Von Sepp Graessner

Traumapolitik ist ein weites Feld, weil in diesem zusammengesetzten Begriff sehr viel Inhalt schlummert, der erst durch Praxis und Interpretation Gestalt bekommen kann. Als Trauma wird hier eine körperliche oder psychosoziale Verletzung verstanden, deren schmerzliche Folgen nicht mit der Narbenbildung abgeschlossen sind. Die Narbe im Gewebe des Subjekts kann konstant an die Verursachung erinnern. Narben sind Stigmata, die ein Subjekt zum Objekt machen können. Dies setzt voraus, dass ein Subjekt sich zum Objekt machen lässt und den Objektstatus inkorporierend anerkennt, wie dies bei allen Disziplinierungen der Fall ist.

Ernst Weiß, der als Arzt in einem Weltkrieg I-Lazarett tätig war, erzählt in seinem pseudodokumentarischen Roman „Der Augenzeuge“, dass sich die Lazarette leerten, sowie der Krieg beendet war. Taube, Lahme und Zitterer verloren ihre Symptome in einem Maße, wie es keine ärztliche Behandlung hätte bewirken können. Eine Reihe dieser vormals schwer beschädigten Menschen engagierte sich im November 1918 und sicher auch nach 1933. Die Verdrängung von Traumata im Gaskrieg führte zu einer anästhetisierenden Panzerung mit Langzeitwirkung (Theweleit). An der Unbewusstmachung der Folgen von Kriegstraumata war auch die Politik beteiligt, einmal hilflos, einmal intentional. Inzwischen wird der Nationalsozialismus gar mit der mangelnden Verarbeitung der Traumata des Weltkriegs I in Verbindung gebracht. Fehlende Anerkennung des eigenen Traumas muss folglich eine deutsche Eigenschaft sein.

 Traumapolitik ist ohne das Gewand von Macht, Fürsorge und symbolischen Kapitalgewinnen nicht vorstellbar. Schwierig und teilweise spekulativ scheint die präzise Zuordnung dieser Gewänder zu den einzelnen Aspekten von Traumapolitik. Kleider sind nicht nur äußerlich, sie wirken auch auf das Innere.

 Die Dialektik von Traumapolitik liegt darin, dass Politik als Machtpolitik und Gewaltpraxis Traumata verursachen kann und umgekehrt die Politik sich der Traumata ihrer Bürger bemächtigt, wenn z.B. Geschichte von vergangenen Ereignissen in einen offiziellen Kanon der Bearbeitung und der Trauer, d.h. Affektpolitik, gerückt wird. Dazwischen existiert so etwas wie das Politiktrauma, das aus der Enttäuschung, vergeblichem Bemühen oder missverstandenen Handlungen von Politik und Politikern entsteht. Dieses Politiktrauma führt zu Rückzügen, sozialer Disqualifikation und Enthaltung. Davon soll hier nicht die Rede sein, obschon es sich um affektive Reaktionen auf konkrete Erlebnisse handelt, die von sozialen Effekten begleitet werden. Solche ausgelösten Affekte können Wut, Ohnmachtgefühle, Angst, Resignation und Depression sein. Diese Affekte und reaktiven Verhalten machen deutlich, dass die Unterscheidung zwischen Gewalttraumata (als Traumata aus lebensbedrohlichen Erlebnissen) und auf der anderen Seite alltäglichen Diskriminierungen aus dem politischen Bereich und interpersonaler Kommunikation nicht immer leicht zu ziehen ist und als allgemeine, subjektive Erfahrungen nicht ohne weiteres in den klinisch definierten Kanon aufgenommen gehören. Vielmehr sollten solche Erfahrungen im Rahmen sozialer Strategien gelindert werden.

Der heute erweiterte Traumabegriff hat bewirkt, dass die klinisch definierten, seelischen Spätfolgen von Gewalteinwirkung insofern unscharf sind, als sie bei sensibler Betrachtung in der Summe der Symptome auch nach Diskriminierungen, Enttäuschungen und kommunikativen Verletzungen in vergleichbarer Weise auftreten können, weil sie subjektiv den Wert und die Bedeutung eines Menschen in Frage stellen können. Eine Unterscheidung zwischen alltäglichen Verletzungen und extremen Traumata wäre folglich willkürlich, und diese Willkür hat einen Ursprung, möglicherweise einen oder mehrere  Zwecke. Die Epidemiologie zeigt, dass nur 15-60 % der von Gewalt Betroffenen unter Langzeitbeschädigungen leidet.

Jeder wird hier einhaken und behaupten, man könne die Folgen von Folter nicht mit einer Entlassung aus dem Amt oder mit einer öffentlichen Zurschaustellung von Politikerverfehlungen gleichsetzen. Das Erlebnis der absoluten Ohnmacht und die psychische Überwältigung seien in solchen Fällen nicht zu vergleichen. Die Überwältigung des individuellen Verarbeitungssystems von Schmerz, Erniedrigung, sozialer Lebensbedrohung sei einfach nicht gegeben, wenn man die Entlassung aus dem Amt, Mobbing oder Kränkungen mit Spätsymptomen und akuter Krisenreaktion nach akuten und unerwarteten Gewalterlebnissen in Verbindung bringt. Es sei notwendig, eine hierarchisch-kategorische Grenze in das subjektive Erleben zu ziehen. Das subjektive Erleben sei nach Lebensbedrohung durch Sofort- und Spätreaktion gekennzeichnet, während Zurücksetzungen, Rausschmiss oder Erniedrigungen im Alltag nicht zu Vernichtungsempfindungen mit nachfolgender Angst und Panik führten.

In beiden Fällen gibt es keinen objektiven Maßstab des Subjektiven, das sich aus individuellen Erlebnissen durch individuelle Verarbeitung, d.h. Prägungen, ergibt. Die graduelle Unterscheidbarkeit setzt eine willkürliche Festlegung voraus. Und sie wird im Allgemeinen damit begründet, dass z.B. ein Schizophreniekranker von einem Menschen unterschieden wird, der von paranoiden Verschwörungstheorien schwärmt oder auch schon mal Halluzinationen hatte oder dessen Über-Ich zwingenden Charakter angenommen hat, folglich einzelne Symptome nur passager aufwiese. Eine manifeste Symptomatik könne nicht zu denselben Wirkungen führen wie eine vereinzelte oder vorübergehende.

Das ist aber vermutlich bei den traumatischen Folgephänomenen nach Gewalterlebnissen doch auf andere Weise definiert. An ihnen ist ursächlich menschliches Verhalten (wenn wir von Naturkatastrophen absehen) für die Reaktion benennbar verantwortlich, und bei der Bildung wie auch Registrierung von Symptomen ist gleichfalls menschliche Reaktion im Spiel. Das psychosoziale Trauma nach willkürlicher Gewalt bringe eine klare Ursache-Wirkungs-Relation zum Vorschein, während Kränkungen in der alltäglichen Erfahrung höchstens einen Summationseffekt haben könnten, der das individuelle psychische Reaktionsmuster jedoch nicht komplett erschüttere. An beiden Kategorien ist das Gedächtnis beteiligt. Es führe stets auf den Verursacher zurück, wobei der Charakter der Bedrohung darüber bestimmt, ob das individuelle Reaktionssystem zusammenbricht oder als erhalten und hinnehmbar definiert wird. Eine hierarchisch-kategoriale Festlegung orientiere sich wesentlich an der Intensität des Angriffs, die darum auch in der Rechtsprechung anerkannt werde, eben weil das subjektive Erleben nicht zum Maßstab richterlicher Urteile gemacht werden könne. Die Abkopplung der Gewaltintensität von subjektiver Wahrnehmung hat schon etwas Willkürliches. Wer sein Leben einzubüßen droht, hat sich mit einer höheren Gewaltintensität zu befassen als ein durch wiederholte Herabwürdigungen Gekränkter. Das ist in den meisten Fällen richtig.

 Die Einführung der traumatischen Erfahrung und einer nachfolgenden Symptombildung in den psychiatrischen Wissenschaftsbereichen war folglich gezwungen, eine Trennlinie zu ziehen zwischen denen, die eine „Krankheit“ ausformten und denen, die ihre Affekte als normale und individuell beherrschbare hinnehmen sollten, weil die Erinnerungen sie nur kurzzeitig quälten, bevor sie in Vergessenheit fielen oder sich im Unbewussten absiedelten. Dieses Konzept der Differenzen will nicht befriedigen, vor allem, weil die Ätiologie des traumatischen Prozesses, das aufklärbare Zustandekommen klinisch relevanter Merkmale, noch gar nicht erfasst ist, gleitende Übergänge ausgeschlossen, Latenzen nicht bestimmbar sind und eben die einkreist und markiert werden, die in die Obhut der Kliniker gehören, während die übrigen, unterschwelligen Symptombildner zu kultureller Anpassungsarbeit verurteilt werden, wobei Triebverzicht in aggressive Akte zu verwandeln von den Konventionen und Gesetzen verboten ist.

 Traumapolitik äußert sich auf zahlreichen Ebenen: Zum einen in der Bildung von Diskursen und in der willkürlichen Festschreibung von normalen und krankhaften Reaktionen, von Früh- oder Spätstadien, ferner in Aus- und Weiterbildungssystemen (Expertenproduktion), in Forschungspolitik mit den Bemühungen, Klassifikation ins Subjektive zu tragen und Hypothesen zu bilden, die einer Theoriebildung dienen, ferner auch durch politische Instanzen, die Gerechtigkeit definieren und Ermessensspielräume einräumen. Zum anderen in der Herstellung eines hermeneutischen Schlüssels zu Biographien und zur Ausdeutung von Schicksalen. Nicht zu vergessen: Der Diskurs von der Richtungsbestimmung und -änderung des Lebens durch traumatische Erlebnisse hat auch durch seinen emotional erregenden und „infektiösen“ Charakter Einfluss genommen auf die Anerkennung mildernder Umstände in Strafverfahren oder bei der Anerkennung von Begehren im sozialen Bereich. Traumapolitik liegt ein Verständnis von Gerechtigkeit zugrunde, das sich von Willkür und Gewalt abwendet, zugleich in der vorläufigen Gültigkeit und Ambivalenz von Gesetzen und Vorschriften subjektive Traumata hervorzubringen vermag. Die Verbindung von Trauma und Menschenrechten auf generalisierte Unversehrtheit hat die Voraussetzungen für Universalität des Traumabegriffs hergestellt und sich damit in eine Debatte um Sicherheit und Sicherheitsbedürfnisse verwickelt, die zwischen Friedfertigkeit und Aggression hin und herschwankt. Aber nicht nur dadurch hat Traumapolitik seine ambivalente Bedeutung enthüllt. Traumata wurden, wenn sie Gruppen definierten, zur Folie kollektiver Trauer und eines kollektiven Gedenkens (z.B. Mystifizierung des „unbekannten Soldaten“) und vermittelten so eine tiefere Innigkeit der Gefühle, wenn sie als gemeinsame erlebt werden konnten. Emotionen sind zwar höchst unsichtbar, persönlich und subjektiv, aber sie färben Handlungen wie Trauer und Schmerz.

Zum extremen Trauma gehört auch die Möglichkeit, sein Wirken und seine Existenz in der individuellen wie auch kollektiven Biographie erst nach Jahrzehnten der Verdrängung, des Verschweigens und einer symptomarmen Latenz wieder zu entdecken (z.B. Bombardierung Dresdens, Vergewaltigung von Frauen durch sowjetische Soldaten, Schicksal der „Wilhelm Gustloff“)). Und in eine neue historische Betrachtung einzugemeinden. Existenz und Mechanismus des Traumas haben sich in den vergangenen dreißig Jahren als sehr reagibel gezeigt. Spezifische Erlebnisse der Elterngeneration fanden sich in deren Kindern in Form von eingeschränkter Weltbetrachtung und spezieller Symptombildung. Der Umgang mit Familientabus hatte und hat eine herausragende Bedeutung für die seelische Entwicklung von Kindern, wenn sie von einem traumatischen Hintergrund beeinflusst wurden.

Traumapolitik hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten (bei Überlebenden des Massenmordes an Juden schon deutlich länger) vor allem den Opfern von Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen zugewandt, die sich zu einem Leiden bekannten. Die Versuche, Leid zu verstehen und zu lindern, haben sich daher forschend nicht hinreichend den Menschen gewidmet, die nicht litten, obwohl sie dieselben Erlebnisse hatten, die noch nicht litten oder Verarbeitungspotenzen aufwiesen, die man landläufig Opfern abspricht. Der Begriff des Opfers ist sehr eng mit dem des Gewalttraumas verknüpft und bildet ein Dreieck mit dem Begriff der Schuld. Vermutlich ist dies in allen monotheistischen Religionskreisen der Fall. (Ob man in Kulturen, deren Sprache nicht einmal ein Passiv kennt, von Opfern sprechen kann, muss bezweifelt werden. Im Chinesischen oder Japanischen scheint es kein Äquivalent für Opfer zu geben. Im Deutschen gibt es für die aktive (Selbst)Opferung und das passive Opfer nur ein Wort, woraus Bedeutungsaufladungen resultieren, die nicht immer eindeutig sind: Man bringt Opfer, man ist Opfer.) Es bestehen zahlreiche Schnittpunkte zwischen Opfer und Trauma. Traumapolitik sieht sich, so scheint es, in der Rhetorik gezwungen, „unschuldige Opfer“ von jenen zu trennen, denen Schuldanteile zugesprochen werden oder die Schuldempfindungen äußern. Zudem kann im sprachlichen Alltag ein Mensch Opfer eines Missbrauchs von Macht, nicht aber Opfer einer Kränkung werden. In die Beziehung von Trauma und Opfer sind weitere Differenzierungen eingezogen, die uns hier nicht beschäftigen sollen. (Dazu weiter hinten einige Überlegungen zum Opferbegriff in der Viktimologie.)

Traumapolitik definiert im Nahbereich von menschlicher Kommunikation Effekte, die sich einer willkürlich angemaßten Macht verdanken. Davon zu unterscheiden sind traumatische Fernwirkungen, die als Kolonialismus, Imperialismus oder Krieg (Luftkrieg) charakterisiert sind, weil sie sich in Verletzungen der kulturellen Identitäten und der Lebensbedingungen äußern. Körperliche Folter z.B. erzeugt einen Nahbereich, der in der jüngeren Vergangenheit immer mehr zugunsten einer die Psyche beeinflussenden, sensorisch wahrgenommenen Folter, die eher als Trauma induzierende Fernwirkung (Lärm und Licht als Angriffe auf den biologischen Rhythmus) praktiziert wird, verlassen wird und durch Bildergewalt, die gesellschaftliche Schamgrenzen verletzt, als  quasi gesteigerte Fernwirkung ersetzt wird, wodurch sich die Effekte der Folter zu einer sozialen Existenzverletzung verdichten.

Traumapolitik ist jene uneindeutige Disziplin, die in unterschiedlichen Lehrstühlen angesiedelt ist, und die im öffentlichen Raum mit Angst spielt, Angst verursacht, die Schwellen von Angsterregung verschiebt, Angst projiziert und diffamiert und dann eine individuelle Behandlung empfiehlt. In diesem Sektor ist Traumapolitik das Resultat einer grandiosen Manipulation, einer Politik der Affekte. Ihre Praxis ist uralt. Sie hatte immer und überall die Funktion, Grenzen zu ziehen, Grenzen zu denen draußen, für die bestimmte Affekte nicht aufgebracht werden sollen, während sie innerhalb der Grenzen verströmt werden dürfen, ja müssen. Dazu wurden in der Vergangenheit alle denkbaren ideologischen Geschütze in Stellung gebracht, bis wir heute feststellen, dass in der Biologie und Genetik determiniertes Fremdes von determiniertem Eigenem unterscheidbar ist. (Welt)Gesellschaftliche Faktoren können damit zu den Akten gelegt werden. Freiheit und Autonomie sind entleert, dazu der freie Wille, alles Begriffe, die aus anderen als biologischen Gründen in Frage gestellt gehören.

Traumapolitik braucht Medien und Multiplikatoren. In der Süddeutschen Zeitung konnten wir vor einigen Jahren lesen: „ Ganz Holland ist nach dem Mord an Theo van Gogh traumatisiert.“ Das Fernsehen hat das individuelle und das kollektive Trauma als Stimulans für eine Politik und Steuerung der Affekte entdeckt. Bis in die täglichen Talk-Shows hinein breiten beschädigte Menschen ihre Verletzungen aus. Das Privateste drängt in die Öffentlichkeit. Auf eine zuweilen berührende Art fordert diese Form der Exposition eine gesellschaftliche Anteilnahme und Anerkennung gesellschaftlicher Verantwortung. Solche emotionale Beteiligung ist fraglos auch aus Bildern zu erzielen, ohne dass Menschen ihre persönliche Geschichte erzählen. Wer die einstürzenden Twin-Towers in New York fünfzig Mal gesehen hat, gelangt zu einem von seinen Emotionen geleiteten Urteil, das Angstgefühle zur Folge hat, zur Übertragung des Fernen in die persönliche Welt verleitet und sich vernünftigen Analysen verschließt. Wenn der Verstand einsetzt, hat (wie bei Hase und Igel) das Gefühl längst entschieden. Die Leichenberge, die ein durchgezappter Fernsehabend sichtbar macht, müssen aber immer die Abstumpfung beim Zuschauer kalkulieren. Aber offenbar geht es hier nicht um ein vernünftiges Verhältnis zur Realität, sondern um Manipulationen von Angst- und Bedrohungsszenarien.

Ganz anders liegt der Fall in der Literatur. Sie kann Biographien konstruieren oder rekonstruieren, Leben in Fragmenten zeigen und den Bruchlinien nachgehen, die zu Verwerfungen geführt haben. Die Kontingenz der Fiktion nistet sich dadurch als Interpretationsmuster in der Realität ein. Ist ein Schicksal real oder wird es durch die Schilderung zur Realität? Die Literatur kann, was z.B. Naturwissenschaften nicht können dürfen: Sie ist zur Mystifizierung in der Lage, indem sie um Erlebnisse von subjektiv erfahrener Gewalt einen Kordon des Unerklärlichen, des Unsagbaren spinnt. Wenn die Literatur jedoch darauf besteht, das Mysterium Trauma, wenn es als Massenmord erscheint, sei Behandlungsstrategien nicht zugänglich, weil es unverstehbar sei, dann wird Politik als gesellschaftliche Orientierung herausgefordert. In jüngster Vergangenheit haben wir in der Literatur zahlreiche Beispiele registriert, die durch die Verlagerung kollektiver wie individueller Traumata ins dauerhaft Unerklärliche der Möglichkeit einer therapeutischen Bearbeitung widersprochen haben, weil sie dem Unerklärlichen eine Urerfahrung und Urerinnerung mit essentieller Bedeutung zugeschrieben haben. Erinnerung sei, mit Nietzsche, nur im Schmerz möglich. Schmerz sei die wesentliche Empfindung für Mnemotechnik.

 So wurde Trauma nicht nur zu einem wissenschaftlichen Paradigma in der Definition Thomas Kuhns, sondern zudem begleitet von einer gesellschaftlichen Praxis, die ihrerseits den Gebrauch und Nutzen dieses Grundlagenbegriffs und seines Inhaltes konstant erweiterte und sich überhaupt erst für eine wissenschaftliche Expansion öffnete, die vor allem an Alltagserfahrungen anknüpfte und heute die Hirnforschung, diese rastlose Sonde zum Subjektiven, animierte und mit Forschungsmitteln ausstattete. Das (erneute) Auftauchen eines Paradigmas löst die Frage aus, welche Bedeutungen und Erkenntnisse durch den aktuellen Traumabegriff ersetzt bzw. erweitert wurden. Hier soll nicht die Geschichte des Traumabegriffs (als Psychotrauma) abgehandelt werden. Er hat etliche Verwandlungen durchgemacht, wurde vergessen, reaktiviert. Der politisch geformte Zeitgeist des Ersten und Zweiten Weltkrieges konnte eine Verbindung von Angst und Soldaten noch nicht ertragen. Dadurch erhielt Trauma eine marginale Rolle, außer in Fachkreisen. Die sehr präzisen Beobachtungen, vor allem von Psychoanalytikern in der Zeit des Ersten Weltkriegs, erschienen nicht anknüpfungsfähig und sollten sicher bewusst nicht die Verbindung von Massensterben, Sinnfragen und Ansprüchen Überlebender nach Kompensation herausfordern. Die Begehrensneurose war denn auch in den 1920er Jahren ein beherrschendes Thema in psychiatrischen Publikationen. Wer sich in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg nicht traumatisiert fühlte, war sicher krank. Trauma als Massenphänomen führte bei Experten zu Abwehrreflexen, die weiterhin in Deutschland in „konstitutionellen“ Schwächen die Ursache für Traumasymptome sahen.

Das änderte sich schlagartig durch die Betrachtung von Vietnam-Veteranen, deren Funktionsausfälle und schmerzliches Unbehagen zu neuen Deutungen veranlasste, die in Verbindung mit gesellschaftlicher Ablehnung der zurückkehrenden Soldaten und des Verlustes eines Siegerimages nach intensiv geführten wissenschaftlichen Gefechten in klinische Kategorien verlagert wurden: In psychiatrischer Obhut konnte man nun anerkennen: das Holz der Helden ist morsch und verfault. Zur Heldenproduktion braucht es neue Strategien und die Pharmaindustrie. Einer der entscheidenden Impulse für die Klinifizierung traumatischer Erlebnisse kam aus dem Militär. Hatte nicht ein amerikanischer General und Chef der Psychoanalytischen Vereinigung als das dringlichste Problem der Psychiatrie die rasche Wiederherstellung der Kampffähigkeit von Soldaten nach traumatischen Einschlägen bezeichnet?! Noch unaufgeklärt ist der in den USA geführte Kampf der Institutionen, Instanzen, Versicherungskonzerne und Lobbyisten um die Etablierung einer psychiatrischen Diagnose im DSM, die traumatische Erfahrungen in vielen Details aufgriff und nicht wie zuvor allein als Anpassungsstörung definierte. Erst mit einer Diagnose wurde das generalisierte Trauma zur Realität.

Die Durchschlagskraft des heute verwendeten Begriffs muss jedoch verblüffen. Während die einen darin einen angemessenen Reflex auf schmerzvolle Erlebnisse von Menschen unter Gewalt erkennen, der nunmehr wissenschaftlich und empirisch legitimiert werde, stellten andere den Gebrauch der traumaspezifischen Klassifikationen in Frage mit dem Argument, man habe im Verständnis von Angststörungen und Depression bereits ein System, das Verstehen und Therapie erlaube. Daher stelle sich die Frage, was mit dieser neuartigen Stigmatisierung erreicht werden solle. Die neue Nosologie enthalte keine neuen Erkenntnisse über den Stand von Freud, Ferenczi, Janet und später Kardiner hinaus. Was heute ausgeschenkt würde, sei alter Wein in neuen Schläuchen. Dass aber diese Diagnose der posttraumatischen Störungen sehr rasch von Soldaten auf zivile Personen übertragen wurde, verdankt der Zeitgeist einer amerikanischen und dann internationalen Frauenbewegung, die mit Macht eine neue Betrachtung vom Gewaltopfer Frau verlangte und Reparationen und therapeutische Interventionen einforderte. Gewaltpraxis, egal aus welchem Anlass und Motiv, verursache nicht nur körperliche Schäden, sondern in nachhaltiger Form auch psychische Verletzungen, zudem seien soziale Wirkungen von Gewalterlebnissen zu berücksichtigen.

So kam es, dass in der allgemeinen gesellschaftlichen Wahrnehmung (nicht nur von Fachmenschen) jede Beziehung unter Menschen potenziell traumatisch werden konnte, unabhängig davon, ob wir von Krieg, Ehe, Schule, Fabrik usw. sprechen. Entscheidend erscheint, dass die jeweiligen Machtverhältnisse als Triebkraft und motivierende Praxis verschleiert werden können, indem sie im therapeutischen Prozess zwar benannt, aber zumeist als unveränderlich und quasi naturgesetzlich akzeptiert werden.

Wir können also zur Einsicht kommen, dass das Paradigma Trauma kaum neue Erkenntnisse eröffnete, gleichwohl als durchschlagende Praxis funktioniert, die als schwammartiges Gebilde alle Lebensbereiche durchdrungen hat. Damit hat Trauma als klinische Kategorie eine gewisse Beliebigkeit erreicht und seine Spezifität eingebüßt. Seit sich die Naturwissenschaften des Begriffs und seines Entstehensmechanismus bemächtigt haben und diplomierte Gaukler mit Neuro-enhancement winken, scheinen sich Lösungen aus dem sozialen Bereich zu erübrigen. Die Forschung für und die Suche nach der Pille fürs Vergessen lässt gesellschaftlich elaborierte Ansätze zur Traumavermeidung und Traumaverarbeitung in den Hintergrund treten.

 Alle diese formelhaft behandelten Aspekte öffnen sich nicht für Überlegungen zur Prävention von Trauma. Sie stellen nicht die Voraussetzungen her für eine Überwindung des Traumata produzierenden Gewaltphänomens. Sie anerkennen (rhetorisch formulieren sie oft das Gegenteil) phänomenologisch die Existenz von unabänderlichen Traumata durch gesellschaftlich produzierte Gewalt und Willkür.

Und doch stellt die Rede vom Trauma und seiner Allgegenwart eine Chance dar.

Nun könnte die Anerkennung und Selbstzuschreibung von eigener Verletzbarkeit und einem Leiden an den Folgen in einem durch soziale Mechanismen (Einüben) und Erkenntnisprozesse geformten Leben zu der Einsicht in die Verletzlichkeit der anderen führen und in Verbindung mit der überlebenswichtigen Angewiesenheit auf andere (Judith Butler) dafür sorgen, den anderen nicht zu traumatisieren. Dazu bedürfte es einer Politik und Einübung von Empathie im Nahbereich und Fernbereich. Allein – kein politisches Programm weist in eine solche Richtung, wenn man von Obamas Versuchen absieht, die latente Bedrohung und unterschwellige Angstproduktion durch Atomwaffen zu verringern. Im Gegenteil – statt einer am Traumabegriff orientierten Sensibilisierung für die Bedürfnisse anderer wird derzeit ein Egoismus favorisiert und eine allgemeine  Verantwortung für andere in eine Selbstverantwortung verwandelt. Wohl gibt es präventive Überlegungen zu einzelnen Tätergruppen, am Fortbestehen einer naturgesetzlich ablaufenden Traumaproduktion kommt kein Zweifel auf, nicht, weil es geschäftsschädigend für die gesundheitlichen Reparaturbetriebe wäre, sondern weil die dahinter stehende Systemfrage von der Politik nicht gestellt wird: Wie ist der Mensch beschaffen, was ist determiniert und was lässt sich durch soziale Kommunikation, die soziale Bedingungen des Überlebens und Selbstschutzes berücksichtigt, beeinflussen? Können Menschen, die durch eigene Traumata geprägt wurden, überhaupt die Systemfrage stellen, ohne auf ihre spezifischen Mechanismen zur Abwehr traumatischer Erlebnisse (Verdrängung, Vermeidung, Projektion) verwiesen zu sein?

 Die Rehabilitation einer Verletzung individueller menschlicher Würde ist das Ziel und der Weg jeder sinnvollen therapeutischen Handlung. In diesem Bereich herrscht in unserer Zeit Hochkonjunktur, eine Konkurrenz ohnegleichen. Der Kampf im Feld der wirksamen Therapieansätze um hegemoniale Positionen lässt zuweilen hilfsbereites Personal in alle Winkel der Erde einfallen, wo Menschen, die von überwältigender Gewalt betroffen wurden, oftmals von der Universalität von Trauma und seinen Heilansätzen erst überzeugt werden müssen. Dort, wo Politik Traumata begünstigt, steigert und verursacht, wissen die Betroffenen oftmals sehr viel besser, was ihnen hilft, obwohl sicher die Erfahrung internationaler Empathie ein Element zur Überwindung von Krisen darstellt. Da aber zugleich Behandlungen angeboten werden, die Folgen von Gewalttraumata im Individuum und nicht in der sozialen Realität festmachen, geraten die politischen Ursachen und Verursacher leicht aus dem Blick und führen somit zur Ablehnung gut gemeinter Angebote. Das Prinzip verläuft nach den Gesetzen des Chemieunfalls: Man müsse sich um die Verletzten kümmern, das sei ein Auftrag der Mitmenschlichkeit. In akuten Krisen ist im Allgemeinen auch gar keine Zeit, sich auf ein gemeinsames Verständnis des Geschehenen zu einigen. Oft wird der Versuch, einer verletzten Seele zu Hilfe zu eilen, eben doch nur als Zugriff nach der Seele verstanden, und dies mittels Experten zu erreichen ist ein zutiefst westliches Herrschaftsprinzip.

 Eine Nähe von Traumapolitik zu Biopolitik herzustellen, fällt derzeit noch reichlich schwer. Biopolitik ist in einem Zusammenhang mit Klassifikationen, Einhegungen und Ausgrenzungen zu verstehen. Indem Trauma mit dem Komplex von Menschenrechten in Beziehung gestellt wird und universelle Ansprüche vertritt, sind derzeit noch keine Strategien der Ausgrenzung oder differenzierender Praxis zu erkennen. Vielmehr weist die allgemeine Ausdehnung des Traumabegriffs auf eine Ununterscheidbarkeit von traumatischen Einflüssen auf Lebensschicksale hin.

Einer der frühesten Bereiche, in denen Traumadiagnostik und -therapie im neuen Sinne praktiziert wurde, war die Beschäftigung mit traumatisierten Flüchtlingen aus aller Welt in spezialisierten Einrichtungen. Sie erfolgte durchwegs aus wohlmeinenden, zuweilen aus unreflektierten Motiven. Diese Tätigkeit, d.h. die begründete Feststellung von Traumata bei Flüchtlingen, hat Verbindungslinien zur Rechtsprechung, freilich auch Gerangel, ermöglicht. Gleichwohl war das Feld der Klienten (Objekte) zu einem Übungsfeld für Expertinnen geworden, in denen Erfahrungen gesammelt wurden. Und dieser Prozess der steigenden Erfahrung wurde in politisch verstandene Aktivitäten mit moralisch unterbauten Argumenten verwandelt. Es war jedoch eine besonders rechtsarme Klientel mit reduziertem Sozialprestige, vielfach mit Kulturschock und isoliert, von denen gelernt wurde. Diese Klientel war der machtvollen Position von Therapeuten oftmals ausgeliefert, weil sie Therapie akzeptieren musste, um ein Existenzrecht zu erhalten. Es ging um eine Art Tauschgeschäft. Flüchtlinge haben vor allem, so meine Beobachtung, von der gesellschaftlichen Integration profitiert, die in den Gesprächen und in den strukturellen Hintergründen von Bedeutungen, ungeschriebenen Gesetzen und Praktiken zum Ausdruck kam. Zahlreiche Traumazentren in Deutschland sind nach den ersten Gehversuchen der Flüchtlingstherapeuten entstanden. Schon lange zuvor war für Überlebende des nazistischen Holocaust die klinische Version von Trauma vorbehalten und in speziellen Forschungen erläutert worden. Im Erscheinen traumatisierter fremder Asylsuchender wurden Reflexe auf Schuldfragen zum Holocaust der Nazis und zu natürlichen Hilfsimpulsen erkennbar. Die deutsche Geschichte, die von biopolitischen Motiven und Morden durchzogen ist, ist immer wieder ein bestimmender Rahmen für Motive und Handlungen in der Gegenwart. Mit Biopolitik, wie ich sie verstehe, hat Traumapolitik eher wenig zu tun.

 Keine Randerscheinung der Traumapolitik ist die sich selbst erweiternde Ökonomisierung seelischer Verletzungen durch Institute und Experten. Die so genannte Traumaindustrie erreicht einen Konjunkturgipfel. Sie beschäftigt viele Menschen und erreicht hohe Umsätze. Das traumatische Erlebnis nimmt den Charakter einer Ware an, wenn es in Workshops, Aus- und Weiterbildung unter den Zwang zur Zertifizierung gebracht wird und damit Geld kostet. Der Warencharakter des traumatischen Erlebnisses verkleidet sich dadurch, dass er verwandelt als Vermittlung von neuem Wissen erscheint, durch zahlreiche kostenträchtige Supervisionen eine Kontrollinstanz in den therapeutischen Prozess einbaut, über die Dauer des Integrations- und Entlastungsvorgangs entscheidet und Ratgeber aller Art anbietet. Nicht zuletzt eröffnen die Selbstschutzmaßnahmen für Helfer gegen sekundäre Verletzungen neue Tätigkeitsgebiete für Experten und Expertinnen. Solche kritischen Bemerkungen sind natürlich alte Hüte, das Anwachsen der Angebote und der zertifizierten Experten verweist jedoch nicht nur einen existierende steigenden Bedarf, sondern das Angebot bringt ein Bedürfnis nach Anerkennung und Heilung seelischer Beschädigungen durch Experten hervor, so wie neuer Straßenbau nicht nur Staus vermeidet, sondern neue Formen der Straßenverstopfung initiiert.

 Jede Skepsis gegenüber diesen Tendenzen setzt sich dem Vorwurf einer mangelnden Sensibilität und Herzlosigkeit aus. Man könnte den Eindruck gewinnen, hier werde an einer wohlmeinenden Disziplin stellvertretend ein Vatermord ausgeführt. Nach meiner wandelbaren Auffassung würde der Ton meiner allgemeinen Kritik gelinder ausfallen, wenn die klinische Disziplin sich für die Diskurse öffnen würde, die in Nachbardisziplinen geführt werden, wenn mit Kritikern aus Ethnologie, Anthropologie und aus den Sozialwissenschaften nicht so ignorant umgegangen würde, wenn die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung akribisch und nicht so inflationär vergeben würde. Sicher wäre mein Urteil auch gelassener ausgefallen, wenn die populären Publikationen über Traumafolgen im naturwissenschaftlichen Sektor (z.B. bildgebende Verfahren) nicht für der Weisheit letzter Schluss gehalten und die Vorläufigkeit der Ergebnisse bescheidener kommentiert würden. Mit einem Wort, wenn die gesellschaftliche Verantwortung bei der Produktion von Traumata ernst genommen würde. Immerhin geht es um nichts Geringeres als um die menschliche „Seele“, weshalb die Kämpfe zwischen Religionen und säkularen Wissenschaften jeweils hegemonialen Anspruch vertreten. Hierin ist ein tiefer Kern der Traumapolitik enthalten. Vor diesem Hintergrund erscheinen solche Phänomene wie die Ausdehnung von Tätigkeitsfeldern für Experten marginal.

Ich persönlich wurde durch Slogans der Nazis sensibilisiert, die den „Kampf um die Seele des deutschen Arbeiters“ propagierten und damit Entmündigung durch eine Politik der Affekte und Selbstopferung für verbrecherische Politik meinten. Bislang waren Desensibilisierungen bei mir erfolglos.