von Sepp Graessner

Trauma hat nicht nur allgemeine Konjunktur, es wird durch unterschiedliche Disziplinen in eine Zerreißprobe zwischen klinischen und kulturwissenschaftlichen Betrachtungen geführt. Während euroamerikanische Kliniker sich einem spezifischen Gewaltakt und dessen Folgen, wie sie meinen, empathisch, therapeutisch und methodisch zuwenden und zum Verstehen ein Narrativ vom traumatischen Ereignis entstehen lassen helfen, gilt einigen Kulturwissenschaftler/innen das extreme Trauma nur dann als solches, wenn es nicht verstehbar, einzuordnen und verarbeitbar sei.[1] Darin zeigt sich die Sonderstellung, z.B. der Literatur, dass sie von der Realität abweichende Geschichten und Personen konstruieren kann. Es ist nicht leicht einzusehen, dass hier zur Klinik diametrale Gegensätze bestehen, denn auch Neurowissenschaftler und Kliniker definieren einen Bereich von traumatischen Wirkungen, der sich einer Erklärbarkeit entzieht[2]. Dabei wird von den Kulturwissenschaftler/innen gern entlastend auf Nietzsche Bezug genommen: nur, was nicht aufhöre, wehzutun, bleibe im Gedächtnis. Allein der Schmerz sei das wichtigste Hilfsmittel der Mnemotechnik. Um folglich ein unverfälschtes Erinnern zu ermöglichen, sei der Schmerz nicht einer lindernden Behandlung zu unterziehen. Jan Assmann: „Nur der sinnlose Schmerz kann traumatisieren.“[3]  Natürlich wissen wir nicht, was den sinnlosen Schmerz als sinnlos auszeichnen soll, denn der Warn- und Signalcharakter des „sinnvollen“ Schmerzes kann auch vom „sinnlosen“ in Anspruch genommen werden. Dabei scheint es wohl in einem gesellschaftlich definierten Rahmen auf die Perspektive anzukommen, nicht zuletzt auf Macht, Herrschaft und systematisch aufgezogene Repression, die Gewinne daraus sowie fehlende Rechenschaftsinstanzen.

Trauma als generalisierte Verletzung wird in einem öffentlichen Dialog zwischen Assmann und Maciejewski in einem Spannungsfeld angesiedelt: Es geht um die zentrale Frage, ob die Möglichkeit kulturell induzierter psychischer Disposition für Trauma bestehe, die Assmann einräumt, oder ob Traumatisierung insgesamt als kulturell induziert betrachtet werden könne (Maciejewski). Wir halten uns für unfähig, in dieser Frage zu schlichten, weil für Kliniker das handfeste Leiden eines konkreten Menschen, das seine Sozialität behindert, im Vordergrund steht und derart abgehobene Überlegungen nur als Handlungsbarrieren verstanden werden können. Klinikern ist im Allgemeinen die Ästhetisierung des Traumas fremd.

Allerdings kann diese Auseinandersetzung als Reflex auf die von Jeffrey Alexander angestoßene Debatte um ein „Cultural Trauma“ angesehen werden. Alexander zeigt in seiner soziologisch inspirierten Studie, dass kollektive Traumata durch Akteure, die den Diskurs über Trauer und überwältigungsfähige Verletzungen bestimmen, gemacht, produziert werden, folglich in einem sozialen Kontext durch Zuschreibung entstehen und deshalb auch historischen Bedeutungswandlungen unterliegen können. Im Sinne von Konstruktivisten besteht ein Trauma erst, wenn ein Narrativ mit abrufbaren Affekten davon existiert. In vergleichbarer Weise sei Angst ein Laienkonstrukt, das sich erst durch das Narrativ (selbst) erkläre und zu einem Forschungsobjekt werden könne. Diese von Hallam (1985) in der Tradition von sozialen Konstruktivisten aufgestellte Theorie mit eindeutig kognitiven, untermauernden  Elementen besagt, dass Angst ursprünglich eine Metapher für eine bestimmte Konstellation und Kombination von Ereignissen ist, die ein Individuum erlebt. Diese Ereignisse können die Überzeugungen eines Patienten, seine sprachlichen Kompetenzen, seine Zwecke und mitschwingenden Identitätsprobleme einschließen. Sie sind aber nicht darauf begrenzt. Konstruktivisten fragen, was eine Person veranlasst, Angst zu berichten.

Hallam hebt hervor, "the most positive contribution a social constructivist position has to offer is to dissuade researchers from regarding these real life problems as reflecting an underlying emotion of anxiety or, even less helpful, an anxiety disorder" (Barlow: p. XIV).

Unbeachtet bleibt in dieser Theorie, dass Angst als zentrales Symptom nach Trauma in einem Menschen existiert, auch wenn sie nicht berichtet wird. Allerdings könnte man dann “von außen“ nicht darüber sprechen.

Das heißt für kollektive Traumata, die Schmerzlichkeit und Überwältigungsfähigkeit liegen nicht im Ereignis, sondern sie entstehen in der zeitgleichen oder späteren Produktion eines Diskurses oder einer Bewertung über die schädigenden Auswirkungen eines oder mehrerer Ereignisse. Das „cultural trauma“ sei folglich nur auf kollektive Erfahrungen von Willkür und Gewalt anwendbar, wobei nicht das traumatisierte Kollektiv sich definiert sondern diskursfähige Akteure, die auf eine fundamentale Verletzung des „Heiligen“ und einer zuvor bestehenden Identität[4] aufmerksam machen.

Immerhin können wir uns insofern auf die obige Kontroverse einlassen, als wir Zeichen beobachten, die Unbehagen erzeugen: „Ganz Holland ist seit dem Mord an Theo van Gogh traumatisiert.“ (Süddeutsche Zeitung) In verwandter Weise wird in zahllosen Medien die westliche Welt zu Geiseln von muslimischen Terroristen erklärt. Diffuse Angst, die dumm macht, nistet sich ganzen Gesellschaften ein und bestimmt das inflationäre Verständnis von Trauma. Traumaexperten fallen in Katastrophenregionen ein. Sie scheitern nicht selten. Es entsteht eine Industrie der Hilfsangebote und der Crash-Kurse. Traumaexperten haben Multiplikationsraten von Bakterien. Muss man für einen sensiblen Umgang mit psychosozial verletzten Menschen erst zum Experten werden? Solche Entwicklungen in der täglichen, politischen Praxis können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Überlegungen immer zu den Fragen drängen, was durch die Neuerfindung „des Traumas“ (als selbst erzeugte Humanität) in die Welt kam, welche Interessen sich mit der Benennung verbinden, welche Praxis mit universellen Ansprüchen (ein Katalog und viele standardisierte Fragebögen) daherkommt und wie ein soziokulturelles Wechselspiel von individuellen Erschütterungen und gesellschaftlichem Feedback „das Trauma“ in den klinischen Bereich gerückt hat. Man könnte den Kulturwissenschaftler/innen durchaus dankbar sein, dass sie den Klinikern das Feld des Traumabegriffs streitig machen, wenn sie sich nicht in einer quasi-religiösen Region verlieren würden.

Darauf hebt ein herrlich provozierender Artikel ab. Harald Weilnböck (Mittelweg 36) erfindet einen Kliniker (Dr. Gutherz), der sich mit seinen Bewertungen den Autoren von Fiktionen entgegenstellt, und er unterstellt in seinem Essay Autoren wie Weinberg, Caruth, Roth oder Braese, sie würden durch die Idealisierung und Ontologisierung des Traumas in der Tiefe des  Traumas, das keiner Therapie zugänglich gemacht werden sollte, eine Essenz und Wahrheit der menschlichen Existenz behaupten. Das menschliche Leben sei nach Weilnböcks Verständnis der Autoren, zu denen sich noch G.W. Sebald gesellt, von der Unverstehbarkeit eines apriorischen Traumas geprägt. Nur in seiner spezifischen Reinheit und Unversehrtheit könne das Trauma einen singulären Zugang zur Wahrheit gewährleisten.

Eine solche sich gedankentief gebende Sichtweise hat, wie Weilnböck argwöhnt, ihre verborgenen und unreflektierten Wurzeln in aggressiven Stimmungen und Übertragungen der Autoren. Wenn die Wahrheit allein in der Reinheit des Traumas gesucht wird, wozu die Verweigerung eines selbsttherapeutischen Narrativs gehört, dann finden sich bei mir Assoziationen zu einer unbenennbaren Wahrheit, die als Schmerz im Folterakt oder Gottesurteil aufgespürt werden soll. Aber dagegen argumentieren Kliniker mit schrecklich konkreten, gedemütigten Patienten. Den oben genannten Autoren unterstellt Weilnböck wohl zu Recht, dass sie sich für den therapeutischen Akt des Erinnerns nicht interessieren.

Wir interessieren uns sehr wohl dafür, wenngleich wir nur mit Mühe und Widerwillen von „Therapie“ sprechen würden, weil wir die z.B. wiederholter Folterung folgende Symptomatik eher den sozialpsychologischen Dimensionen ihrer Entstehung als einer individuellen Psychopathologie zuordnen möchten. Wir stimmen mit Rabelhofer (2006, S. 266) überein, die sagte, die Psychoanalyse der frühen Jahre habe durch ihren Einsatz gegen Kriegsneurotiker dazu beigetragen, dass „äußere Gewaltereignisse in (...) innere Konflikte transformiert“ wurden. Auch wir verstehen erniedrigende Gewaltakte sowohl als Beziehungsproblematik als auch als gesellschaftliche Übergriffe gegen die Sozialität der Patienten. Letztlich steht hinter Rabelhofers Einschätzung die Tatsache, dass alle Dinge, lebendige und unlebendige, die Fähigkeit haben, auf unser Inneres zu wirken und Spuren zu hinterlassen.

Hinter Weilnböcks berechtigter Polemik steht ein Widerwillen gegen Pathos, das einer „Aufklärung“ immer  im Wege stand. Ferner das Unbehagen gegenüber Literaturwissenschaftlern, die Proust oder Kafka nur als Beispiele für die schöpferische Kraft eines Traumas sehen können, das, wenn es therapiert worden wäre, niemals das Werk hätte hervorbringen können. Daher die pathetische Überhöhung des Traumas, die man sonst nur in der unseligen Debatte um Genies findet. Man muss freilich einräumen, dass auch Psychotherapeuten nicht gegen den Gebrauch von sumpfigem Pathos immun sind.

Wenn Kulturwissenschaftler von Trauma sprechen, tun sie dies in generalisierter Weise: als Kränkung, Demütigung, Erniedrigung, Verletzung, Narbe. Diese Formen sind ebenso unentwirrbar mit der Entwicklung eines Selbst verbunden wie Selbst und Moral. Sie haben jedoch wenig gemein mit jenen lebensbedrohlichen Erlebnissen, mit Erfahrungen von absoluter Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit, die wir als extremes Trauma klassifizieren und denen wir ein nachhaltiges Potenzial für Symptomausbildungen und somatische Koreaktionen zuschreiben.

Wenn man freilich den unbeholfenen Katalog posttraumatischer Symptome betrachtet, wird man einräumen müssen, dass alle dort ausgeführten Symptome bis hin zu Derealisationen und Persönlichkeitsstörungen auch die Folge nicht extremer Traumata sein können. Der Katalog muss dann unweigerlich zu einer Nivellierung der Trauma auslösenden Gewalttaten führen, die durch andere Menschen vorsätzlich, grausam oder aus niederen Beweggründen herbeigeführt wurden. Nivellierung und damit Relativierung dieser Gewaltformen münden somit in eine Akzeptanz „natürlicher“ Gewalt und stellen das Gegenteil von Verstehen und Unterdrücken der Gewaltspirale dar.

Das Trauma allgemein und fern von Empirie geistig zu durchdringen, weigert sich das Verständnis eines Therapeuten, der Trauma als extremes Trauma nur in konkreter Beziehung mit einem verletzten Menschen beurteilen kann und dafür seine Empathie, sein Mitleiden als Sonde einsetzt Erst die Gegengabe der Empathie kann .kann die Gabe, die im Erzählen des spezifischen Traumas liegt, aufwiegen.

 

Die Vielfalt der Diskurse, die sich mit dem Trauma von Menschen befassen, belegt, dass es nahezu unmöglich erscheint, eine eindeutige und verbindliche Definition zu geben. Mit einem so unsicheren Begriff wie Trauma kann man eigentliche keine Wissenschaft betreiben. Sie belegt ferner, dass, um mit Bourdieu zu sprechen, ein Kampf im wissenschaftlichen Feld um die Definitionshoheit entbrannt ist. Das ist verständlich, weil sich um das Thema Trauma psychologische, literaturwissenschaftliche, soziologische, neurophysiologische u.a. Disziplinen das Feld streitig machen und hegemoniale Ansprüche erheben. Keine dieser vielfältigen Disziplinen kann auf Seitenblicke (und Seitenhiebe) auf die Konkurrenz verzichten. Leider zeichnet sich die Konkurrenz oft dadurch aus, dass auf reflexive Durchleuchtung der eigenen Position und Rolle verzichtet wird. Eine Synopse ist nicht in Sicht. Die Praxis von Therapeuten wird von diesem Definitionsstreit insofern beeinflusst, als sie sich in eklektischer und flexibler Weise die jeweilig passende Argumentation aus der Vielfalt herausgreifen können. Es wäre aber falsch zu sagen, die Therapeuten seien Opfer dieser Kämpfe um Definitionshoheit. Sie sind nämlich selbst die Akteure, die mit einem bestimmten Habitus von diesen Kämpfen profitieren. Eine soziologische Betrachtung der Akteure erscheint erforderlich und sinnvoll. Was motiviert sie? Was sind die Ermöglichungsbedingungen von so genannter Traumatherapie? Welche Gewinne symbolischen Kapitals sind hier zu erzielen? Wie treten Frauen, die mehrheitlich die Praxis vertreten und gestalten, mit ihrem enorm gestiegenen Bildungsniveau in der Theoriebildung in Erscheinung? Und so weiter und so fort!

 

 


[1] Jan Assmann (2008) Das Unbewusste in der Kultur, eine Antwort auf Franz Maciejewski. Psyche, 62. Jahrgang, H.3, März 2008. S. 256

[2] Cathy Caruth, Bessel van der Kolk & Rita Fisler

[3] ebda.

[4] Angela Kühner (2007) Kollektive Traumata. Gießen: Psychosozial-Verlag. S. 109.