Das Wort Opfer, einzeln oder in Zusammensetzungen, kommt uns leicht und locker von den Lippen. Doch was bewirkt dieser Inbegriff von Passivität, von Schlachtung, Folter und Verletzung, von Zufall und gesellschaftlicher Intention, wenn er sich erst einmal in unserem Inneren als Automatismus sedimentiert hat? Und wohin verästelt sich ein solcher Begriff, dass wir seine ursprüngliche Bedeutung nicht mehr bewusst wahrnehmen, obschon er Wirkungen in unserem Unbewussten entfaltet, also Teil unseres Unbewussten wird und hier das Schicksal von Sprache teilt?

Folteropfer ist eine solche Zusammensetzung, und sie wird global täglich mehr als tausendmal benutzt. So auch im Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin, das sich vor längerer Zeit entschlossen hat, den Opferbegriff durch das Wort „Überlebender“ zu ersetzen. Wie schwer diese Umbenennung fällt, davon zeugt der Gebrauch des Begriffs „Folteropfer“, wenn es um Gutachten und Stellungnahmen für Behörden und Gerichte geht. Mit dem Wort „Opfer“ können leichter Affekte ausgelöst werden, wenn es nur nicht die abstumpfende, inflationäre Zunahme von Opfern gäbe: Flutopfer, Erdbebenopfer, Stasi-Opfer, Verkehrsopfer, Verbrechensopfer, Kriegsopfer, Vertreibungsopfer, Scheidungsopfer, Justizopfer, ja Liebesopfer oder allgemein: Krisenopfer usw. Früher soll es auch Menschenopfer gegeben haben. Die modernen Kriege verursachen keine Menschenopfer, sondern Kollateralschäden.  Das Notopfer, z.B. als Briefmarke, weist einen anderen Charakter auf. Es wird gefordert, um eine Krise abzuwenden oder zu mildern und eine gewisse Gleichheit zu suggerieren. Insgesamt lässt sich sagen: Jeder Mensch ist in seinem Leben mehrfach Opfer geworden. Und insofern könnten wir uns als universelle Selbsthilfegruppe organisieren. Dazu wäre allerdings reduktionistisch der alle Opfer verbindende Anteil zu isolieren und zu beschreiben. Eine neue Anthropologie auf der Basis des Opferdaseins scheint einer Hoffnung verbreitenden Entwicklung wohl eher entgegenzustehen. Opfersein hat so etwas Bestimmendes, Endgültiges und Unverrückbares, wenn wir nicht fröhlich sagen könnten, alle Menschen sind Opfer. Aber dazu sind wir nicht bereit, obwohl wir täglich beobachten, dass ein individuelles Gewaltopfer immer auch die Gesellschaft affiziert und durch Identifikation neue Opfer produziert..

Jeder Opfer genannte Mensch, d.h. ein Mensch mit passiven Gewalterlebnissen, wird sich den Opferstatus (Status heißt hier: Zustand) als Persönlichkeitsmerkmal zurechnen und ein Selbstbewusstsein davon annehmen, je öfter und nachhaltiger die Fremdwahrnehmung die verbalen und symbolischen Signale nach passiven Gewalterlebnissen als Opferstatus qualifiziert, benennt und damit zur Stigmatisierung beiträgt. Viktimisierung ist damit abhängig von einer gesellschaftlichen Fremdzuschreibung. Das so genannte Opfer begreift sich erst durch die gesellschaftliche Benennung als Opfer. Das Selbstbewusstsein als Opfer bildet sich folglich erst aus einem Abgleich von Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, also aus der Differenz der Perspektiven. Wer sich nicht zum Opfer machen lassen will, muss folglich die ihn gerichtete, dominante Fremdwahrnehmung erfolgreich abwehren, indem er sie auf andere Personen projiziert: „Du Opfer!“, sagt der Mensch, der nicht Opfer in seinem Milieu sein will, zu einem anderen.

Empathie ist dann keine Verstärkung des Opferstatus, wenn sie darauf verzichtet, das Opfer als Opfer zu klassifizieren. Der Opferstatus hat nämlich immer eine bedrohliche Komponente. Das liegt in seinem Doppelcharakter begründet: Das Opfer ist und bleibt generalisiert (1) das Produkt einer fremden Gewalthandlung, und es wird (2) für einen gesellschaftlichen Zweck (Zusammenhalt, Spendenbereitschaft) geopfert. Das Opfer ist somit stets das Objekt eines fremden Willens. Wenn es ein Selbstbewusstsein seines Opferstatus entwickelt, kann es kaum mehr entkommen und sich nicht davon emanzipieren.

Es geht bei der Viktimisierung folglich um folgende Frage: Wer viktimisiert wen? Der ursprüngliche Gewalttäter den Geschädigten oder die gesellschaftliche Umgebung den Geschädigten, indem sie ihm einen Opferstatus zuspricht, den Geschädigten nicht nur als Opfer bezeichnet, sondern ihn mit Kennzeichen aus dessen subjektiver Erlebniswelt stigmatisiert? Der Täter hinterlässt einen Menschen mit Schäden, unzureichender Gesundheit, indem er einen Gesunden verletzt. Der Täter produziert nicht ein Opfer, sondern durch sein Handeln hinterlässt er einen Geschädigten. Woher also stammt die quasi automatische Gegenüberstellung von Täter und Opfer? Sprechen wir von diesem „siamesischen“ Zwilling nur bei Gewaltanwendung? Betrug? List?  Wenn man Naturkatastrophen zugrunde legt, ist die Natur die Täterin? Sind Opfer nur dann als solche zu qualifizieren, wenn sie tot sind, oder schon in verletztem Zustand? Schon die vorsatzfreien Zufälle, die zu Verkehrsopfern führen, machen jene Dimensionen von Tätern deutlich, die sich einer Berechenbarkeit und Verantwortung entziehen. Mit der Rede vom Opfer wird in Fällen von Naturkatastrophen auch der Täter transzendiert. Ist es nicht immer die Natur der Lebenswelt, die des Menschen oder der seismischen Gegebenheiten, die Schäden verursacht?

Die heute betriebene Viktimologie ist ein Beispiel für eine Haltung, die einen wesentlichen Aspekt, die gesellschaftliche Verantwortung und Unterstützung, unbewusst macht, indem sie sich allein auf die Dynamik zwischen Gewalttäter und Geschädigten konzentriert, weil sie eine Beziehung, die von Macht und Ohnmacht geprägt ist, unterstellt. Gesellschaftliche Verantwortung wird nur insofern übernommen, als die Gesellschaft stellvertretende Experten benennt und in die Verantwortungsarbeit schickt, vorausgesetzt, sie findet Stellvertreter, die sich schicken lassen. Doch daran scheint kein Mangel zu bestehen. Es gibt also viele Experten, die weltgesellschaftliche Stellvertretung bereitwillig übernehmen, auch wenn sie aus völlig unterschiedlichen Kulturkreisen stammen. Die heutige Viktimologie lässt sich ferner als Beispiel dafür ansehen, wie aus ethisch guten Vorsätzen eine entlastende Verschiebung, ja Verzerrung werden können.

Viktimisierung geht landläufig von einer Konditionierung des (frühen) Opfers durch den (frühen) Täter aus. Das kann, auch unter lange währendem, traumatischem Einfluss, bezweifelt werden. Es muss sogar in Frage gestellt werden. Vielmehr wird der durch Sprache (das Passiv) gebildeten Klassifizierung (Benennungszwang, den Freud noch nicht kannte) aus der gesellschaftlichen Umgebung eine vorrangige Bedeutung bei der Produktion des Opferstatus als Zustand und Persönlichkeitsmerkmal zugesprochen. Der Opferstatus wird von einem Opfer nicht als solcher wahrgenommen. Es erkennt physische und/oder psychische Beschädigungen. Es kommt auch nicht zwangsläufig zu einem chronischen Leiden. Opfer und Täter sind allein durch ungleiche Machtverteilungen charakterisiert. Das Leiden, das posttraumatisch, z.B. nach Geiselhaft, auftritt, ist ein Ergebnis der Beziehung von Macht zu Ohnmacht. Immanente Macht als gesellschaftliche Triebkraft muss daher posttraumatisch  unbewusst gemacht werden, indem die Wirkungen von Macht/Gewalt als psychischer Prozess in das betroffene Individuum verlagert und als Schuldkonstellation nach vorausgegangener Sünde (siehe Hiobs dogmatische Freunde) verstanden werden. Macht als Fähigkeit zur Vernichtung eines Anderen ist und bleibt vorerst noch etwas Unanständiges. Um die Grenzen des Unanständigen sind seit jeher heftige oder untergründige Kämpfe entbrannt. Untergründige Strategien operieren mit Unbewusstmachung (oder Umbenennung, Euphemismen).

Nun hat sich bei Experten, die eine psychologische Wirkung der Täter-Opfer-Beziehung (als Voraussetzung und Ergebnis) favorisieren, selten der Blick für die posttraumatische Beziehung zwischen Geschädigtem und gesellschaftlicher Umgebung geöffnet. Das liegt vermutlich am Standpunkt des urteilenden Experten, der seine psychische Dynamik und seine persönliche Entwicklung in eine solche Betrachtung einbringt und damit Verdrängungsprozessen unterliegt. Auch in jenen Fällen, die sich durch eine innige Identifikation der geschädigten Person mit der Täterfigur auszeichnen, ist die posttraumatische Fremdbetrachtung, die verstehen will, bedeutsamer als die zum Überleben eingesetzte Eigenbetrachtung der ohnmächtigen Person. Das so genannte Stockholm-Syndrom ist daher eine Variante von Verhaltensmustern nach Geiselnahme, die wegen der Identifikation und wegen der Verschmelzungswünsche mit den Tätern durch die Geiseln in ein pathologisches Syndrom eingerückt werden, weil landläufig Abscheu vor den Tätern und nicht Bindungseffekte erwartet werden. Ohnmacht erzeugt neben Wut vor allem Angst, die besonders suggestibel macht für alle denkbaren Strohhalme und Überlebenswünsche.

Für problematisch hielt ich stets die Auffassung, ein vormaliges Opfer habe, wenn es erneut in und wegen seiner Ohnmacht geschädigt wird, Signale ausgesandt, die den Täter ermutigten anzunehmen, dass solch ein Mensch sich in eine künftige Ohnmacht fügen würde. Solche Signale seien dem Opfer von Macht/Gewalt nicht bewusst, würden aber vom Täter gelesen werden können, wobei auch der Lesevorgang dem Täter selten bewusst sei. Der erworbene Habitus, zuweilen als erlernte Hilflosigkeit bezeichnet, schicke die Zeichen aus, die als Dispositionen Resultat früherer traumatischer Erlebnisse (primärer, sekundärer und tertiärer Viktimisierung) seien. Ob es  um Körperhaltung, Stimme, Blick oder Kleidung, Beruf, Wortwahl u.a. geht, es handele sich um Äußerungen einer Persönlichkeit, die ihren Ohnmachtstatus anzeige, zuweilen gar auf Belohnungen aus sei. In analoger Weise drücken Dreiteiler, Zigarre und Zylinder Macht aus. Hier werden Klischees zu Persönlichkeitsmerkmalen, die vor allem von zur Simplifizierung neigenden Personen als scheinbar einsichtige Zuschreibungen vorgenommen werden. Klischees mögen sich auf Statistiken stützen. Den Irrtum tragen Statistiken bereits als Geburtsfehler in sich. Einige sagen, das mache Statistiken so menschlich. Letztlich aber geht es wohl um einen Benennungs- und Erklärungszwang, wobei fälschlich die Benennung bereits für den wesentlichen Teil der Erklärung gehalten wird, weil sich darin eine Differenz und Abgrenzung ausdrücke.

Opferstatus oder im Einzelfalle die Opferrolle sind, wie die Viktimologie einräumt, abhängig von einem Zwang zur Bezeichnung und wohl auch zur Stigmatisierung oder Etikettierung durch die Gesellschaft. Dass Gesellschaft in den Prozess der Opferproduktion (nicht nur sprachlich) eingreift, mag man an Funktion und Rolle des Opfermythos erkennen. Er wird nicht von einer individuellen Rolle induziert und diktiert oder von einem Individuum erfunden. Vielmehr schaltet sich ein politisch-gesellschaftlicher Zweck in die Beschreibung eines Opfermythos ein (Leonidas, Kamikaze, Nazis in Kriegen, literarisch z. B. als „John Maynard“ von Fontane). Ein Opfermythos enthält stets die Überhöhung des individuellen Opfers für das Überleben der Gemeinschaft. In dieser Überhöhung liegt zugleich das Bedrohliche, das die Botschaft des Opfermythos mit den antiken pharmakoi teilt. Zur Abwehr einer Gefährdung der Gemeinschaft konnten ausgewählte Opfer, d. h. zuvor stigmatisierte  Menschen, dem Tod ausgeliefert werden. Es sind also keine guten Zeiten, die sich sehr unterschiedlicher Opfermythen bedienen.

Ganz anders versteht sich die heutige Viktimologie, die zumeist der Kriminologie zugerechnet wird, weil diese davon ausgeht, dass ungesetzliche Handlungen Opfer hervorbringen. Viktimologie betont als ihr Interesse an den Betrachtungsweisen des Opfers eine Prävention ermöglichende Forschungspraxis. Ihr Hauptziel ist die Beantwortung der Frage: Wie kann ein Mensch verhindern, zum Opfer und zum wiederholten Mal Opfer zu werden? Welches ist der Beitrag des Opfers zum Tatgeschehen eines Verbrechens? Das über Jahrhunderte unerklärliche Faszinosum Verbrecher wird durch den Blick auf das Opfer ergänzt. Das können wir als Erweiterung unserer Betrachtungen ansehen. Aber wie so oft, wenn sich der gute Vorsatz in Routine verliert, ist eine solche Horizonterweiterung von politischen Einflüssen umgeben und durch political correctness, die sich vor dem Zu-Ende-Denken fürchtet,  gefährdet oder scheitert am Wunsch, Wissenschaft zu werden, weil sie selbstreflexive Arbeiten scheut.

Die Wissenschaft von den Verbrechensopfern stellt sich heroisch den Zufällen entgegen, die ein Opfer durch Affektschulung, Erziehung, Körperbeherrschung, Bildung, Berufswahl, Selbstbewusstsein oder durch Fehlen dieser Fähigkeiten erst zufällig zum Opfer machen können, von den Zufällen des Orts und der Zeit ganz abgesehen. Die Zufälle von individueller Existenz, die sich durchaus zu einem selbstbewussten Habitus  verfestigen können, zeigen die Grenzen von solcher Wissenschaft auf. Heroisch nennen wir den Kampf gegen Zufälle, weil sich im Bild vom Helden hintergründig die ambivalente Sehnsucht nach determinierter Gewissheit verbirgt. Einerseits wünscht man einen Determinismus, andererseits braucht man dann keine Helden mehr. Helden sind doof, steht auf einer Wand. Genau!

 

 

Wenn ein Mensch aus politischen, d.h. Machtgründen gefoltert wurde, dann wurde er willkürlicher Gewalt ausgesetzt.

Wenn dieser Mensch nach seiner Freilassung/Befreiung als Opfer bezeichnet wird, dann soll damit angezeigt werden, dass dieses zurückliegende Ereignis in seinen Folgeeffekten auf den betroffenen Menschen noch in der Gegenwart wirksam ist. Es wird damit auch festgestellt, dass der Mensch, der als Opfer bezeichnet wird, diese Anzeichen über längere Zeiten trägt. Wann darf ein Mensch, der als Opfer von Folter bezeichnet wird, diese Bezeichnung ablegen? Nie, weil sie zu einer Selbstkennzeichnung wird? Und was bewirkt diese Bezeichnung, wenn sie keine Hoffnung auf Abschluss gewährt?  Wenn ein von Folter betroffener Mensch nicht mehr heimisch werden kann in dieser Welt?

Jean Améry hat sich während seines Lebens gegen diese Kategorisierung gewehrt. Es ist kein Grund ersichtlich, warum wir der Authentizität und Selbstbefragung Amérys nicht folgen sollten. Auch gegen eine psychiatrische Klinifizierung seiner Erlebnisse hat sich Améry heftig und spöttisch gewandt. Er wollte kein Opfer sein. Daher hat er zu Lebzeiten Widerstand geleistet und  den Zustand der Welt und die ihn umgebende Gesellschaft auf die Anklagebank gesetzt. Die Anklage ist durch seine Selbsttötung nicht hinfällig geworden. Selbstmord verjährt nicht.