Eine bohrende Frage hat sich gestellt: Benutzen Kurden als Einzelklienten, wenn sie ihre Erlebnisse von Verfolgung und Misshandlung berichten, das „Wir“, weil sie in ihrer primären, großfamiliären Sozialisation zu einem Denken und Fühlen im Wir erzogen wurden oder weil sie in einer politischen Organisation eine Wir-Identität (sekundäre Sozialisation) ausbildeten, d.h. Anteile ihres Ichs an ein Wir zu delegieren gezwungen waren, oder wollen sie mit dem Wir zum Ausdruck bringen, dass sie ihre Erlebnisse verallgemeinern können, da viele Menschen wie sie betroffen sind? Das lässt sich nicht ohne weiteres beantworten, da man nur die Auswirkungen eines möglicherweise kollektiven Denkens, Fühlens und Wünschens erfassen kann. Ursachen und Steuerungsmechanismen bleiben dunkel. Wie viel kurdische Identität (als Konstruktion und Reaktion) steckt in dem gebrauchten Wir? „Wir Kurden haben keine Freunde,“ lautet ein oft gehörter Satz. Zuerst glaubt ein Zuhörer, der Gebrauch des Wir sei ein Zeichen von Bescheidenheit, von Konventionen, mit denen ein Ich vor dem Wir zurücktritt. Vielleicht sind auch all diese Einflüsse im kurdisch verstandenen Wir enthalten.
Es gibt kein „Ich“ ohne „Wir.“ Indem wir sehr früh ein „Wir“ erfahren, wird uns zugleich deutlich, dass wir keine Wahl haben: Durch Sprache (1. Person Plural) und Erziehungspersonen erleben wir ein fremdes „Wir,“ das uns einbezieht. Wir bleiben dem primären „Wir“ verbunden, durch eingeübte Praktiken, Rituale, Symbole, Institutionen. Diese Einsicht ist auch in westlichen Gesellschaften angesiedelt. Der entscheidende Unterschied zur orientalischen Gesellschaft liegt in der Beobachtung, dass in westlichen Gesellschaften das Individuum danach trachtet, den Raum, die Kraft und den Rahmen des „Wir“ zu vermindern, indem es nach lösender „Autonomie“ strebt, während die Bindungskräfte des orientalischen „Wir“ weiterhin stark wirken, auch wenn der Einzelne erwachsen wird. Das Wir bleibt, auch in abgeschwächter Form, ein zentrales Motiv und Ziel von Handlungen. Solidarität richtet sich mit den stärksten Akzenten auf die primären Vermittler eines „Wir“, auf den Nahbereich. Ein Bestreben nach einer eher illusionären „Autonomie“ ist in orientalischen Gesellschaften vorstellbar. Sie findet aber ihre Grenzen vor den Ansprüchen des „Wir“ und kann nur durch Konflikte erkennbar und realisiert werden.
Jedes „Wir“ erweitert sich im Laufe jeden Lebens. Gruppenzugehörigkeiten, Spezialisierungen und sicher oftmals Zufälle öffnen die Perspektiven des „Wir.“ Die prägende Funktion eines ursprünglichen „Wir“ bahnt das Empfinden und Verhalten der Solidarität (Hilfe, Unterstützung, Schutz), das sich von den primären Erziehungspersonen auf neu hinzutretende sekundäre „Wir“ ausdehnt.
Zu den wirksamsten Bestandteilen eines „Wir“ gehört die zwangsläufige Übernahme der Religion des Vaters, die in einen untrennbaren Zusammenhang mit Moral gerückt wird. Indem die Religion ein sehr enges, abgrenzendes Korsett eines „Wir“ im Sinne einer Gemeinde oder Umma verordnet, sind Autonomiebestrebungen in einigen Richtungen beschränkt, da sie Verwerfungen mit dem realen oder imaginierten Vater (Autorität in einer Partei) und damit einem primären „Wir“ bedeuten würden. Zugleich würden auch Konflikte durch den absoluten Wahrheitsanspruch provoziert werden, den die Religionen in die Welt setzen und der es so vertrackt macht, Toleranz zu fordern, indem auch anderen Religionen ein Wahrheitsanspruch Gottes (der Götter) zugebilligt wird. Wie viele Wahrheiten kann ein „Wir“ aushalten, ohne seine konstitutiven Voraussetzungen einzubüßen? Es lässt sich vortrefflich darüber streiten, ob Religion ein selbständiges Disziplinierungsinstrument vor oder nach der Etablierung von Moral ist oder lediglich die Funktion des Vaters verstärkt.
„Wir“ ist kein absoluter Wert, wird es doch von der Bedürfnisstruktur des Einzelnen immer wieder in Frage gestellt. „Wir“ muss folglich im Verlauf des Lebens neu erfahren, bestätigt oder zuweilen angezweifelt werden. Da es keinen Gleichklang zwischen „Wir“ und „Ich“ gibt, kann niemand die Mühe vermeiden (z.B. durch Selbstdisziplinierung), ein „Wir“ stets neu zu bestimmen und sinnvoll zu erweitern.
Alle meine Beobachtungen in Kurdistan formen meine Überzeugung, die Furcht vor dem Verlust eines konstitutiven „Wir“ behindere Autonomiebestrebungen im Sinne des westlichen Individuums, weshalb ein Individuum westlicher kultureller Prägung in Kurdistan (außer in assimilierten Erscheinungen) nicht existiert. Dabei handelt es sich nicht nur um psychisch vermittelte Ängste vor dem Verlassenwerden sondern vor allem um die sozialen Komponenten eines Orientierung gewährenden „Wir.“
Man kann folglich sagen, dass das Bestreben nach und der Verzicht auf intensive „Autonomie“ des Individuums im Orient mit einem jeweils hohen Preis verbunden sind. Die Präferenz der sozialen Komponente eines „Wir“ muss zwangsläufig in allen Formen einer Psychotherapie berücksichtigt werden, wenn, wie wir glauben, kulturell geformte Normen die Orientierung in einer Behandlung von Traumata bestimmen.
In Kurdistan sprechen die Menschen in Berichten über persönliche Verfolgung von wir, wenn sie ich meinen. Sie erinnern damit daran, dass eine kurdische Identität Ressource ist, zugleich der Grund für Verfolgung. Sie geben ihrer Überzeugung und ihrem Erleben den Charakter eines Wir, um eine allgemeine Gültigkeit zu beanspruchen. Eine der gravierenden Strafen ist die Isolation in Haft, die komplette Beschneidung eines Wir im Ich, ich allein. Daraus resultiert, zumindest im Widerstand, die Forderung, Gefängnisse mit Isolationsformen zu vermeiden und zu bekämpfen und Hungerstreiks bis zur Selbstvernichtung zu führen. Der Tod des Sozialen im Wir ist auch der Tod von Ich, so die allgemeine Auffassung, die von langjährig Inhaftierten geäußert wird.
Wegen einer Prägung des Wir als Selbstverständnis des Einzelnen fällt es orthodoxen Organisationen, seien sie links, rechts oder religiös motiviert, immer wieder leicht, Mitglieder auch für hohe persönliche Risiken zu rekrutieren. Die Betonung kollektiver Ziele erhöht die Bereitschaft einer Unterstützung, wenn sie zugleich im Kollektiv erfahren wird. Dabei handelt es sich um Erfahrungen von Techniken, die auch der Faschismus nutzbar machte: Die Übereinstimmung von Wir und Ich und die unbewussten Verschmelzungsphantasien. „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ propagierten die Nazis und fanden bereitwilliges Gehör. Seither sollten die Alarmglocken schrillen, wenn ein absolutes Wir mit nationaler Identität in Verbindung gebracht werden. Selbst wenn dieses Wir sich als Übergangsform legitimiert, damit ein Befreiungs- oder Unabhängigkeitskampf voranschreiten solle, noch nie ist eine Bewegung von ihren Totalität beanspruchenden Forderungen des Wir aus dem Befreiungskampf zurückgetreten. Erst die Realität der Lebensbedingungen und gewalttätige Dressurakte haben später die Augen für diese Verschmelzungsphantasmen geöffnet, die an eine frühe biosoziale Erfahrung aller Menschen erinnern. Daher sollte ein therapeutischer oder besser: Unterstützungsprozess von z.B. kurdischen Verfolgten in Europa die ambivalenten Inhalte von Wir (Gewissheit eines definierten Wir und Unsicherheit, ob man wirklich dazugehört) thematisieren, für Gefährdungen eines Ichs durch das Wir sensibilisieren und Skepsis gegenüber orthodoxen Organisationen jeder Couleur bewahren. Die Freiheit von Menschen besteht darin, dass sie selbst entscheiden, von wem sie manipuliert werden wollen. Die Strafe für diese Freiheit sollte aber nicht zu hart ausfallen.