Von Sepp Graessner

Die folgenden Überlegungen, die sich auf die Lektüre von Marcel Mauss und Alain Caillé stützen und durch Beobachtungen an kurdischen Menschen untermauert wurden, werden deshalb hier angeführt, weil sie eine Besonderheit in der kurdischen Gesellschaft enthalten, wenn sich Patient und Therapeut im Gespräch begegnen, die sich von westlicher Praxis unterscheidet. Das beiderseitige Selbstverständnis weicht von Anamnesen oder Krankenberichten in westlichen Gesellschaften ab. Es enthält noch Residuen einer traditionellen Lebensform, in der ein Markt eine große Rolle spielt, wobei der Markt nicht nur als Ort des Handels auftritt, sondern darüber hinaus symbolischen Austausch ermöglicht.

Wenn sich in Kurdistan Klient und (Psycho- oder Sozio-) Therapeut begegnen, kommt es im optimalen Falle zu einem symbolischen Tausch von Gaben. Im Rahmen  der Logik der Gabe wird von drei Stufen gesprochen: Geben, Annehmen, Erwidern. Indem der Klient nach extremer Traumatisierung einem Gegenüber, dem zuhörenden (Menschen) Therapeuten, seine Leidensgeschichte erzählt, fallen bei ihm Handeln und Gabe zusammen. Die Erzählung ist eine Gabe des Klienten, die vom Therapeuten angenommen oder nur teilweise angenommen oder abgewiesen wird. Wenn sie angenommen wird, d.h. der Inhalt (an)erkannt wird, erfordert sie eine Gegengabe. Diese liegt wiederum auf einer symbolischen Ebene, der des Sprechens und Verstehen(wollen)s. Sie kann ferner in instrumenteller Intervention liegen, wobei Kenntnisse und Ausbildung des Therapeuten über die Wertigkeit und Angemessenheit der Gegengabe entscheiden. In unterschiedlichen Zusammenhängen kommt der Erzählung eine differenzierte Bedeutung zu: Beim Therapeuten wird anders berichtet als bei der Ehefrau, im Büro wiederum anders als im Sportverein. Der soziale Rahmen bestimmt nicht die Erinnerungsfähigkeit, wohl aber die in Symbolen gefasste Handlung des Sprechens sowie Art und Umfang, d.h. Selektion der Mitteilung, der Erzählung. Die Qualität der erwarteten oder gebührenden Gegengaben, wird trotz einer inhaltlichen Übereinstimmung traumatischer Erlebnisse unterschiedlich ausfallen. Die Gabe des Klienten mit ihrer unterschiedlichen Akzentuierung des Erzählrahmens, der Details und kausalen Beziehungen fällt in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich aus[1]. Es handelt sich um unterschiedlich geformte und verpackte Gaben.

Die Gabe des Erzählens kann den Charakter einer Ware erhalten, wenn sie als Bekenntniserzählung von einem Medium gekauft und publiziert wird. Die Öffentlichkeit erscheint hier als Markt oder Börse, an der über das Interesse des Publikums spekuliert wird.

Die Gabe des Erzählens subjektiver Leidensgeschichten verfolgt einen Zweck. Sie soll wie jede andere Gabe Vertrauen stiften. Indem die Erzählung einer Verfolgungs- und Krankengeschichte mit dem Recht auf Behandlung und der Forderung nach Beseitigung des Leids verbunden wurde, finden wir nicht mehr die ursprüngliche Beziehung des Gabentauschs. In Kurdistan sind die Entwicklungen von Rechtsansprüchen, von Versicherungen gegen Schädigungen und forderndem Verhalten noch nicht da angekommen, wo sie sich  im Westen längst befinden. Beziehung und Bindung zwischen Klient und Therapeut formen sich noch nach archaischen Mustern des Gabentauschs. Dies gilt im Wesentlichen für traditionelle Heiler, die eine Spende oder Anerkennung (Empfehlung) erhalten, während Schulmediziner zwangsläufig bezahlt werden müssen. Wobei das Verhältnis des Gebens und Annehmens vertauscht wird: Der Therapeut gibt, und der Klient nimmt an und zahlt dafür. Durch die Professionalisierung von Berufen wird die ursprüngliche Gabenbeziehung aufgelöst. Dennoch lässt sich festhalten, dass ohne die primäre Erzählung, Krankengeschichte oder Symptombeschreibung die psychotherapeutische Professionalisierung allein im Raum stünde. Der Professionelle ist von Gaben abhängig.

Trotz dieser Tendenz, die Gabenbeziehung in eingefahrener Weise auf den Kopf zu stellen, besteht ein Rest der ursprünglichen Beziehung, die sich ausschließlich utilitaristischen Bezügen verweigert. Sie besteht im Angebot von Vertrauen seitens des Klienten. Der Besuch bei einem Therapeuten setzt nicht die Existenz einer Vertrauensbeziehung voraus. Die Bereitschaft zum Vertrauen auf Seiten des Klienten wird erst in der Interaktion zwischen den Partnern aktiviert oder bleibt stumm. Der Klient kennt schließlich nicht die Qualität der Gegengabe. Er hofft auf Angemessenheit. Er gewährt einen „Kredit“. Die primäre Gegengabe des Therapeuten besteht nicht nur im Zuhören – Empathie ist keine notwendige Voraussetzung, sie signalisiert Verstehensbereitschaft und sie anerkennt die eigene Verletzbarkeit – sondern im erkennbaren Akt des Verstehenwollens und unmittelbaren  Interesses, das einen Vertrag begründet. Dazu gehört zuerst die Anerkennung des Inhalts einer Leidens- oder Verfolgungsgeschichte. Hiermit wird eine Anerkennung der Person des Klienten verbunden, weil Erinnerung, Geschichte und Persönlichkeit nicht zu trennen sind. Der gemeinsame Rückblick in einer Erzählung, die sich der Gegenwart nähert, erfordert Respekt, wenn sie eine gemeinsame Zukunft begründen will. Hierin liegt die wesentliche Gegengabe, die über eine technische Intervention, ein verordnetes Medikament, eine präzise Diagnose usw. hinausreicht. In allen Gesprächen war den Klienten der Hinweis auf und die Forderung nach Respekt besonders wichtig.

Die biographische Entwicklung, die zu einer subjektiven Erzählung von Verfolgung führt und von höchst subjektiven Empfindungen begleitet wird, gehört als Synopse allein dem Klientensubjekt. Wenn er Teile davon einem Therapeuten in einem (symbolischen) Sprechakt gibt, zugänglich macht, trennt er sich von einem Teil seiner Persönlichkeit. Der Klient besteht also nicht darauf, dass er nach einer Therapie (Gespräch, Schilderung, Behandlung) dieselbe Persönlichkeit habe wie vor der Erzählung. Darin liegt das große Wagnis, das auch Therapeuten so verändern kann, dass auch sie nicht mehr dieselben sind, wenn eine Behandlung abgeschlossen ist.

Nützlichkeitserwägungen sagen sofort, wer zum Arzt geht, um Heilung oder Linderung zu erfahren, muss zwangsläufig einen Teil seiner Persönlichkeit geben. Anders ginge es nicht. Das ist nur teilweise richtig. In therapeutischen Beziehungen zur Besänftigung von lebensgeschichtlichem Leiden, in der so genannten Psychotherapie, geht es auch um die Voraussetzungen für suggestive Wirkungen der Beziehung. Wenn man rund ein Drittel einer Verbesserungswirkung in der Therapie der Beziehung und Bindung zuschreibt, dann braucht es dazu Dispositionen auf beiden Seiten. Diese Dispositionen zu aktivieren, damit sie suggestive oder autosuggestive Effekte ermöglichen, bedarf es nach meiner Auffassung Vertrauen stiftender Handlungen, die unter anderem im akzeptierten Gabenritual liegen. Diese Handlungen mögen uns ebenso wenig bewusst sein wie das Sozialprestige von Ärzten, hinter dem sich zahlreiche Unfähige, Scharlatane verbergen, wodurch das reale Risiko des Vertrauensangebots betont wird. Insofern stellt eine Erzählung eines Klienten, unabhängig von seinen Erwartungen, ein Risiko dar.  Keiner weiß sicher, ob die Gabe angenommen oder erwidert wird. Kein Klient weiß ferner sicher, mit welchen Empfindungen ein Therapeut seine Erzählung einrahmt.

Eine Anthropologie der Gabe, wie sie Alain Caillé[2] vorgelegt hat, soll hier nicht ausgebreitet werden. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich auf die kurdischen Zustände, soweit wir sie erfassen können. Wir sehen uns außerstande, uns zwischen den Ansätzen von Bourdieu, Levi-Strauss und Caillé zu entscheiden. In der kurdischen Gesellschaft scheinen wir aber noch nicht so weit von einer praktizierten Form des Gabenaustauschs entfernt wie in westlichen Gesellschaften. (Unter anderem finden wir hier nicht die Versicherungsgesellschaften oder staatliche Regelungen, die in die Beziehung zwischen Klient und Therapeut treten.) Vor allem sehen wir für lebensgeschichtlich hervorgerufene Leiden im psychosozialen Leben von Kurdinnen und Kurden noch Elemente einer Gabenbeziehung, wenn sie sich zu einer Erzählung verdichten.

Erzählen einer individuellen Verfolgungsgeschichte ist ein bewusster Akt. Dennoch fließen in den Erzählakt und seine Komposition unbewusste Elemente ein, zumindest sind sie dem Erzähler nicht voll bewusst. Das bezieht sich nicht allein auf untergründige Zwecke, die angestrebt werden, auch die Selektion der erzählten Inhalte und die Form unterliegen nicht vollständig dem Bewusstsein. Gleichwohl scheinen Erzählakt und Komposition der Erzählung einen Zweck zu verfolgen, an dessen Ende das Bild einer Person und ihrer bestimmenden Lebensgeschichte aufscheint. Der Erzähler wünscht (zu beeinflussen), in einer bestimmten Weise gesehen zu werden. Er möchte Affekte hervorrufen, die in ihm/ihr aufgestiegen sind. Er möchte durch seine Erzählungsgabe die Handlungsunfähigkeit und Handlungsbeschränkung traumatischer Erlebnissen hinter sich lassen. Insofern lässt sich nicht (im Sinne Derridas) von einer Reinheit der Gabe sprechen, weil sie eben mit einem Zweck, mit der Erwartung der Gegengabe gekoppelt ist. In verwandter Form lässt sich nicht von der Reinheit oder Naivität der Vergebung sprechen, wenn Vergebung (in ihrer engen Beziehung zur Gabe) in Verbindung zu (tages-) politischen Zwecken, zu Schlussstrichdebatten oder zu Entschädigungswünschen steht[3].

In der Tat scheinen die Erzählungen von Klienten im Behandlungszentrum Kirkuk durch ihre Erst- und Einmaligkeit den Charakter einer Gabe, die friedvolles Vertrauen zu begründen hilft, zu besitzen. Die Erzählung berichtet von vergangenen Ereignissen, stellt zugleich selbst ein Ereignis formal als  Präsenz dar, das durch die unbewussten Anteile des Erzählaktes zu einer Gabe „ohne Hintergedanken“ wird. Diese Art der Gabe besteht nicht auf einer bestimmten Form der Gegengabe. Sie weiß noch nicht, was hilfreich sein könnte, wie auch der Zuhörer und Therapeut nicht weiß, wenn er die Gabe annimmt, was eine angemessene Gegengabe sein könnte, weil auch er auf seine unbewussten Strukturen hingewiesen und darin verstrickt wird (z.B. Gegenübertragung). Erzähler und Zuhörer sind beide durch ihre jeweils eigenen Gefühle und durch Hoffnung verbunden. Dies anzuerkennen gelingt in der therapeutischen Beziehung im Kirkuk-Zentrum.

Zuvor vorgetragene Geschichten von Verfolgung und Folter im Rahmen von Familie und Freunden hängen noch fest an einer (Geschlechts)Identität und Rolle in den jeweiligen sozialen Kontexten. Sehr oft bleiben die Traumatisierten stumm oder berichten lakonisch. Sie unterstellen einfach, dass jeder weiß, was ihnen zugestoßen ist, wenn sie in Polizeihaft waren und in ruinösem Zustand entlassen wurden. Einzelheiten der eigenen Kläglichkeit und regressiver Verhalten werden extrem selten im Familien- oder Freundeskreis offenbart. Das ist insofern verständlich, als schambeladenes Verhalten einer traumatisierten Person auch zu Mitscham der übrigen Familienmitglieder führt. Insofern ist die symbolische Gabe einer umfassenden (nicht vollständigen) Erzählung in Gegenwart eines Therapeuten oder solidarischen Unterstützers als ein Angebot aufzufassen, das Vertrauen und Veränderungsbereitschaft signalisiert. Die Gegengabe besteht oftmals in Ratschlägen zur Alltagsbewältigung, Vermittlung von Dienstleistungen im Netzwerk der Helfer, Einbeziehung der Familie, Prüfung der Auswirkungen auf Ehefrau (Ehemann) und vorhandene Kinder. Es sind Handlungen, die aus der Anerkennung des Leids und einem Verständnis der ins Soziale wuchernden Effekte hervorgehen. Das Verständnis basiert auf der Erkenntnis, dass illegale Verletzungen und Unrecht begangen wurden. Zum Handeln drängt es den Therapeuten, weil er deutlich machen will, dass er über zusätzliche Optionen verfügt, die über eine mittelbare Betroffenheit hinausreichen. Handeln gehört damit zum Gegengabenarsenal des Therapeuten. Der Klient mag dann entscheiden, ob das Handeln des Therapeuten hilfreich, angemessen und der Gabe entsprechend ist.

Wir haben von Respekt gesprochen, der uns deshalb wesentlich erscheint, weil er die Gabe des Klienten in Form eines offenbarten Teils seiner Persönlichkeit als notwendigen Tribut an die Veränderungsbereitschaft anerkennt, zugleich macht Respekt (vor dem Alter, der Würde, dem Lebenswillen und der Lebenserfahrung) deutlich, dass keine Enteignung von Persönlichkeitsanteilen stattfinden solle. Ein solches Dilemma kann nur unter horizontal Gleichen aufgelöst werden. Die Achtung des Klienten kann durch keinen Vertrag beschränkt werden. Achtung umfasst auch, auf die Interessen und Würde des Klienten zu achten. Die soziale Gabe des Erzählens stiftet ein Arbeitsbündnis, bedeutet folglich eine Handreichung, die vom Klienten ausgeht und als soziale Gabe an einen Stellvertreter der Gesellschaft erfolgt und nicht, wie wir meinen, primär an den Fachmenschen.

Wesentlich für eine originäre Gabenbeziehung ist ferner, dass das Behandlungszentrum nicht vom Klienten entlohnt wird. Es tritt folglich nicht das Geld in die Beziehung zwischen Unterstützer und Klienten. Therapeuten sind hierbei Agenturen einer Caritas (oder der Mildtätigkeit des Korans), wenn sie von externen Geldgebern finanziert werden. Eine Uneigennützigkeit der Therapeuten ist dadurch leicht in Abrede zu stellen. In der Tat ist ein ökonomisches Kalkül bei der therapeutischen Arbeit unvermeidlich, was die Gegengabe „unrein“ erscheinen lässt.

Ein besonderes Problem innerhalb der Gabenbeziehung stellt die Induktion von Schuldempfindungen dar. Der Klienten-Geber erzeugt beim Therapeuten Schuld und womöglich Unsicherheit über die Angemessenheit der Gegengabe.

Worin sollte in dieser Beziehung Schuld bestehen?

Nun, ein Schuldbegriff in einem christlich (protestantisch) geprägten Sinne ist in Kurdistan fremd. Gleichwohl kann psychologisch ein Gläubiger im Islam Schuld aufhäufen. Gegenüber Gott und seinen Geboten und Forderungen kann er Schuld durch das Gebet, durch vorgeschriebene Pflichten, abtragen. Verstöße gegen die Regeln und die Moral der Familienhierarchie können Schuldgefühle mobilisieren. Die sehr weite Verbreitung einer göttlichen Vorbestimmung des Lebenszyklus verhindert jedoch zumeist, dass sich ein Therapeut schuldig fühlt, weil er zu Zeiten der Verfolgung außer Landes war oder seine eigene Verfolgung nicht extrem grausam war, weil er überlebt hat, keinen Sinn in politischer Willkür findet oder seine Gegengabe nicht die erwünschte Wirkung zeigt. Therapeut und Klient teilen in Kurdistan die Unmittelbarkeit politischer Verfolgung als kollektives Merkmal. Sie können sich daher als Geschädigte oder Verluste beklagende Personen begegnen, worin wir landläufig eine Beschränkung der wechselseitigen Entwicklung sehen. In Kurdistan (Kirkuk) betrachten wir eher die solidarische Komponente, die auch dem Therapeuten nützt, sein symbolisches Kapital zu vermehren und die eigenen Verluste in eine Ordnung zu bringen. In kollektiv geschädigten Gesellschaften ist der Therapeut Teil einer großen Selbsthilfeorganisation.

Umgekehrt können Therapeuten in ihren Klienten als Teil der Gegengabe Schuldempfindungen auslösen, die bis zum Abbruch der Beziehung reichen. Dabei spielt der unausgesprochene Verdacht eines Verrats mit negativer Konnotation ebenso eine Hauptrolle wie die bewusste thematische Vermeidung von regressiven Verhaltensweisen, welche bei Lebensbedrohung neben dem Regress in frühe psychosoziale Entwicklungsstufen in der erzwungenen Aufhebung erlernter Körperkontrolle liegen. Der Therapeut, dessen Selbstbild weder das Geständnis noch den Verrat zulässt, ist sehr wohl in der Lage, Schuld beim „freiwillig“ sprechenden Klienten auszulösen, wachzurufen oder zu verstärken. Schamerzeugung kann hinzutreten.

Die emotionalen Qualitäten auf beiden Seiten der Gesprächsteilnehmer entziehen sich einer utilitaristischen Bewertung und Normierung der Tauschbeziehung. Sie geschehen einfach, quasi durch Sinneseindrücke und Wünsche ausgelöst, und stehen außerhalb einer Kontrolle durch die Teilnehmer.

Nahezu alle mit Kurden geführten Interviews und Gespräche kommen durch ihre besondere Form des aufgezeichneten Gesprächs (Tonband) gleich „zur Sache.“ Dadurch entfallen die in der Alltagskommunikation benutzten Abtastbemühungen der Beziehung, die zwischen den Interviewpartnern bereits als vertrauensvoll und stabil vorausgesetzt wird: Lob des Partners, relativ lange Vorrede, historische Bezüge, allmähliche Einkreisung des Anliegens, wenn man den Gesprächspartner noch nicht kennt. Man fällt im Orient nicht gleich „mit der Tür ins Haus,“ sondern testet erst einmal das Fundament einer Beziehung, zuweilen in einer sprachverliebten und formelhaften Weise. Dieses Verhalten kostet Zeit, und die nimmt man sich. Daher besteht fraglos ein anderes Verhältnis zum Nutzen der Zeit. Die Interviews weichen von dieser Praxis ab, die allerdings in unterschiedlichen Milieus auf unterschiedliche Art bewahrt wird. Diese Praxis entstammt sicher ursprünglich einem vornehmen Kodex des Feudalsystems und ist dann in abgestufter Weise in allen sozialen Schichten praktiziert worden. Diese Praxis bezog sich stets auf Angehörige der vermuteten gleichen Schicht, wenn man ein Anliegen vortragen wollte. Unklar ist, ob diese Form, die im Handel noch rudimentär erhalten ist, zuerst als Verhalten für ökonomische Interessen vorhanden war oder erst als kommunikatives Verhalten existierte, bevor es zur Praxis des Bazars wurde. Tatsache ist wohl, dass aus letzterem Grunde im Orient soziale Bezüge eher als beziehungsgesteuert denn als interessengesteuert bezeichnet werden. Möglicherweise besteht noch ein diffuses Bewusstsein davon, dass in der sozialen Bedeutung Beziehung vor Handelsinteressen rangiert, sondern auch in dieser Reihenfolge erlernt wird und sich einprägt.

 

 



[1] Vergl. Maurice Halbwachs (1985) Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

[2] Alain Caillé (2008) Anthropologie der Gabe. Frankfurt/M. Campus. Caillé bezieht sich auf den Essay Marcel Mauss’(1990): Die Gabe (Erstpublikation 1924). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

[3] Siehe Jacques Derrida (2003) Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Berlin Merve. S. 27-30. Darin zeigt sich  die Differenz von pragmatischem und reinem Handeln.