Juli 2007

Der Blick von außen - von Sepp Graessner

Ökonomische Prinzipien strukturieren neben anderen Wirkmechanismen[1] maßgeblich die Lebensbedingungen der kurdischen Bevölkerung in allen Regionen ihres Siedlungsgebiets. Zugleich bringen diese Bedingungen des Alltagslebens auch erst diese Prinzipien hervor. Sie sind ein wichtiger Teil des kulturellen Selbstverständnisses der Kurden. Sie stehen – das sollte nicht übersehen werden – in einer mehr oder weniger engen Verbindung zu den Voraussetzungen für die Verarbeitung von politischen Traumata. Armut, Verkauf der eigenen Arbeitskraft, Arbeitslosigkeit, Entwertung im ökonomischen Kreislauf, Verlust des Tausches, Not in den Familien, gehäufte Krankheiten durch Mangel sind für Traumatisierte beschwerende Rahmenbedingungen für die Integration von erlebter Gewalt und Ohnmacht. Wenn diese These richtig ist, lohnt sich eine, zugegeben oberflächliche, Analyse des Wandels in den Bedingungen des ökonomischen Alltagslebens. Damit soll im makrokosmischen Rahmen gezeigt werden, welche zersetzenden Einflüsse von der Orientierung im ökonomischen Wandel ausgehen können und wie diese Prozesse die kollektiven und individuellen Integrationsbemühungen historischer Traumata formen können:

 Die kapitalistische Produktionsform und Wirtschaftsweise wurde durch die Kolonialmächte eingeführt, die sich auf militärische Macht stützten.

  1. Diese Form der Ökonomie trifft auf eine vorkapitalistische Wirtschaftsweise, der Herstellung von Gütern, des Tausches und der wechselseitigen Verpflichtungen unter den Akteuren, die sich strukturell in die von den Kolonialmächten eingeführte Ökonomie hinüberzuretten bemüht (Nepotismus, Bestechung, Privilegierung in den Zugangsweisen zu Institutionen und zu ihren Trägern). Die neue Ökonomie erodiert nicht nur die vorkapitalistische Wirtschaftsweise sondern auch die damit verbundenen Lebensformen wie Status und Selbstverständnis der einzelnen Person, Kommunikationsmuster, Zeitschemata und erlernte Bindungskräfte der Familien.
  2. Mit der Einführung der kapitalistischen Wirtschaftweise gehen veränderte soziokulturelle Haltungen zur Welt und zu Zeitschemata einher, die als Bedingungen des Wandels zuvor nicht etabliert oder als fremd wahrgenommen waren.
  3. In diesem Wandel äußern sich Zwangs- und Gewaltformen, die von den Betroffenen nur mit Mühe oder ungenügend integriert werden können. Sie betreffen die Zusammensetzung der ländlichen Bevölkerung und dörflichen Lebensgemeinschaften ebenso wie das anti-koranische Zinswesen der Banken. Kredite wurden möglichst subsidiär aus dem großfamiliären Rahmen gewährt.
  4. Dem erzwungenen Wandel geht jede kulturelle Verwurzelung und freiwillige Zustimmung ab, wenn sie allmählich inkorporiert werden. Er ist von den Anfängen an eine feindliche oder irritierende Konstellation. Darin ist wohl auch ein Grund für das Interesse von Kurden an ( eher vulgär-)kommunistischen Lehren in den Jahren nach dem Ende der Königsherrschaft in Irak zu sehen. Die Nähe der kommunistischen Gesellschaftsordnung zu oder eher das Versprechen von kollektiven Formen der Wirtschaft und des Zusammenlebens konnte bei kurdischen Stämmen aufgreifen, was sie durch die Einführung des Kapitalismus verloren zu haben glaubten. Die Erfahrungen kollektiver Lebensgemeinschaften waren ein entscheidendes Prinzip des Überlebens in den Bergen und im Widerstand.
  5. Während die Entwicklung kapitalistischer Strukturen in Europa sich über mehrere hundert Jahre erstreckte, sollten sie in Irak und Kurdistan von heute auf morgen realisiert werden. Das führte zu einem Schock, der die Kohäsion der Familie und der Stämme ebenso ins Wanken brachte wie die soziale, moralische und psychologische Ordnung, die Voraussetzung für die Integration von Traumata ist.
  6. Der erzwungene Wandel führt zu Änderungen der Einstellungen und zu Assimilationen, die sich in neuer Ungleichheit produzierender Weise vollziehen.

 

Die Teilnahme an ökonomischen Prozessen bestimmt wesentlich die Selbsteinschätzung nach traumatischen Erlebnissen. Zuweilen geht der Überlebenskampf auf anderer Ebene weiter.

Gesellschaftliche Aufgaben und gesellschaftliche Rolle können den Prozess der Integration von Willkürerfahrungen für den Einzelnen günstig beeinflussen. Aufgaben und Rollenverständnis haben eine gesellschaftsrelevante Arbeit zur Voraussetzung, die zugleich die Männer in ihrem Herrschaftsbereich des öffentlichen Raumes anerkennt.

Transformationsgesellschaften beanspruchen nach dem Zusammenbruch oder bei anhaltender Instabilität staatlicher Instanzen viel Energie der Bevölkerung zur Überwindung von unsicheren oder in Auflösung befindlichen Strukturen traditioneller Kultur, die zuvor als angemessen angesehen wurden, weil sie Überleben absicherten.

Es ist im Übergang von Gewaltdiktatur zu einer neuen Gesellschaftsorganisation daher mit einer besonderen Empfindlichkeit für ökonomische Ungerechtigkeiten gerade bei Traumatisierten zu rechnen. Nach dem verlustreichen Kampf von Kurden für relative Autonomie können als ungerecht empfundene ökonomische Strukturen das individuelle Opfer als nachhaltig erfolg- und sinnlos erscheinen lassen. ( „Wofür haben wir gelitten, da es uns heute so schlecht geht wie unter Saddam?“, hört man heute oft von ehemaligen Kämpfern.) Es entsteht – so belegen die Erfahrungen in Kurdistan/Irak – eine Anspruchshaltung nach Entschädigung für erlittenes Leid. Die „Belohnung“ ist ausgefallen. Das egalitäre Selbstverständnis während der Kämpfe konnte relativ problemlos durch eine egoistische kapitalistische Wirtschaftsform verdrängt werden. Die gesamte Region Südkurdistan ist auf dem besten Wege dahin.

Kurdistan/Irak vermag sich heute nicht aus der eigenen landwirtwirtschaftlichen Produktion zu ernähren. Eine industrielle Fertigung besteht höchstens im Baubereich (Zementfabriken und Betonfertigteile). Kurdistan/Irak verfügt über eine erhebliche, derzeit gedrosselte Ölförderung, hat aber keine eigenen Raffinerien. Benzin wird im Wesentlichen über die Türkei eingeführt wie auch die meisten Grundnahrungsmittel.

Es besteht heute  in einem Makrokosmos gesellschaftlicher Versorgung mit Lebensmitteln eine ähnliche Abhängigkeit, wie sie im individuellen Mikrokosmos durch Willkür unter der Tyrannei wahrgenommen wurde. Abhängigkeit und Handlungsbeschränkung des großen Maßstabs lassen sich auch im kleinen Maßstab des Alltagslebens ausmachen. Staatliche und damit auch individuelle Abhängigkeit verschlechtern die Chancen einer individuellen Integration von politisch motivierter Gewalt der Vergangenheit, die zur erfolgreichen Überwindung von latenter Angst und Unsicherheit aktive Strategien benötigt. Das mag zeitweilig in einer Phase des Aufbaus verdrängt werden, Angst und Unsicherheit erscheinen jedoch in der Periode der Konsolidierung erneut..

Transitorische Gesellschaften begünstigen durch eine nicht handlungsfähige oder ungenügende Gesetzgebung eine Goldgräberstimmung, in der eigene Vorteile zum Nachteil kollektiver Rücksichten gesucht werden. (Weil der Boden in stadtnaher Lage spekulativ wertvoll gemacht wird, registriert man vermehrt Gaunereien mit nicht vorhandenen Grundstücken oder mit solchen, die abwesenden Exilkurden gehören. Es entsteht eine Hochkonjunktur der Fälschungen von Urkunden, die Besitzansprüche aus der Zeit vor Saddam Hussein und vor den systematischen Vertreibungen belegen sollen.) Es kommt in zahlreichen Fällen zu Rückgriffen auf das vertraute Mittel der Bestechung und der Vetternwirtschaft. Lobbyismus und Antichambrieren beanspruchen viel Zeit und Energie. Mit anderen Worten: Instabile wirtschaftliche Verhältnisse ohne eine begleitende Wirtschaftskultur perpetuieren latente Gewalt und Normverstöße.

Die Auflösung wirtschaftlicher Strukturen ist ein langsamer Prozess, der sich über mehrere Generationen erstreckt. Sie hat daher nicht quasitraumatischen Charakter. Sie erfordert eine allmähliche Anpassung. Gleichwohl sind die mit wirtschaftlichen Prinzipien verbundenen Werte und Normen (Vertrauen, ehrlicher Tausch, Qualität) in der kurdischen Gesellschaft bei einer Vielzahl der Menschen noch wirksam. Die Erosion dieser strukturierenden Werte und Normen beeinflusst zweifellos auch die Integration der psychischen Folgephänomene von Willkür und individuell erlebter Gewalt und lässt vormals kollektive, wenngleich hierarchisch gegliederte Orientierung, die sich nach feudalistischen Prinzipien strukturierte, in den Hintergrund treten.

 

An anderen Orten hatten wir bereits auf das Verschwinden der nomadischen Lebensform hingewiesen. Der Umgang mit einer Tierwirtschaft wird heute von Schäfern betrieben, die nicht mehr ihren Lebensraum und Lebensrhythmus mit den Jahreszeiten wechseln, sondern im Allgemeinen sesshaft sind und ihre Herden durch die 12 Millionen Minen zu schleusen versuchen. Indem die Schäfer gefährliche Regionen, in denen bereits Verluste eintraten, meiden, ist die Fläche für Futtermittel enorm geschrumpft. Heute kann man ohne Zynismus feststellen, dass allein die Schäfer die Korridore durch die Minenfelder kennen, weil sie hinter ihren Tieren herlaufen – Schaf- und Ziegenherden ersetzen die Minenhunde, besonders an der Grenze zu Iran.

Mit dem Verlust des nomadischen Lebens haben sich zugleich die gewachsenen und angemessenen Sozialstrukturen, in denen allein der Großfamilie noch ein Wert zukommt, gewandelt. Der traditionelle Zeitbegriff hat seine bindende Bedeutung verloren, was zu erheblichen Irritationen führte, denn die natürlichen Konstanten (Jahreszeiten und die Tagestemperaturen) bestehen ja weiterhin. Allerdings sind die Pflichten aus der Beachtung der Jahreszeiten nicht mehr relevant. Diese Tatsache zumindest unterscheidet (und unterschied immer schon) ländliche von urbaner Bevölkerung. Arbeitsleben, öffentliches Leben und Hausarbeit haben ihren Charakter und den Zeitaufwand neu zusammengesetzt. Der Zeitbegriff wird also nicht mehr auf Produktion und Reproduktion orientiert. Vielmehr wird heute der Zeitbegriff nur noch im Rahmen abhängiger Arbeit und durch die Rufe des Muezzin bestimmt. Die koranisch geprägte Zeiteinteilung ist somit eine vertraute Konstante.

Abhängige Arbeit außerhalb des Familienverbandes war nie eine erstrebenswerte Tätigkeit in Kurdistan. Tagelöhner oder Abhängige genossen nur ein sehr geringes Ansehen. Jeder Mann wollte sein eigener Herr sein, möglichst selbständiges Gewerbe ausüben, selbst wenn es sich nur um einen Bauchladen handelte. Der Handel bildete immer einen Weg in die Selbständigkeit, der Bazar war das Zentrum einer relativen Unabhängigkeit darstellenden, zugleich auf lokale Bedürfnisse orientierten Wirtschaftsform. Reichtum entstand im Wesentlichen durch Umverteilung, Raub, Heiraten und knechtende Pachtverträge. Wachstum, dieser Fetisch der neuen Entwicklung in einem volkswirtschaftlichen Sinne, war weit gehend unbekannt.

Der Wandel begann in Ausschlag gebender Weise mit der Entdeckung und Abschöpfung der Ölfelder durch die jeweiligen Kolonialmächte. Sie benötigten Arbeitskräfte aus der Region, bezahlten sie relativ gut und gewährten ihnen Privilegien (z.B. repräsentativ ausgestattete Wohnhäuser). Zuvor war bereits ein von den Kolonialherren abhängiger Arbeitsmarkt im Dienstleistungssektor entstanden. Damit hatte ein Bruch in der Sozialstruktur eingesetzt, der einen Wandel in allen kulturellen und traditionellen Äußerungsformen zur Folge hatte. Es entstand eine Klasse von Lohnarbeitern. Seit rund 80 Jahren besteht eine Klassengesellschaft, die eine zuvor dominierende Feudalgesellschaft in einen Handlungszwang, in einen Abwehrkampf brachte, der in einzelnen Facetten bis heute noch nicht als verloren gesehen wird.

Die Entwicklung eines Staatswesens begünstigte die Bildung einer Gruppe von Angestellten mit den Privilegien einer Altersversorgung. Der Aufbau einer bis in die Provinz wirkenden Verwaltung schuf auch in ländlichen Regionen Hoheitsträger, die ihre geringe Entlohnung zwangsläufig durch Bestechungsgelder aufbesserten. Das stellte nicht unbedingt eine Änderung gegenüber den kolonialen Verhältnisse des Osmanischen Reiches dar. Im Grunde änderte sich nur der Ort der Autorität, auf die sich Hoheitsträger beriefen. Allerdings war damit im Staat Irak eine Desillusionierung verbunden, weil die Menschen zumindest zu Beginn der Staatsproklamation auf einen qualitativen Wandel gehofft hatten. Diese Hoffnung galt allerdings eindeutig wesentlich für den arabischen Irak und nicht für den kurdischen Teil. Das ursprünglich als Königreich konzipierte Staatswesen übernahm ganz überwiegend die Regierungsprinzipien einer Feudalherrschaft und gaukelte Transparenz und Partizipation nur vor. Das Feudalsystem konnte sich zur Zeit der Staatsgründung noch wesentlich auf die Mikrostrukturen der Stämme und deren Entscheidungsmechanismen beziehen. Das änderte sich nachhaltig mit der Gründung von unterschiedlichen politischen Parteien. Deren wachsender Einfluss verdankt sich einem Nepotismus und einer Günstlingswirtschaft, die in den von Bagdad fernen Regionen in enge, zuweilen erzwungene Verbindung zu staatlichen Ämtern traten. Nicht nur Parteien entwickelten zunehmenden Einfluss, auch die lokalen Stammesführer bestimmten für ihre Angehörigen die politische Generallinie. Es brachen unterschwellige, aber auch heftige Kämpfe um die Adressaten von Loyalitäten aus. Die Stammesloyalität verlor ihre Bindungskraft zugunsten der Parteien, und angesichts von Ohnmacht und objektiver Ungerechtigkeit wurden Zusammenschlüsse größerer Widerstandsverbände gegen feudale Willkür und staatliche Bevormundung für wirksamer gehalten als der Bezug zu einem lokalen Stammesführer, der oftmals auch noch vom Feudalherren, dem Besitzer der Ländereien, eingesetzt war. Dies kann man als Beginn einer von tribaler Bevormundung freien Identitätsbildung ansehen. Zugleich wird man einräumen müssen, dass tribale Zugehörigkeit bis heute eine, wenngleich geringere, Bedeutung hat. Die Stammesidentität ist für einige Stämme noch deutlich, für andere schwach bis ausgelöscht.

Wir können festhalten, dass die traditionelle Orientierung einer Durchschnittsfamilie durch diese Veränderungen erschüttert wurde. Gänzlich unberührt von diesem gravierenden Wandel in den Sozialstrukturen zeigte sich der institutionelle Islam. Er erwies sich als flexibel, die jeweiligen Herrschaftsverhältnisse mit dem Koran zu legitimieren und damit seine Kontinuität zu gewährleisten. Aufrufe zum Gebet strukturieren auch heute noch den Alltag vieler Bewohner der Region. Sie erinnern täglich an eine Geschichte langer Dauer. Der Islam suggeriert einen Gleichschritt im Fortschritt. Das macht seine unbestreitbare Kraft aus.

Der heutige Blick auf die ökonomischen Verhältnisse hat eine Reihe von Entwicklungen zu beachten. Da ist einmal die Verstaatlichung der Ölproduktion durch Saddam und die Baath-Partei, die dem Land einen enormen Aufschwung auch in der Breite verschaffte. Da ist der Schuldenberg, der sich aus dem Krieg zwischen Irak und Iran von 1980-1988 bildete (1. Golfkrieg). Da ist das Abenteuer Saddams in Kuwait, seine Niederlage durch die Alliierten und das nachfolgende Embargo (2.Golfkrieg). Die Lebensverhältnisse der Iraqis insgesamt verschlechterten sich erheblich. Die Inflation erreichte schnell zweistellige Werte. 1995 brauchte man eine Plastiktüte voller Geldscheine, um den täglichen Bedarf einer Familie zu decken. Der Gegenwert einer Spende von 3200 D-Mark, erinnere ich mich, füllte einen ganzen blauen Müllsack mit Geldscheinen. Es entwickelte sich in vielen Bereichen eine Mangelwirtschaft. Man erinnere sich an die zahlreichen Klagen der internationalen Ärzteschaft über die hohe Kindersterblichkeit!

Der dritte Golfkrieg (der nicht mehr um Zugang zum Persischen Golf oder Ölfelder am Golf geführt wurde) nun bildet den Hintergrund für die heutigen Lebensverhältnisse für Menschen in Irak. Dabei darf man nicht verkennen, dass im kurdischen Autonomiegebiet die Bedingungen heute durchaus besser sind als in weiten Teilen des südlichen Irak, dass in den 12 Jahren relativer Autonomie bereits eine Anpassung an den relativen Mangel stattgefunden hatte und Alternativen entwickelt wurden. In den südlichen Provinzen des Irak war bei Kriegsbeginn 2003 ein kompletter Ruin der Wirtschaft die Folge der militärischen Intervention, vor allem aber Folge einer Privatisierung der Wirtschaftsgrundlagen, die, gegen internationales Recht verstoßend, binnen sehr kurzer Zeit von der amerikanischen Kriegsverwaltung verordnet wurde. Linda Bilmes und Joseph Stiglitz bilanzieren in ihrem Buch (Die wahren Kosten des Krieges. Wirtschaftliche und politische Folgen des Irak-Konflikts“ (2008) München, Pantheon-Verlag) die Auswirkungen des Krieges auf die irakische Wirtschaft. In „Le Monde diplomatique“ vom Mai 2008 (Gekürztes Kapital aus dem Buch) stellen sie aus den zugänglichen Quellen, deren Wahrheitsgehalt und Exaktheit man mit Fug und Recht bezweifeln kann, fest:

 

Bis September 2007 hatten rund 4,6 Millionen Iraker, jeder siebente Bewohner des Landes, ihren Wohnort verlassen. (S.G.: Wenn gleich die meisten von ihnen Frauen und Kinder sind, die von ersparten Geldern leben oder durch ferne Verwandte unterstützt werden, so ist allein der Anteil an qualifizierten Berufstätigen und Akademikern unter den geflohenen Männern außerordentlich hoch. Sie fehlen unter den unsicheren Alltagsbedingungen beim Wiederaufbau des Landes und nehmen indirekt Einfluss auf die Statistik der Arbeitslosen. Ein Teil der Flüchtlinge lebt derzeit in den kurdischen Gebieten des Irak, rund 700.000 Menschen stellen eine Herausforderung an die Sicherheitsbehörden und die Versorgung mit Lebensmitteln dar.)

„Im Jahr 2001 war das irakische Bruttoinlandsprodukt (BIP, kaufkraftbereinigt) um 24 % niedriger als zehn Jahre zuvor.“ Obwohl sich der Ölpreis inzwischen vervierfacht hatte, ist das BIP 2007 nicht höher als 2003. Der Ölexport stockt und wird künstlich verknappt. Er liegt unter Vorkriegsniveau.

Heute (2006) haben Städte weniger Elektrizität als vor dem Kriege (Bagdad: 9 Stunden, Kerkuk: 10 Stunden, Sulemani: 1 Stunde, jeweils pro Tag). Die Wasserversorgung ist noch unzureichend.

Die vom Amerikaner Foley durchgezogene Privatisierung der wirtschaftlichen Großanlagen war eine Katastrophe, weil die gezahlten Preise, der Sicherheitslage entsprechend, niedrig lagen.

Es gibt kein ausreichendes Kreditwesen, das Neugründungen und Erweiterungen von Mittelstandsfirmen finanziell unterstützen könnte. Das Resultat ist die Verhinderung von neuen Arbeitsplätzen. Ausländisches Kapital ist angesichts der allgemeinen Unsicherheit nicht Willens zu investieren. (Dies gilt im Wesentlichen für den mittleren und südlichen Irak und sicher besonders für die umstrittenen Gebiete wie Kerkuk und umgebende Provinz), nicht so sehr für den kurdischen Norden

Es besteht eine Arbeitslosenquote von 25-40 %. Vor allem zornige junge Männer von 18 bis 35 Jahren, die ihre Waffen aus der Zeit des Saddam-Militärs noch besitzen, stellen ein hochexplosives Potenzial dar.

 Milliarden Dollars, die von den USA ins Land investiert werden, kommen fast ausschließlich amerikanischen Firmen zu. Sie schaffen keine qualifizierten Arbeitsplätze. Vielmehr holten die amerikanischen Firmen zur Erhöhung ihrer Profite noch billigere Arbeitskräfte aus Nepal. Offizielle Begründung waren dann jeweils Sicherheitsbedenken. Furcht vor Sabotage und Anschlägen ließ irakische Arbeitskräfte außerhalb des Aufbauprogramms.

Unterstützungsbereite NGO erhielten über lange Zeiträume (2003- 2006) nur noch Zuwendungen, wenn sie in US-amerikanischer Trägerschaft befanden.

Die Schulden des Landes bleiben ein Damoklesschwert, mit dem ein Zugriff nach dem irakischen Öl, das überwiegend in Kurdistan lagert, begründet wird.

 

Die o.a. problematische Zustandsbeschreibung ist, wie gesagt, nur mit Einschränkungen auf den kurdisch besiedelten Teil des Irak zu übertragen. Die Einnahmen aus dem Ölexport der Zentralregierung sollen zu 23 % der kurdischen Regionalverwaltung zur Verfügung gestellt werden. Ist der Export gedrosselt oder rückläufig, stehen im Norden des Landes weniger Mittel für Investitionen und für soziale Aufgaben zur Verfügung. Bis heute hat die regionale Regierung nicht den verfassungsgemäßen Anteil an den Erlösen des Ölexports erhalten. Da es keine Gewähr für planbare, kontinuierliche Einnahmen im Sozialhaushalt gibt, tritt zuweilen eine skandalöse Situation ein: Es sind plötzlich größere Geldmittel zur Verfügung, aber keine überprüften und parlamentarisch gebilligten Projekte, oder es können im Wohlfahrts- und Rentenwesen keine längerfristigen Sicherheiten gegeben werden, da kein regelmäßiger Fluss von Einnahmeanteilen aus Bagdad erfolgt. Im Allgemeinen kommen in Kurdistan/Irak nur 17 % der Öleinnahmen an.

Natürlich mag man einwenden, die ökonomischen Bedingungen eines Landes oder einer Region seien für eine Integration von Gewalttraumata marginal. Wir halten diese Haltung für ignorant. Wir bestehen darauf, dass posttraumatische Störungen in ihren vielfältigen Ausprägungen nicht nur als Ausdruck einer individuellen intrapsychischen Verarbeitungsproblematik (als westliche Erklärung) entstehen, sondern zu einem nicht geringen Teil einer gesellschaftlichen, kulturellen Haltlosigkeit sowie der Wahrnehmung einer Nichtzugehörigkeit und der Schwierigkeit, Wandel zu akzeptieren und Sicherheit zu finden, entsprechen. Wir müssen daher die soziopolitischen Rahmenbedingungen in Übergangsgesellschaften analysieren, wenn die durch Repression verursachten Beschädigungen von Individuen und Gesellschaft bewältigt werden sollen[2]. Arbeitslosigkeit bedeutet in kränkender Weise im Orient Wert- und Nutzlosigkeit. In diesen Grundschemata soll ein Individuum seine Erfahrung von Gewalt und Willkür integrieren, was nicht allein ein autonomer Prozess seiner beschädigten Persönlichkeit ist, sondern der Wechselwirkungen innerhalb einer kommunikativ strukturierten Gesellschaft. Empfinden und Verstehen, Erkennen und Zuordnen, Leiden und der Umgang mit Leidenden folgen in ihrer Grundkomposition gesellschaftlichen Anregungen und Vorgaben. Das menschliche Gehirn kann selbstreferentiell nur generieren, was zuvor in symbolischer oder informationeller Form und als Sinn hinein gegeben wurde[i]. Ob es sich dabei um Strukturen und Schemata handelt, die genetisch präformiert wurden oder um Strukturen, die sich erst im kommunikativen Kontakt mit der Welt gebildet haben, ist hier sekundär. Wir sind der Überzeugung und haben eine Reihe Argumente auf unserer Seite, dass Strukturen, die sich aus sozialen Prozessen wie Lernen und Erziehung ergeben, auch den ökonomischen Bereich der Alltagssicherung formen. Insofern stellt der Bereich der ökonomischen Sicherung, der Vermeidung von Hunger, Wertlosigkeit und Armut, eine wesentliche stabilisierende Komponente für die Integration von traumatischem Gedächtnis dar. Dies bedeutet als These formuliert, dass Traumaintegration sich mehreren, wenn nicht zahlreichen, untereinander in Verbindung stehenden Schemata zuwenden muss, will sie im therapeutischen Prozess erfolgreich sein. Denn der kulturelle Bereich der Ökonomie (hier verstanden als Lebensgestaltung durch Tätigkeit) bildet neben anderen wie z. B. Geschlechtsrollen, Bildung, Teilnahme an kollektiven Ritualen die psychischen Dispositionen aus, welche die Grundlagen einer Integration von Traumata ermöglichen. Gerade der ökonomische Sektor, der soziale Komponenten voraussetzt, erscheint prädestiniert für ein Verständnis der sozialen Einflüsse auf individuelles Erleben, Sinnfindung und Sinngestaltung. Sinn wird nicht aus einem neuronalen Apparat gestiftet, er erneuert sich und sucht seine strukturierende Bindungskraft aus täglicher Kommunikation und Praxis. Permanente Veränderbarkeit ist das gemeinsame Stichwort für Ökonomie und die physischen Voraussetzungen für Traumaintegration.

Möglicherweise – und dies wäre eine weitere These - wird Sinnstiftung daher in dieser täglichen Kommunikation erschüttert und nicht primär durch ein extremes Erlebnis. Das extreme, willkürliche Ereignis (Folter, willkürliche Festnahme, Vertreibung usw.) wäre danach lediglich der Auslöser für eine Befragung der Regeln, die jede Gesellschaft entwirft und an die sie sich selbst in entscheidenden Teilen nicht hält, zumeist aus Machterwägungen. Posttraumatisch könnten wir demnach mit Fragen und Zweifeln an der Zuverlässigkeit der Regelhaftigkeit einer Gesellschaft übersetzen. Eine individuelle Symptombildung reflektiert somit Paradoxien und Macht gestützte Ungerechtigkeiten (Unwahrheiten) aus der Gesellschaft[3].

 

Wir hatten aus diesen gesellschaftlichen Veränderungen geschlossen, dass der Wandel in der ökonomischen Orientierung von Männern und Familien und eine bis vor kurzem noch unbekannte Klassenlage eine allgemeine Verunsicherung von Werten, Rollen, Sicherheit und Selbstbewusstsein zur Folge hatte, die ein prätraumatisches Muster von Realitätsbetrachtung begleiteten. Wenn man dem Modell der sequentiellen Traumatisierung anhängt, wird man einräumen müssen, dass eine gravierende Erschütterung der Kultur, Vertrautheit und Organisation von Ökonomie und ihren Darreichungsformen eine Integration von erfahrener Willkür erschwerend beeinflusst. Umgekehrt: eine Stabilisierung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen führt zumindest ein Stück weit von traumatischen Erinnerungen fort, wenn sie von aktiven Handlungen begleitet ist.

 

In dieser komplizierten organisatorischen und ökonomischen Situation setzt die kurdische Regionalregierung auf Schritte zur Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion, die eine Abhängigkeit der Nahrungsversorgung von den Nachbarstaaten vermindern helfen soll. Gesetze und Dekrete bestimmen, dass sowohl die Fläche für Anbau landwirtschaftlicher Produkte als auch die Zahl der darin Beschäftigten durch Preisstabilität, Landzuteilung und Prämien steigen solle. Das Problem der Landminen begrenzt die Wirkung solcher Vorhaben. Regionale Autarkiebestrebungen erzeugen wohl das Misstrauen der Instanzen, die globale Märkte für erstrebenswert halten.

Wir hatten bereits darauf hingewiesen, dass eine breite Entfremdung von bäuerlicher Tätigkeit mit dem staatlichen Kauf grenznaher Almen und Felder verbunden war. Die Regierung Saddam hatte bäuerlichen und nomadischen Kurden ihr Land abgekauft, um einen rund 20 Km breiten Grenzstreifen zu Iran menschenleer und besser überwachbar zu machen. Die ausgezahlten Bewohner gingen mit gut gefüllten Brieftaschen in die Städte, und nach einem Konsumrausch aus den Erlösen des Landverkaufs fielen sie in Armut und Passivität. Sie wurden zu einem entwurzelten städtischen Subproletariat. Zugleich ging ein Know-how der Getreide- und Viehwirtschaft, an einigen Orten auch der Fischzucht, verloren.

 

Inflation, Arbeitslosigkeit und weit verbreiteter Mangel in der Grundversorgung kann in der Region durch das Unterstützungspotenzial der Großfamilien bis zu einem gewissen Grad kompensiert werden. Die aus der Emigration zurückfließenden Gelder helfen vielleicht, bittere Armut zu vermeiden. Ohne das System familiärer Subsidiarität würden fraglos Revolten heraufbeschworen, wie sie sich in einigen Orten (z.B. Halabja) schon zeigten. Die erweiterte Familie in Kurdistan übernimmt folglich Funktionen, die in westlichen Staaten vom Staat übernommen und im Zuge einer neoliberalen Globalisierung an die Familien zurückdelegiert werden. Das Prinzip einer unbedingten Verantwortung für Familienmitglieder ist in Kurdistan sicher nicht in reiner Form vorhanden, bietet aber in seinen Resten noch genügend Schutz vor der kompletten Ausschließung. Das Prinzip der familiären Subsidiarität ist bei genauer Betrachtung auch aus anderen Gründen in Gefahr. Von manchen kurdischen Familien sind vier bis fünf Söhne im Exil, wo sie oftmals zu Unterstützungen nicht in der Lage sind..

Als Beleg für einen grundsätzlichen Wandel im ökonomischen Alltag kann man die Investitionen aus dem Ausland, die in Kurdistan/Irak getätigt werden, bezeichnen. Südkorea hat sich besonders effektiv an der Neustrukturierung beteiligt, Frankreich und Österreich sind aktiv in der Region. Die USA prägen mit ihren langfristigen Interessen in Nahost und mit Blick auf Öl das Investitionsklima und damit die Teilnahme Kurdistans an der Globalisierung. Großprojekte verdrängen das regionale Handwerk. Eine optimistische Stimmung (Werbung, Propaganda, Fokussierung auf „Erfolg und Wachstum“) soll die realen Probleme verdrängen. Es findet derzeit eine Reizüberflutung aus den Medien statt, für die es kaum Verarbeitungsmöglichkeiten gibt. Paradoxerweise finden sich neben Reinszenierungen der traumatischen Vergangenheit vor allem Sendungen, die jene zum Lachen bringen sollen, die sonst nichts zu lachen haben. Auch hierin zeigt sich die Übernahme westlicher Politik der Affekte.

Zur Zeit kann man eine Periode der inszenierten Träume registrieren: Kurdistan werde in wenigen Jahren Dubai und Bahrain als wirtschaftlicher Knotenpunkt überflügeln, so die optimistische Prognose der Regionalregierung. Ein nie gekannter Bauboom hat sich entwickelt, der Flughafen Hewlêr (Erbil) wird für eine Million Fluggäste konzipiert, große Maschinen sollen starten und landen. Zwar hinkt der Ausbau der Infrastruktur noch weit hinter diesen Plänen her. Die ersten Luxushotels entstehen freilich schon: Kurdistan wird in der New York Times vom 9.7.2007 (Beilage der SZ) als Investitionsort der Zukunft vorgestellt, der alte Zentren wie Beirut, Damaskus ablösen könnte. Das allerdings wäre nur denkbar unter der militärischen Protektion der US-Amerikaner. (Le Monde Diplomatique) Wenn das Referendum über den Status von Kerkuk zugunsten einer kurdischen Eingemeindung ausgeht, wofür die Mehrheitsverhältnisse sprechen, wird aus den Gewinnen aus dem Ölverkauf eine wirtschaftliche Entwicklung eingeleitet, an der auch ein großer Teil der kurdischen Bevölkerung partizipieren könnte. Schon 2007 scheinen sich Prognosen zu bestätigen, dass, wie die Wirtschaftskammer behauptet, die Armut deutlich zurückgeht. Im Wesentlichen allerdings nur statistisch. Die Verteilung der Gewinne aus dem Bauboom – Baukräne bestimmen das Stadtbild von Hewlêr – findet ihren Weg in die Taschen weniger, viele Kurden bleiben im Status des Tagelöhners.

„Dream City“ ist eine Neubausiedlung mit über 1200 Häusern, die zwischen 180.000 und 700.000 US-Dollars kosten, und gleichsam die Vorhut zu „gated communities“ bilden, denn dort versammeln sich Geld, Bildung und Infrastruktur in abgrenzender Form zu den darum liegenden ländlichen Arealen, die in ihrer diskriminierenden Abhängigkeit vom öffentlichen Versorgungssektor nur während drei Stunden am Tag über elektrischen Strom verfügen. Es gibt keinen Masterplan für eine gleichmäßige und gerechte Entwicklung. Eine gewisse Goldgräberstimmung ist derzeit vorherrschend. Auf der einen Seite wird sich die Schere zwischen Nutznießern des Investitionsbooms und davon Unberührten öffnen. Die andere Seite der Medaille äußert sich in einer propagandistisch verstärkten Tendenz für eine angebliche ethnische Homogenität. Sie wird aus der gemeinsam erlittenen Geschichte abgeleitet.

Derzeit allerdings finden zahlreiche Flüchtlinge arabischer Herkunft oder christlicher Zugehörigkeit Unterschlupf im kurdischen Norden des Irak. Der Zustrom von Flüchtlingen hat unter Sicherheitsaspekten zu verschärften Kontrollen, ja Schikanen gegenüber arabischstämmigen Flüchtlingen geführt. Der Vorwurf von Folterhandlungen gegenüber „Verdächtigen“ wurde von internationalen Organisationen erhoben und von kurdischen Behördenvertretern nicht dementiert. Es gibt folglich auch keinen Masterplan für eine von Gerechtigkeit bestimmte Gesellschaft in dieser Phase der autonomen Entwicklung, die nun schon über 15 Jahre dauert. Es muss jedoch als ein bedeutsamer Schritt gewertet werden, dass heute solche Versäumnisse und Fehlentwicklungen öffentlich angesprochen werden können, nachdem unter Saddam solche Kritik mit dem Leben bezahlt wurde.

Eine wesentliche Erosion der wirtschaftlichen Grundwerte mit sozialpsychologischen Konsequenzen wurde dadurch erzielt, dass mehrere Zehntausend Bewohner von oftmals stadtnahen Dörfern aus strategischen Gründen während der Tyrannei vertrieben und in lagerähnlichen Neusiedelungen zu leben gezwungen wurden. Dort konnten sie nicht mehr ihren gewohnten Tätigkeiten nachgehen. Sie erhielten in den Anlagen, in denen sie leicht zu kontrollieren waren, zwar elektrischen Strom und Wasser, ihre traditionelle Struktur für ein Alltagsleben büßten sie jedoch ein. Inzwischen haben sich um diese Lager große Kleinstädte gruppiert mit bis zu 60.000 Bewohnern, wodurch eine Rückkehr von den meisten Familien nicht mehr erwogen wird. In Gesprächen wird erkennbar, dass vornehmlich Frauen einer Rückkehr ins (zerstörte) Dorf widersprechen, weil sie nach Jahren einer Tätigkeit im Haushalt nicht noch zusätzlich die bäuerlichen Verpflichtungen übernehmen wollten. Im Dorfe hatten sie sich zusätzlich noch um die Tiere zu kümmern, die Wege zum Brunnen machen müssen. Die Männer suchen daher zwangsläufig nach Arbeit in den Städten. Das bedeutet individuelle Motorisierung, da unter den aktuellen Sicherheitseinschränkungen ein öffentlicher Transport noch mangelhaft entwickelt ist, und für viele Regionen existieren keine Busverbindungen. Die ersten Supermärkte entstehen und vermindern damit die Chancen für die Bewohner von ehemaligen Lagern, sich im Handelssektor über Wasser zu halten.

 

Für die Integration traumatischer Erlebnisse in kollektivem Maßstab ist weiterhin das Misstrauen bestimmend, das von der Zentralregierung gegenüber vermuteten kurdischen Bestrebungen nach Unabhängigkeit geäußert wird. Fraglos gibt es für solches Misstrauen ein Korrelat: die Mehrheit der in Südkurdistan lebenden Menschen wünscht Unabhängigkeit. Diese Mehrheit sieht sich unmittelbar vor der Unabhängigkeit und wird deshalb ungeduldig mit Politikern, die den Spagat zwischen Zentralregierung und regionalen Interessen praktizieren. Die Unabhängigkeit nachhaltig zu fordern, wird aber zugleich von dieser Mehrheit abgelehnt, weil es für unwahrscheinlich gehalten wird, dass die Nachbarn Südkurdistans tatenlos zuschauen werden. Ein drohender Krieg nach all den kollektiven Traumata lässt Wünsche nach staatlicher Unabhängigkeit nur als Phantasmen äußern.

 

Sehr deutlich wird der Wandel von der ländlichen Struktur zur urbanen Lebensform in der Architektur des Hauses: Während früher alle Familienmitglieder in einem Raum schliefen, der mit Teppichen ausgelegt wurde, finden wir heute in der Zahl und Gestaltung von Schlafräumen eine neue Formen des Sozialprestige: Je mehr Schlafräume ein Haus hat, desto höher der gesellschaftliche Stand. Die neue Architektur hat damit auch das familiäre Verhältnis zur Intimität erreicht und nach Maßstäben umgestaltet, die zuvor nur für Feudale galten. Obgleich viele Schlafräume zugleich eine Offerte an Freunde und Verwandte darstellen oder störende Einflüsse durch Lärm ausschalten, zeigt sich in dieser Form des Häuserbaus ein zunehmendes Bedürfnis nach Individualisierung, das freilich erst entsteht, wenn sich traditionelle Gewohnheiten in differenzierender Weise sozialer Bewertung aussetzen. Heute kann man feststellen, dass auch noch gemeinsames Schlafen in einem Raum nicht selten ist und damit den ökonomischen Status anzeigt.

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[1] Auf die prekären Bewältigungsbedingungen von vergangenen Traumata durch permanente Terrorbedrohung in der Gegenwart gehen wir an anderer Stelle ein.

[2] David Becker, Hugo Calderón (1990) Extremtraumatisierungen – soziale Reparationsprozesse – politische Krise. In: Horacio Riquelme (Hrg.) Zeitlandschaft im Nebel. Frankfurt/M. Vervuert. S. 76-86, hier: S. 78.

[3] Man kann durchaus an die vom Kognitivismus durchdrungenen Konzepte einer Frau Janoff-Bulman denken. Ich sehe den zentralen Unterschied in der Feststellung, dass in meiner Vorstellung die Verantwortlichkeit des gesellschaftlichen Kollektivs in den Vordergrund (als Verursacher und Linderer) rückt. „Shattered assumptions“ kann ich bei Soldaten im Gefecht nicht verstehen, während mir die Wut und die Erschütterung eines von einem Elternteil misshandelten Kindes gegenüber dem Teil, der nicht geholfen hat, plausibel erscheint.

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[i] Haben deshalb die Neurowissenschaften, die sich mit Trauma befassen, Unrecht? Nein. Sie messen und lokalisieren nur nicht, was sie zu messen vorgeben. Sie verlegen einen Vorgang als Naturwissenschaft ins Individuum, der nur als wechselseitiger Prozess zwischen einer neuronalen Potenz und gesellschaftlicher Einschreibung verstanden werden kann. Wissenschaftler messen eigentlich die mehr oder minder erfolgreiche Inskription der Gesellschaft (Eltern, Geschwister, Verwandte, Schule, Militär, Arbeitsplatz, Öffentlichkeit) im Individuum als verbale und physische „Schreibweise“, wobei sie diese Tatsache vor sich und anderen weit gehend unbewusst machen, wenn sie allein auf das Individuum fokussieren. Sie sind dabei weit gehend ergebnisorientiert.

Es geht dabei kaum um Schemata, die, a priori vorhanden, nur darauf warten, aktiviert zu werden. Auch die im Traumadiskurs favorisierten Schemata, die im Trauma einer Erschütterung ausgesetzt sind, werden, wie Patrick J. Bracken unter Berufung auf Foucault richtig feststellt, durch Praktiken aufgebaut. Diese Praktiken verlaufen in Schemata, die ihrerseits aus sozialem, d.h. kommunikativem Input hervorgehen, wodurch das Trauma des Einzelnen in indirekter Weise zu einem nicht quantifizierbaren Trauma des sozialen Rahmens wird. Das Trauma des sozialen Rahmens äußert sich nicht zuletzt in Scham und Unsicherheit, wie man den Angehörigen eines Ermordeten oder einem nach Folter aus der Haft Entlassenen begegnen soll, weil man nicht weiß, was man sagen soll. Nach unserer Überzeugung korrespondiert die Sprachlosigkeit von Opfern nach Katastrophen dem schamvollen Verstummen des gesellschaftlichen Rahmens. Die Scham rührt in diesem Fall aus der Tatsache, bei einem erkennbaren Gewaltakt (Razzia, Festnahme, Folter) nicht zu Hilfe gekommen zu sein, weil man sich selbst gefährdet sah. Denn die Unfähigkeit, dem Hilfsimpuls zu entsprechen, der über kulturellen und religiösen Formungen rangiert, bestätigt die Exklusion des Opfers. Das Opfer erkennt diesen ausschließenden Blick von nahen Angehörigen und Freunden und wählt unbewusst vor einer Symptombildung eine Regressionshaltung. Viele meiner Patienten haben sich nach Haftentlassung erst einmal für viele Tage, manchmal Wochen, ins Bett gelegt. Diese Haltung evozierte einen Hilfsimpuls post Trauma, den im Allgemeinen und erfahrungsgemäß Frauen drängender verspürten als Männer.

Diese konzeptionellen Überlegungen werden ausdrücklich nochmals im Zusammenhang mit dem Wandel ökonomischer Strukturen erwähnt, weil sie den sozialen Rahmen für die Integration von Traumata in ihrer sozioökonomischen und sozialpsychologischen (Identität) Dimension ausleuchten helfen sollen und einem allein im Individuum lokalisierten traumatischen Prozess widersprechen. Trauma beginnt nicht mit Festnahme und Folter und endet nicht mit der Freilassung. Es hat eine Vorgeschichte und eine Nachgeschichte, die im Individuum parallel zu den Wirkungen eines traumatischen Ereignisses als Stressoren existieren, was Hans Keilson (1979, Sequentielle Traumatisierung bei Kindern, Stuttgart Enke) mit sequentieller Traumatisierung umschrieb. Daher kann eine Sinnstiftung für ein subjektives Leiden nur unter Berücksichtigung dieser drei Abschnitte erfolgen, was offenbar die westliche Sicht auf individuelles Trauma überfordert und daher kollektive Traumata individualisieren und aus einem wirtschaftlichen, politischen, historischen und sozialkommunikativen Kontext herausschälen muss.