Von Sepp Graessner (2007)
Heute haben sich vielfach rein ökonomische Erklärungsansätze der weltweiten Korruption durchgesetzt, während frühere Erklärungsmodelle, die in den 1960er und 1970er Jahren des vergangenen Jahrhunderts den kulturellen Hintergrund, Traditionen, die Konstanz der Ungleichheit, unzureichende Entwicklungschancen in den Vordergrund von soziologischen oder anthropologischen Untersuchungen rückten, in der gegenwärtigen Antikorruptionsrhetorik obsolet oder marginalisiert erscheinen.
Indem internationale Institutionen wie IWF und Weltbank im Rahmen der gewünschten Globalisierung eine Dominanz der Politik vor wirtschaftlichen Überlegungen (auch aus eigenem Machtkalkül) ablehnten und statt eines starken und regulierenden Staates eher schwache staatliche Institutionen in Kreditnehmerländer forderten, erhielt Korruption den Charakter einer ökonomischen Zwangsläufigkeit, die Zeit ersparte und persönliche Netzwerke knüpfte und moralische Bedenken oder solche einer kritischen Öffentlichkeit glaubte vernachlässigen zu können.
Vor den jüngsten Wahlen für das Regionalparlament der kurdischen Provinzen des Nordiraks wurde allgemein in der medialen Öffentlichkeit, bei Wahlkämpfen und durch politische Außenseiter der kurdischen Administration die grassierende Korruption als ein zentrales Übel vorgehalten und heftig beklagt. Die Ergebnisse der Regionalwahlen machten jedoch deutlich, dass mit Korruptionsvorwürfen an die herrschende Elite sogar kommunale Ämter errungen werden konnten. In Sulaimani erhielt ein Kandidat, der Korruption zum Generalthema erhoben hatte, über 25% der abgegebenen Stimmen und überflügelte damit den Kandidaten der PUK, die hier Erbhöfe zu besitzen schien.
Nun wird in Wahlkampfzeiten oft die verbreitete Korruption von regierenden oder regierungsnahen Politikern von der Opposition angeklagt. Damit soll eher auf eine ungleiche Verteilung beginnenden Wohlstandes hingewiesen werden als auf kriminelle Machenschaften, deren präzise und gerichtsverwertbare Feststellung ebenso schwer fällt wie der Nachweis von Folterhandlungen, wenn keine Enthüllungen von direkt Beteiligten vorliegen. Korruption spielt sich eben genauso verborgen ab wie Folter und andere Menschenrechtsverletzungen, deren rhetorische Bekämpfung im Gegensatz zur Realität steht.
In Südkurdistan beherrschen zwei Parteien, die sich um zwei Stämme gruppieren, die politische Arena, nachdem sie die bürgerkriegsähnlichen Gewaltakte der 1990er Jahre hinter sich gelassen und nach dem Einmarsch alliierter Truppen eine Aufteilung von Einflusssphären und Funktionen vereinbart hatten. Die KDP von Mustafa Barzani und die PUK von Jamal Talabani sind Parteigebilde, die in ihrem Kern Stammesmuster im Umgang mit wirtschaftlichen Entwicklungsprojekten für eine moderne Infrastruktur der Region noch nicht abgelegt haben. Die Parteiführer und ihre Stellvertreter bereichern sich einerseits selbst und ihre Familien (so soll die Familie Barzani von der Bundesregierung Deutschlands aufgefordert worden sein, rund zwei Milliarden Dollar(?) von deutschen Konten oder Anlagen abzuziehen, weil mit diesem Geld nicht nur Korruption betrieben werden könne, sie seien auch das Resultat von Korruption), zum anderen ist das Partei- und Stammesinteresse ein bedeutsames Schwungrad, weil mit Korruptionszahlungen, Schwarzen Kassen und gewaschenen Geldern nicht nur die eigene Tasche gefüllt, sondern auch ein Abhängigkeitsverhältnis oder eine loyale Beziehung, die auf zukünftige Wechselseitigkeit hofft, erkauft wird.
Die Ausbreitung der Korruption (zusätzlich zu vertraglichen Nebenabsprachen in Form von Vorteilen) in der ökonomischen Welt ist nicht auf Staaten beschränkt, die in ihrer Tradition ein Bakschisch-System praktizieren. Vielmehr kann man registrieren, dass aktive Bestechung vermehrt von jenen Staaten und ihren international tätigen Firmen ausgeht, die in ihrer Rhetorik vollmundig Korruption verurteilen. Das macht deutlich, dass ein kulturelles Motiv für die Ausbreitung von Korruptionsaktivitäten eher als schwaches Argument erscheint, eben weil es zunehmend wirtschaftliche Akteure sind aus Staaten, in denen Korruption moralisch und gesetzlich verurteilt wird. Daher spielt sich Korruption in den meisten Fällen im Verborgenen ab und wird aus Fonds gespeist, die selbst vor den Kontrollorganen dieser Akteure geheim gehalten werden. Die Exekutive von global players riskiert somit einen Vertrauensverlust in die Integrität der Entscheidungsgremien und letztlich in die Politik, die unfähig ist, der allgemeinen Moral entsprechend, Grenzen gesetzlich einzuziehen, und somit rückt die Politik in den Status des Komplicen, weil die Strafverfolgung nur einen Bruchteil der Korruptionsaktivitäten wegen der Geheimhaltung aufklären kann und zumeist zu lächerlich geringen Urteilen führt. Oft sprechen in den Staaten des industrialisierten Nordens nicht die Gerichte ein Urteil über Beschuldigte sondern die öffentliche Meinung, die allerdings keine Verhandlung braucht.
Wo aber Korruption alle Lebensbereiche einer Gesellschaft durchdringt, hat es eine öffentliche Meinung sehr schwer, Korruption anzuklagen. Dies ist fraglos in Südkurdistan der Fall, wo höchstens zu Wahlkampfzeiten die ungleiche und unkontrollierte Verteilung von Gütern und Chancen angeprangert wird. Es lässt sich bis auf wenige Ausnahmen belegen, dass Korruption in Südkurdistan nicht im völligen Dunkel sich abspielt, sondern eine gewisse immanente Transparenz ist dadurch gegeben, dass Korruption zum Spiel der Gesellschaft gehört. Korruption ist dort eher eine Form der Beziehungsarbeit, denn ihr primäres Ziel besteht in der Herstellung eines friedlichen und loyalen Klimas zu Personen oder Institutionen, von denen Unheil drohen könnte. Oft sekundär ist der persönliche Vorteil und materielle Gewinn bei Korruption „des großen Stils.“ Korruption „des kleinen Stils“ sieht selbstverständlich auf materielle Vorteile, besonders dort, wo die bewusst geringe Entlohnung von Berufsarbeit zu Nebeneinnahmen verführt. Macht und Einfluss bestimmen also die Chancen zur Korruption, weshalb die Mächtigen und Einflussreichen wesentlich häufiger Adressat und Absender von Korruption werden als Arme. Arme und Marginalisierte sind nur insofern in das korrupte Netz verstrickt, als sie aus Zwischenhandel und geduldetem Schmuggel Vorteile erzielen oder Stimmungsbilder und Informationen veräußern oder, wie vor Wahlen, direkte Geld- oder Sachleistungen empfangen. Arme Menschen sind im Wesentlichen die Gruppe auf einer alltäglichen Ebene, die das Bakschisch-System aufrechterhalten, wenn sie von Institutionen Leistungen erhoffen und dazu in „Vorkasse“ treten müssen.
Aktive und passive Vorteilsnahme ist folglich in einer vertikalen Verteilung in allen Gesellschaftsschichten verbreitet, weil sie Netzwerke wechselseitiger Abhängigkeit herstellen. Sie repräsentieren Möglichkeiten und Chancen in der Zukunft. Abgesicherte Zukunft ist ohne solche Netzwerke – unabhängig von persönlichen Eitelkeiten - gar nicht denkbar. Netzwerke erfordern Investitionen. Damit freilich ist Korruption eine Art Kommunikation von Männern, die sie in der Öffentlichkeit ebenso austragen wie im abgedunkelten privaten Raum. Die korrumpierenden Handlungen hüllen sich in Rituale des Alltags wie Teetrinken, gemeinsames Essen und gemeinsamer ästhetischer Genuss ein und befördern somit die Gewöhnung.
Die Kritiker eines korrumpierenden Systems in Südkurdistan nehmen sehr wohl ihre eigene Verstrickung wahr. Sie fordern daher gegen intensive Widerstände die Kodifizierung eines moralischen Verhaltens, damit die ungleiche Verteilung der Korruptionsaktivitäten die Schere zwischen Armen und stark Begünstigten nicht allzu weit auseinander treibt. Allerdings können moralische Wandlungen nicht per Gesetz erzeugt werden, weshalb die Kritiker meist im Rhetorischen stecken bleiben. Sie benötigen eine alltägliche Praxis von Kontrolle und Transparenz und gegebenenfalls von Strafen, die eben jene Beweise zur Grundlage haben müssen, die zu erbringen in westlichen Industriestaaten sehr schwer fällt. Zudem muss Korruption aus dem Dunstkreis des Alltäglichen geführt werden. Derzeit existiert überhaupt noch kein Schuldbewusstsein bei den Hauptakteuren in Südkurdistan, nicht einmal das Bewusstsein eines „Kavalierdelikts.“
Insgesamt handelt es sich um ein zirkuläres System: Korruptionszahlungen erhöhen die Macht des Adressaten, ja sie sind ein Kennzeichen: Wer Macht besitzt, muss zwangsläufig viel bestechen. Es kommt einer Naturalisierung gleich: Wo die Macht sich stabil etabliert hat, wird intensiver geschmiert und bestochen.
Besonders schwierig wird ein Aufspüren und eine Trennung von korrupten Verhalten, wenn es sich um importierte Projekte im Sozialbereich oder der Krankenversorgung handelt, bei denen die Geldgeber und Kontrollinstanzen im Ausland sitzen, ein anderes Schriftsystem haben und die aufgelisteten Rechnungen und Lohngelder zu prüfen oft nicht in der Lage sind, sodass sich die Kontrolleure von vorn herein mit Verlusten von 20% abfinden. Gerade in den neu importierten Aktivitäten einer psychotraumatischen Entlastung und Solidarität finden sich interessante Blüten: konkurrierende Organisationen tragen ihren Streit um lokale Dominanz oder konzeptionelle Vorherrschaft dadurch aus, dass die durch Geldzahlungen an praktizierende Ärzte der lokalen Umgebung den Zugang von neuen Patienten in ihre von ihnen betriebenen Einrichtungen fördern wollen. So freilich wird das traditionelle System auch von westlichen Helfern instrumentalisiert und am Leben erhalten.