haben es hier mit autosuggestiven Einflüssen und extern vorgegebenen Zwängen zu tun. Vor der Flucht erreichen jeden Migranten, der aus Bedrängung und Armut sein Land verlässt, zahlreiche Geschichten, die eher der kollektiven Verarbeitung entspringen, nun aber im Exil in Europa sukzessive individualisiert werden.

Ein Extrakapitel stellen Jugendliche dar, die schon vor ihrer Ausreise mit Deckgeschichten geimpft werden, wenn sie zum erhofften Lebensunterhalt der Familien beitragen sollen.

Migranten besitzen keine ausschmückenden Attitüden oder statusbezogenen Gegenstände. Sie sind im Allgemeinen arm. Sie schämen sich ihrer Armut, die in ihrer Heimat nicht so stigmatisierend war. Nichts zu besitzen, das letzte Geld in die Schlepper investiert zu haben, nur über das nackte Leben zu verfügen, sich in eine totale Abhängigkeit zu begeben, die zuweilen als totalitär erlebt wird, muss eine enorme suggestive Wirkung darauf haben, in welcher Art und Form der Grund für den Habenichts-Status öffentlich dargestellt wird. Der Status als Paria in Europa, wo der Wert des Menschen nach seinem Besitz gemessen wird, muss so schnell wie möglich verlassen werden. Erst Haben schafft ein Sein. Von diesem gesellschaftlichen, täglich erfahrbaren Zwang geht eine viel größere suggestive Kraft aus als von der therapeutischen Situation.

Jedenfalls sind Wilkomirski und Migranten nicht ohne weiteres miteinander zu vergleichen. Wilkomirski stand nicht unter dem objektiven Zwang, seine Geschichte neu zu erfinden. Er stand aber wohl unter einem subjektiven Zwang.

Wenn Stoffels in seinem Artikel über die Sehnsucht nach einem Opferstatus auch jene Jugendlichen aufführt, die sich selbst beschädigen und dies als Folgephänomen gesellschaftlich geächteter Gewalt ausgeben, so liegen diesen Geschichten vermutlich verwandte Gründe wie bei Wilkomirski zugrunde, obschon nicht bekannt ist, ob sich die selbst beschädigenden Personen in Therapie befanden. Eine war wohl Rollstuhlfahrerin und als solche traumatisiert und stigmatisiert.

Bei den Fällen, wo aus einer therapeutischen Situation eine „Erinnerung“ aufscheint, man sei in der Kindheit von einem Menschen sexuell missbraucht worden, liegt der Fall anders. Hier mögen suggestive (gesellschaftliche und therapieinduzierte) Faktoren eine tragende Rolle spielen. Drei Tatsachen sind hier beachtenswert:

  1. Gesellschaft produziert Moral und fordert ihre Beachtung in der täglichen Praxis. So hat zum Beispiel Kinderpornographie und der dabei abgehandelte Missbrauch von Kindern eine neue strafrechtliche Relevanz erhalten wie nie zuvor. Delinquenz in diesem Bereich wird als solche wahrgenommen. Der Verfolgungsaufwand durch Sonderkommissionen hat sich enorm ausgeweitet. Die Beziehung zwischen Lust, Gewalt und strafrechtlicher Verfolgung hat eine neue Dimension angenommen. Bilderbetrachter sind potenzielle Sexualmonster. Es entstehen neue Bildhierarchien, die sich in der gesellschaftlichen Psyche sedimentieren: Den zerstörten Körper eines Kriegsopfers zu zeigen, ist Dokumentation, der Vergewaltigungsakt an einem Kind ist ein Verbrechen. Das Betrachten eines Bildes dieses Verbrechens gleichfalls, wenn es in Beziehung zu einer vermuteten Luststeigerung gerückt wird.
  2. Die Politik der Körper unter einer Gewalt folgt eigenen Gesetzen. Sie entfalten ihre Bedeutung durch eine Differenzierung der Affekte, die sie auslösen und kalkulieren. Besonders aber durch die Vorschriften, wem die Affekte gelten sollen und wem sie versagt werden müssen. Affekte haben eine gesellschaftlich konstruierte Richtung.

3)   Bestimmte Entwicklungen im Seelenleben von Patienten in Therapie werden verständlich vor dem Hintergrund einer Annahme eines massiven kindlichen Traumas. Therapeuten können, wie sie behaupten, aus einer Symptomatik auf die Ursache schließen, den realen Erfahrungshintergrund zumindest wahrscheinlich machen.

 

Es können dadurch in einem bestimmten gesellschaftlichen Klima Erinnerungen von Gewalterfahrung produziert werden, wenn sich dadurch schuldhafte Verstrickungen in seelische Fehlentwicklungen entlasten lassen. Man ist so, wie man ist, weil man bestimmte Erfahrungen nicht hat abweisen können, da sie mit Gewaltdrohung oder Zuwendungsentzug verbunden waren. Vielleicht kann die Geschichte des „bösen Blicks“, der „Hexenverfolgung“ und der Gebrauch der Magie in bestimmten Gesellschaften diesen Mechanismus erklären helfen.

Braucht es für die Erklärung der Wirkung von Suggestion ein hierarchisches Verhältnis? Kann ein Patient einem Therapeuten eine verwandelte Erinnerung so suggestiv präsentieren, dass sie wahr erscheint und der Therapeut sich der Suggestion durch den Klienten nicht entziehen kann, weil er Dispositionen dafür in sich trägt?

 

Fallgeschichte 1

 

Ich erinnere mich an einen Kashmiri, der einmal in eine Sitzung kam und sich voller Empörung über eine Festnahme in Berlin beklagte, die ihn im Rahmen einer Polizeiaktion gegen illegale Arbeit ereilt hätte. Er sollte ein Bußgeld bezahlen. Er stellte den Fall so dar, als sei er willkürlich kontrolliert worden und habe sich nur zufällig in der Gegend aufgehalten. Ich machte ihm den Vorschlag, dass er eine Entschuldigung fordern und das Bußgeld verweigern solle. Es kam zum Widerspruch des Arbeitsamtes gegen diese Forderung und daraufhin zu einer Verhandlung vor dem Amtsgericht. Ich hatte eindeutig mit Zustimmung des Kashmiri gehandelt, und alle Formulierungen  waren ihm übersetzt worden. Ich hatte nicht an seiner Statt gehandelt. Für mich erschien dieser Fall zu erfordern, die Möglichkeit ausländerfeindlichen Verhaltens in den Blick zunehmen und Vorschläge für ein Handeln zu machen, mit denen sich sein gekränkter Selbstwert wieder herstellen ließ.

Bei der Verhandlung stellte sich nun aber heraus, dass die Polizisten einen Rucksack mit Werbungsmaterial sichergestellt hatten, die dem Patienten gehörten. Er hatte offensichtlich eine als „illegal“ bezeichnete Arbeit, das Verteilen von Werbematerial, gemacht. Warum also hatte er mich in seine falsche Geschichte gezogen, die vor Gericht an Peinlichkeit nicht zu übertreffen war? Er musste sich erinnern, dass er beim Verteilen von Werbung erwischt worden war und dass unser gemeinsam inszenierter Aufstand bei Gericht zusammenfallen musste. Er hatte die von ihm erlebte allgemeine Ausländerfeindlichkeit und seine und meine Tendenz, Polizeiwillkür für tägliche Realität zu halten, zu einer Story verknüpft, die ihn als Opfer von staatlicher Willkür darstellte. Ihm schien die Sache nicht peinlich. Er lächelte mich an, als müsste ich ihm augenblicklich vergeben. Als „großer Bruder“ und Fürsorger sollte ich seine Lüge mittragen. Das sei nun mal so in Pakistan. Er habe doch sonst niemand, an den er sich wenden könne. Er hat meiner ärztlichen Rolle eine Konnotation beigefügt, die aus seinem kulturellem Verständnis von Familie stammte und deren Belastbarkeit er nun getestet hatte.

 

Fallgeschichte 2

 

Ein ca. 32jähriger Mann aus dem Kosovo, hatte, wie er berichtete, ein Chemiestudium fast abgeschlossen, als er im Verlauf des Bürgerkrieges, den er kämpfend an der Seite der Bosnier erlebt hätte, in serbische Gefangenschaft geraten sei. Er sei unter Schlägen verhört worden und nach seinem Zusammenbruch habe man ihn in eine psychiatrische Klinik gebracht und dort gezwungen, sich selbst Schnittverletzungen an den Armen beizubringen. Diese wollte man dann als Selbstbeschädigungen ausgeben und so seine psychiatrische Verbringung legitimieren. Er hat von brutalen Verhörmethoden berichtet.

Auf meine Zweifel, die Schnittverletzungen könnten doch auch von ihm in einer verzweifelten Situation verursacht sein, entgegnet er, ich kenne die Perfidie der Serben nicht.

Zu jeder Sitzung bringt er ein Dosengetränk für mich mit, ein kleines Geschenk, wie er sagt. Er möchte auch nicht eine lange währende Therapie, aber er benötige nun mal meine Unterstützung bei der Feststellung eines Traumas für das Sozialamt Köpenick.

Er ist stets freundlich, höflich, gepflegt  und zugewandt. Er hat sich schon der persönlichen Unterstützung einer Sozialarbeiterin aus dem Bezirk versichert. Sie habe ihm eine Wohnung beschafft.

Nach etwa 7 Sitzungen, in denen eine, wie mir scheint, positive Beziehung sich konstituiert, eröffnet er der Dolmetscherin nach der Sitzung, dass er seine Geschichte nicht mehr aufrechterhalten wolle. Ich sei so wohlwollend und hilfreich, er könne mich einfach nicht weiter beschwindeln. Er sei ursprünglich Schauspieler gewesen, habe unter den Kriegsereignissen gelitten, seine beruflichen Aussichten seien zerstört worden, er sei seelisch erkrankt und in eine psychiatrische Klinik gekommen. Von dort sei er ausgerückt, als die Front näher gekommen sei und habe sich nach Deutschland abgesetzt. Er traue sich nicht, mir die Wahrheit zu sagen. Er habe es mehrfach versucht und dann doch unterlassen. Er lasse mich grüßen. Ich habe ihn nie mehr gesehen.

 

Fallbeispiel 3

 

Ein Kurde aus einer Region, in der die Hizbollah ihren Einfluss mordend erweiterte, besteht nach zahlreichen Bemühungen, ins BZFO aufgenommen zu werden, darauf, dass er von Forst nach Berlin umverteilt werden müsse, weil er erstens ein Folteropfer sei, worauf er bereits in seiner Anhörung hingewiesen hatte, und zweitens sein ältester Sohn in Berlin angekommen sei. Seine Verfolgungs- und Folterbiographie wirken von Anbeginn an unschlüssig, sodass eine therapeutische Orientierung ohne Anknüpfung bleibt. Er kann Widersprüche nicht aufklären. In der folgenden Sitzung hat er jeweils Erklärungen für Widersprüche aus der vorangegangenen parat. Er hat sich offenbar mit meinen Einwänden beschäftigt. Er drängt mich stark, als wäre ich sein Angestellter. Er wird mir lästig und unsympathisch. Ich sage es ihm und lehne weitere Kontakte ab unter Verweis auf Überlastung. Nach Monaten und zahlreichen Telefonaten, die ich, mich  verleugnend, an andere verweise, steht er wieder da und wirft mir vor, ich könne wahre Folteropfer nicht erkennen und fragt, warum ich ihn so schlecht behandele. Ich sage ihm, dass mir seine Geschichte nicht glaubhaft erschiene, mache ihn nochmals auf Lücken und Widersprüche aufmerksam und gebe ihm auf, bis zur Gerichtsverhandlung eine konsistente Geschichte zu präsentieren. Sonst könne ich ihn nicht begleiten. Seine fehlenden exilpolitischen Aktivitäten begründet er plausibel. Ich erfasse eigentlich recht schnell, dass er ein Geheimnis verbirgt.

Vor der Verhandlung hat er dann eine schlüssige Geschichte parat. Die bisherigen Widersprüche klingen plausibel aufgelöst. Er bleibt mir dennoch wegen seiner gläubigen Haltung, die ich eher bigott empfinde, unsympathisch, weil diese für mich in einen dauerhaften Widerspruch zu seiner behaupteten Unterstützung der PKK tritt.

Nach der Verhandlung in Potsdam, zu der ich ihn begleite und die ihm eine Aufenthaltsbestätigung einbringt, sagt er mir, dass ja alles gut gelaufen sei und zeigt mir verstohlen eine Plakette, die ihn als Mitglied einer religiös fundamentalistisch orientierten Organisation ausweist. Er besteht darauf, meine Tasche zum Bahnhof zu tragen. Wir kehren nach Berlin zurück. Ich sehe ihn nicht wieder. Das ist mir auch recht so, denn ich konnte den Druck, jemand wegen seiner fundamentalistisch religiösen Einstellung möglicherweise ungerecht zu behandeln, wofür ein leiser Zweifel Ausschlag gebend war, nicht länger ertragen. Natürlich verspürte ich Wut und ärgerte mich über diese Instrumentalisierung. Außerdem fürchtete ich, dass ich in Zukunft misstrauischer sein könnte und damit erst recht ungerecht. Das war dann auch so.

Durch seine diebische Schadenfreude über die Dummheit der Richter hat er mir deutlich gemacht, dass seine ganze Geschichte erfunden war. Ich gehe nun davon aus, dass er ein Mitglied der Hizbollah ist und war und sich deshalb aus dem Land absetzte, weil er gesucht wurde. Er hätte im Abschiebungsfall wahrscheinlich Folter zu befürchten, und deshalb war sein Schutz unumgänglich. Er hat eine Täterbiographie in eine Opfergeschichte umgemünzt. Als Alternative zu einer Ablehnung seines Asylbegehrens hätte er, wie er gestand, bereits Plan B aktiviert. Da er ohne Ehefrau in Deutschland war, hätte er eine Zweitehe als Aufenthaltssicherung verstanden.

 

Den beiden letzteren geschilderten Fällen ist gemeinsam, dass es sich um erfundene Geschichten handelte, die mit dem Aufenthaltsrecht in Deutschland kompatibel gemacht wurden. Das Gesetz konstituiert seine Übertretung, wenn existenzielle Belange berührt sind. Es kann sich bei diesen Fällen nicht um neurotische Einverleibungen handeln. Die suggestiven Einflüsse von meiner Seite waren eher gering. Wenn ein solcher Einfluss bestanden hat, so war er bereits vor Aufnahme der Beziehung wirksam, als Skepsis und Unbehagen gegenüber den Asylgesetzen und der vorgeschriebenen Form der Gewissensprüfung, die als Voraussetzung für ein Existenzrecht in Deutschland erforderlich ist. Entscheidend für eine Anerkennung einer konsistenten Biographie ist neben offiziellen dokumentierten Einschätzungen die individuelle Glaubhaftmachung gegenüber Personen, die den Zweifel kultivieren, sicherlich oft belogen werden und sich daher in zahlreiche, oftmals aggressive Tricks flüchten, mit denen sie Glaubwürdigkeit erschüttern können.

Eine unter der Therapie gebildete „false memory“, d.h. die induzierte Erinnerung an Ereignisse, die nicht stattgefunden haben, muss verneint werden. Allerdings muss in den zwei Fällen darauf hingewiesen werden, dass meine geäußerten Zweifel Widerstände hervorgerufen haben können, die ein hartnäckiges Festhalten an der erfundenen Geschichte und die Produktion von überzeugenden Details bewirkt haben könnten.

Selbst wenn man eine erhöhte emotionale Belastung unter der Ablehnung des Asylantrages und generelle Identitätsunsicherheit im Exil sowie psychische Erschöpfung und Regressionswünsche annimmt, wird man die generierten Geschichten nur als Ausweg ansehen, der objektiv durch das Gesetz (und zuweilen durch das Betreiben von Anwälten) und durch die Existenz solcher Einrichtungen wie das BZFO, die ja gerade durch ihre Fokussierung auf traumatische Erlebnisse den „mildernden“,  verstehenden Umständen gewidmet sind, erzeugt wird und durch eine justiziable Aufbereitung zugleich die „andere, die humane Wahrheit“ für sich beansprucht.

Eine darüber hinausweisende Psychologisierung ist in diesen Beispielen nicht enthalten. Es geht um eine Instrumentalisierung der konstruierten Biographie für einen existenziellen Zweck, im Fall meiner Klienten genauso wie bei Wilkomirski. Davon abzugrenzen sind Fälle, in denen im Verlauf der Therapie eine Biographie präsentiert wird, die sich durch Schilderung sukzessiv gesteigerter Brutalisierung der eigenen Erfahrungen auszeichnet. Wir gehen landläufig davon aus, dass wegen der Schmerzhaftigkeit der Erinnerungen anfangs nur in Fragmenten berichtet wird. Das mag ebenso der Fall sein wie die Steigerung aus neurotischen Gemengelagen, die z. B. aus Furcht vor dem Beziehungsabbruch oder dem Wunsch nach Steuerung der Beziehung eine phantasievolle Überwältigung von grausamen Erlebnissen erfinden, mithin ein Faszinosum von Gewalterlebnissen komponieren, wenn der Patient merkt, dass der Therapeut durch Gewaltschilderungen zu faszinieren ist und starke emotionale Reaktionen zeigt.

Dieser Mechanismen wird zusätzlich kompliziert durch Einflüsse, die wir bei dissoziativen Störungen annehmen. Wenn wir davon ausgehen, dass ein Mensch unter extremen traumatisierenden Stressbedingungen, sei es durch kognitive Überforderung oder emotionale Überflutung (die tertiäre Dissoziation in multiple Persönlichkeiten lassen wir beiseite), seinen Ich-Kern nur durch Dissoziation bewahren kann, so schaffen wir damit zugleich eine generelle Exkulpation für falsche Erinnerungen oder einen Raum, in dem das psychologische Erklärungsmodell den Beweis ersetzt und viele Spekulationen gewähren lässt. Wenn wir Dissoziation als Fragmentierung des somatosensorischen Erlebens bezeichnen und eine Bewusstheit der Bruchstücke, die sich in der Unsagbarkeit des komplexen traumatischen Geschehens ausdrückt, verneinen, dann muss eingeräumt werden, dass im therapeutischen Prozess mit zunehmender Bewusstheit der einzelnen Fragmente auch das narrative (explizite) Gedächtnis phantasievoll erweitert wird. Dieses ist aber zusätzlich von der Natur der Beziehung abhängig und konstruiert Erinnerung als Reflex auf die Beziehung, ihre Bedeutung und andere Grundmuster täglicher Erfahrung. Erinnerung als Narrativ ist immer an soziale Situationen gebunden und wird jeweils neu konstruiert oder akzentuiert.

 

Als praktische Konsequenzen aus diesen Erfahrungen resultieren die genaue, kontinuierliche Prüfung der Beziehung und nicht der Glaubwürdigkeit (wie viele Gutachter meinen), die Trennung von aufenthaltssichernden Maßnahmen von der therapeutischen Rolle, eine konfrontierende Haltung gegenüber Widersprüchen (im Gegensatz zur integrierenden Form der spekulativen Deutung) und die selbstkritische Haltung gegenüber suggestiven Potenzialen, die im Therapie bedingten Setting und in der Rolle und Macht des Therapeuten liegen. In letzter Konsequenz ist eine Übereinstimmung von klinischer und juristischer Wahrheit nicht zu erzielen. Der Hilfsimpuls, der beiden Sichtweisen gemeinsam sein kann, ist in optimaler klinischer Betrachtung ein primärer und bei der juristischen immer ein sekundärer. Es bleibt ein himmelweiter Unterschied, ob ich die Wahrheit oder die Person verstehen will. Leider verwechseln Psychiater, die als Gutachter auftreten, oftmals diese beiden Motive und Ziele.

Angelika Birck, die geschätzte Kollegin, hat darauf aufmerksam gemacht, dass Suggestion als Vorwurf immer dann ins Gespräch gebracht wird, wenn es gilt, den sekundären Gewinn aus einer Beschädigung abzuwehren, also wenn es um eine Klage gegen einen Missbraucher oder die Erlangung eines gesicherten Aufenthalts eines Flüchtlings geht. Es werde bei Depressionen, Charakterstörungen oder zwanghaften Handlungen im Allgemeinen nicht auf die potenziell suggestiven Einflüsse (bei Therapeuten oder Verwandten oder Bezugspersonen) hingewiesen, obschon Suggestion sonst stets als positive Konnotation der Arztwirkung und der therapeutischen Situation angesehen wird. In jeder kommunikativen Situation sind suggestive Effekte wirksam. In therapeutischen Settings sind sie erwünscht, weil man davon ausgeht, dass der Therapeut diese Effekte zur Genesung einsetzt. Kommt es dazu, dass aus der therapeutischen Situation Forderungen des Klienten/Patienten an die Rahmengesellschaft gestellt werden, wird die suggestive Kraft in der Beziehung selbst verdächtig. Dahinter steht die Vorstellung, dass Therapeut und Patient keine Allianz eingehen dürfen, die Forderungen an die Gesellschaft formuliert. Das ist ein anti-aufklärerischer Standpunkt mit der schlussendlichen Konsequenz, Opfer hätten keine Forderungen zu stellen. Wenn sie solche Forderungen stellen, muss der Therapeut seine Hände im Spiel haben, denn nur er verfügt über einen unbeschädigten freien Willen und unbeschädigte Erkenntnismöglichkeiten. Das ist natürlich so falsch wie die Auffassung, dass die Erde eine Scheibe sei. Hinter dieser falschen Auffassung steht jedoch die richtige Erfahrung, dass der zur Suggestion fähige Arzt auch zu Machtmissbrauch in der Lage ist. Dies kann in vielen Fällen als erwiesen gelten. (Ein umfangreiches Filmgenre: Dr. Fu Man Chu, Dr. Mabuse usw. hat die diffusen Ängste vor Hypnose und Suggestion thematisiert.) Es handelt sich also dabei um ein Misstrauen gegenüber der Suggestivmacht, die einen Patienten für die Interessen des Therapeuten (oder Hypnotiseurs) instrumentalisiert. Dabei muss man von einem klassischen Muster von Verschiebung ausgehen, denn jede Gesellschaft operiert mit Suggestion in verschiedenen Bereichen, die sich als Bestandteile der Kultur verstehen. Ob es um Suggestion beim Bau von Gerichtsgebäuden oder um Suggestion bei Polizeiverhören oder die Suggestion von Kriegerdenkmälern und Massenaufmärschen handelt, immer konkurriert Suggestion mit Aufklärung, die ja gerade die unbewussten Anteile von Suggestionswirkungen erhellen will und damit Machtäußerungen und –potenzen zum Gegenstand hat.