Trauma und seine Folgen sind schwer zu definieren[1], weil sie zwischen ihren physischen und psychischen Phänotypen und Anwendungsformen, dem zugrunde liegenden Verständnis vom Gedächtnis und seinen Funktionen und den theoretischen Verästelungen der Psychodynamik auf vielfältige Art hin- und heroszillieren, darin ähnlich dem Begriff des Bewusstseins. Sehr unterschiedlich akzentuiert erscheinen die Anwendungsformen im klinisch-psychologischen, literarischen, kulturwissenschaftlichen und anthropologischen Bereich. Überraschend wirkt dabei die weit gehende Vermeidung eines weiteren amorphen Begriffs: dem einer diffusen oder überwältigenden oder situativen Angst, die lähmt und unfähig zum geordneten Denken macht, Erregung produziert und eine Kaskade von stofflichen Einflüssen freisetzt. Gleichwohl wird Angst zumeist als eine Emotion unter anderen marginalisiert. Der Umgang mit individuell empfundener Angst wird von Vermeidung und Verdrängung geprägt.
Nach umfassender Lektüre von Fachartikeln und Fachbüchern gewinnt man den Eindruck, mit der Psychotherapie von Psychotraumata werde eine Behandlung vorgenommen von etwas, was sich dem vollständigen Verständnis entzieht oder was erst in der Kommunikation mit Gesprächspartnern konstruiert und dann als „Wahrheit“ in den Patienten (und zugleich in den Therapeuten) implantiert werde. An einer solchen Implantation ist vorrangig die Sprache beteiligt, die als „Fremdkörper“ in jeden Menschen gelangt. Eine erste Entfremdung in jeder individuellen Entwicklung geht von Worten und Bedeutungen aus, die jeder vorfindet wie die Welt der Dinge. Niemand kann sich im Bereich der Sprachbedeutungen eine Autorschaft zusprechen. Jeder muss mit den fremden Zuschreibungen zurechtkommen. Man kann durchaus sagen, mit dem Erlernen von Sprache wird das Fremde inkorporiert. Das Fremde ersetzt das Eigene.
Zirkuläre Argumentationen dominieren den Diskurs über Trauma, seine Folgen, seinen Verlauf und potenzielle Interventionschancen. Obschon sich viele Therapeuten dieses Dilemmas zeitweilig bewusst sind, ist die therapeutische Praxis, also der Umgang mit Klienten, von Theoriearmut hinsichtlich der Grundlagen und Grundannahmen geprägt. Psychotherapeutische Behandlung (mit wenigen Ausnahmen) vermag mit der Unsicherheit des Wissens und der Vorläufigkeit und der Fragwürdigkeit der Erkenntnisse nicht umzugehen und sich dies einzugestehen. Jedes Leck im Kahn der Theorie wird nicht etwa geflickt, sondern man baut neue Kähne, ganze Flotten.
Die Folgen von extremem Trauma zeigen transgenerationale Wirkungen, freilich erst im 20. Jahrhundert (Literatur!). Zuvor waren traumatisierte Personen beklagenswerte Schicksale, die in die Betreuung von Angehörigen, Freunden, Heilern oder Geistlichen gehörten. In die ärztliche Praxis führten Traumafolgen nur dann, wenn sie in psychiatrische Diagnosen gekleidet wurden. Wer den zugeneigten Personen aus den privaten oder professionellen Umfeld nicht mehr vertraute, sofern er männlichen Geschlechts war, ergab sich dem Alkohol, der Spielleidenschaft, ging zur Armee oder suchte eine andere Form der Selbstbeschädigung.
Die hervorgebrachten Kategorien in der klinischen psychiatrischen Diagnostik posttraumatischer Folgezustände werden heutzutage reichlich mechanisch benutzt, besonders seit sie durch standardisierte, d.h. normierte und homogenisierende, Fragebögen Menschen statistisch erfassbar und messbar machen. Sie bilden Etikette, die vorgeblich eine betreuende Intervention drängend erforderlich macht – ein riesiges Potenzial für Helferberufe.
Allein an 215 000 im Jahre 2005 aus dem Irak und Afghanistan heimkehrenden US-Soldaten wurde die Diagnose PTSD gestellt, laut Bundeswehr wurden 671 Soldaten seit 1995 mit dieser Diagnose versehen. (SZ vom 13.8.2007, Johannes Boie: Den Krieg in die Heimat tragen. Genauere Zahlen der US-Armee in Afghanistan und Irak: Joseph Stiglitz, Linda Bilmes (2008) Die wahren Kosten des Krieges. Darin die versicherungsrelevanten Fälle, die in den nächsten Jahrzehnten auf die US-Gesellschaft zukommen). Zivilisten als Opfer von Willkür, Gewalt und politischer Verfolgung mit anhaltender Bedrohung scheinen nicht über präzise Zahlen zu verfügen. Über die Zahlen von sexuell missbrauchten Kindern oder im Kindesalter durch physische und psychische Gewalt missbrauchten Erwachsenen liegen keine sicheren Angaben vor. Schätzzahlen lassen jedem Bürger den Atem stocken. Die aktuelle Sensibilität ist für solche Traumata stark erhöht gegenüber der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. PTSD ist nicht nur eine Diagnose einer misslungenen oder noch nicht (nie) abgeschlossenen subjektiven Verarbeitung von Leid, Unglück, Furcht, sondern auch geeignet, als moralische Sonde in einer Gesellschaft zu funktionieren, darin, wie Susan Sontag sagte, ähnlich AIDS und Tuberkulose, deren Infizierte gleichfalls eine moralische Bewertung durch die Gesellschaft angeheftet wurde.[2]
Die moralische Aufrüstung von PTSD ist verborgen und daher nicht leicht zu erkennen. Sie hat ihre Verdienste durch die Fokussierung auf die Ohnmächtigen. Die moralische Infiltration liegt seit ihrer Aufnahme in die gebräuchlichen Klassifikationen (DSM und ICD 10) in der doppelten Bedeutung von Rehabilitation: Die auffälligen Vietnam-Veteranen sollten nicht nur Diagnostik und Therapie erhalten, sie sollten auch ihren ramponierter Ruf als Verlierer und grausame Menschenrechtsverletzer, die mit ihrem Selbstverständnis kollidierten, mit einer psychiatrischen Diagnose wiederherstellen können, ein sehr heikles Unternehmen. Da die Politik und zahlreiche Lobbyisten sich der Anerkennung der Diagnose annahmen[3], wurde die Faktizität eines zuvor unübersichtlichen Symptombündels real. Wenn von Therapeuten Empathie verlangt wurde, konnte man sie implizit auch von der Gesellschaft erwarten. Wo sie sich nicht einstellen wollte, bewies die Filmindustrie ihre moralisch emotionalisierende Kraft. Damit wurde Hollywood zu einem ambivalenten und kollektiven Therapeuten. Es entstand eine Politik der Affekte[4], die sorgfältig unterschied zwischen Affekten (Empörung, Trauer), die erwünscht waren und solchen, deren Entstehung (zumeist durch Nicht- oder Fehlinformation) verhindert werden sollte. Nicht nur in den USA finden wir erfolgreiche Bemühungen, die Regulierung der Affekte in staatliche Regie zu bringen.
Die oben erwähnten Zahlen machen nicht nur ein Zahlenproblem sichtbar, wenn man Folgendiagnostik von Trauma in den nördlichen Teil des Irak verlegt. Wie soll im Falle einer kollektiven Traumatisierung eine Betreuung oder Behandlung aussehen, da es kaum die Denk- und Ordnungsmuster für die Rolle von Trauma im Lebensverlauf eines Menschen, kaum kompetente oder tief schürfende Fachkräfte gibt und da politisch motivierte Gewalt, Grausamkeit, Folter und Willkür in ihren Auswirkungen bislang nicht als Anlass für psychosoziale Interventionen durch Professionelle gesehen wurden und möglicherweise aufgrund kultureller Unterschiede als Behandlung westlicher Prägung nie wird gesehen werden können? Wie also soll eine Analyse der Beschädigungsfolgen Einzelner aussehen, wenn man das Konzept sequentieller Traumatisierung zugrunde legt, wenn folglich durch Haft und Folter, Mord und Totschlag indirekt und direkt Traumatisierte heute in einer Gesellschaft leben, die sich insgesamt als traumatisiert beschreibt und wo das Alltagsleben praktisch als permanentes traumatisches Gedächtnis fungiert? Wo und wann wird man den Bruch erwarten dürfen, an dem die Vergangenheit als soweit abgeschlossen betrachtet wird, dass sie die Beziehung von Gegenwart zu Zukunft nicht mehr stört oder den festen Griff der Gegenwart auf die Zukunft lockert? Vielmehr so konstruiert wird, dass überhaupt selbst bestimmte Zukunft möglich wird?
Daran, dass das Alltagsleben im privaten und öffentlichen Raum, in Institutionen und Familien in Kurdistan/Irak täglich erfolgt, kann man erkennen, dass solche Fragen eine Tendenz zur Dramatisierung aufscheinen lassen. Gleichwohl gibt es Unterschiede in der psychosozialen Existenz von kurdischen Männern, Frauen und Kindern. Diese ist, das ist meine Überzeugung, aber nicht allein durch multiple Traumata der Vergangenheit und der Gegenwart beeinflusst, sondern durch ökonomische Verteilungen und Gerechtigkeitsvorstellungen, die Stellung von Frauen und Männern, Zugang zu Bildungseinrichtungen und –inhalten und anderen Einflüssen von Macht, Ehre, Ruhm und Permanenz.
Man kann nicht bestreiten: In meinem Projekt scheint ein imperialer Charakter durch: Wissenschaft, diagnostische Kategorien, Denkschemata und Definitionsgerangel sowie positiv bewertete Helfereinsätze transportieren „westliche“ Sichtweisen über die Folgen von illegitimer Gewalt und treten damit in Konkurrenz, ja in einen Verdrängungswettbewerb zu den Betrachtungen, die in der kurdischen Region des Irak seit langem üblich waren. Das auf Opfer von willkürlicher (zufälliger) Gewalt zentrierte Konzept einer posttraumatischen Belastungsstörung ist in Kurdistan/Irak weit gehend unbekannt. Es müsste folglich importiert werden. Das bedeutet aber nicht, dass Menschen in Kurdistan/Irak, die Gewalttraumata erlitten haben, nicht unter den Folgen Anpassungsprobleme oder Schmerzen über lange Zeiträume aufweisen, die ihren Alltag und den ihrer Angehörigen störend oder gar quälend beeinflussen. Die Bedeutungszuschreibung der Gefühle und Verluste nach erlebtem Gewalttrauma wird dort im politischen und sozialen Kontext ihrer Entstehung vorgenommen und nicht primär aus den psychologisch-klinischen Folgeerscheinungen abgeleitet. Es handelt sich um Entäußerungen von gebündelter oder angemaßter Macht. Vielmehr begegnet man dort der klinischen Kategorisierung mit Skepsis oder Ablehnung, obschon die Beschreibung der möglichen vielfältigen Folgen durchaus akzeptiert wird, ohne dass daraus eine psychiatrische Kategorie entsteht. Eine Einverleibung beschreibbarer Leiden in den psychologisch-medizinischen Korpus wird gefürchtet und abgelehnt, da die aus Gewalterlebnissen resultierenden Leiden nicht einer Instanz zugeführt werden, die außerhalb der „Irrenanstalten“ liegt, wie es eine ambulante Therapie in westlichen Gesellschaften vermag. Es fehlt in Kurdistan/Irak einfach ein Mittelbau zwischen primärer Familienhilfe und Anstalt. Die in Kurdistan/Irak vorgenommene Bedeutungszuschreibung enthüllt eine historische Dimension mit einem Selbstbild, das die erlittene Gewalt und Willkür primär der Zugehörigkeit zur Ethnie der Kurden zuschreibt und erst in zweiter Linie einer bestimmten politischen Haltung und Orientierung, der Zugehörigkeit zu einer Geschlechtsrolle oder der Bedeutung und Gefährdung im Widerstand. Dieses Muster der Bedeutungszuschreibung kann allerdings leicht zu einem Selbstbetrug, zu einer Verkennung der Realität und zu einem Bestreiten von Verantwortung führen, wie noch auszuführen ist.
Imperial müssen wir die Strategie der Ausbreitung des PTSD-Konzepts deshalb nennen, weil sie wie die Expansion der Multiplen Persönlichkeitsstörung – heute Dissoziationstörung – Beobachtungen aus den USA, die anderswo unbekannt oder ohne Begriffsapparat waren, mit Missionaren und Universalitätsansprüchen zu den „weißen Flecken“ der Welt trug. (Hacking, S. 23) Hierbei handelte es sich nicht um das Verhalten von Elektronen im Atom oder ein Modell der Helix, sondern um das Leid von Menschen und die therapeutische Beseitigung des Leids. Leid als existenzielle Kategorie sträubt sich gegen eine Einvernahme durch Naturwissenschaften. Das liegt nicht etwa an der Rückständigkeit der Kurden und Araber. Das liegt wesentlich an den religiösen und sozialen Denkmustern, die eine Kontinuität und Gewohnheit repräsentieren. Es geht beim Export von Denk- und Erklärungsmustern um die Definitionshoheit über die Idee des (Psycho-)Traumas und sein Wirken im Leben von Menschen. Es geht um die Stellung und Idee der Seele, ihre Funktionen und Abweichungen von festgesetzten und tradierten Normen. Indem von Universalität gesprochen wurde, lösten sich kulturelle Unterschiede der Seelenkonzepte auf. Man postulierte die Einheitsseele. Der universelle Anspruch konnte deshalb erhoben werden, weil eine biologische Psychiatrie die Messbarkeit von Traumafolgen nicht nur auf standardisierte Fragebögen stützte, sondern auch „beweisende“ Messergebnisse in Blut und Urin vorweisen konnte. Die Erforscher der Seele waren somit in die „exakten“ Naturwissenschaften (auch Freud war ursprünglich von der Neurologie gestartet) eingedrungen und benutzten deren Reputation für Universalitätsforderungen. Dabei kam es zu Klischeebildungen und Verflachungen durch Symptomkataloge, die in der Praxis gern benutzt werden, aber dabei nur ihr Oberflächenwissen offenbaren (D. Becker, Verflochtene Geschichten, S. 184-187).
Die präverbal empfundene Abwehr gegen eine lineare Übertragung des „westlichen und imperialen“ Denkschemas lassen nach anderen diagnostischen oder begrifflichen Zuordnungen suchen, die eine gesellschaftliche Verantwortung für Traumatisierte ebenso enthält wie eine Benennung der Verursachungen und der Folgen von massiven Traumata. Gegen das euroamerikanische Modell der Traumafolgen hat sich eine Reihe von Kritikern – Theoretiker wie auch Praktiker - in Stellung gebracht. Sie werden, um es martialisch zu formulieren, totgeschwiegen, ihre Argumente abgewürgt und ihre Publikationen aus dem mainstream exkommuniziert (Literatur).
Gegen den herrschenden und definitionsmächtigen Diskurs im Bereich von Diagnostik und Therapie von „traumatischem Gedächtnis“, der Universalität beansprucht, soll ein zwar westlich inspiriertes, gleichwohl allgemeines Konzept gestellt werden, das den Begriff und Inhalt der Entfremdung in den Mittelpunkt rückt. Begriffe ohne Füllung sind wie Pfannkuchen ohne Pflaumenmus. Erst der lebendige Gebrauch macht daraus einen verbindlichen Inhalt. Die Debatte um Entfremdung als essentialistische und daher unbrauchbare Kategorie zur Diagnostik individueller Phänomene, die gesellschaftlich produziert wurden, wird insoweit zur Kenntnis genommen, als es sich dabei stets um eine angemaßte Kategorie des „richtigen Lebens“ oder vom eigentlichen und ursprünglichen Wesen des Menschen in der Gesellschaft handelt, das zugleich nicht in der Lage ist, kulturelle und regionale Besonderheiten zu erfassen. Dieser Kritik schließen wir uns an.
Entfremdung soll hier im Zusammenhang mit Gewalttraumata als deskriptive Kategorie gefasst werden, die weit gehend ohne die klinischen und statistischen Beigaben auskommen kann.
Wenn, wie alle interviewten Klienten berichteten, das Folter- und Willkürtrauma dazu führe, dass sich die Personen verlören, dass sie posttraumatisch (mit mehr oder minder langer Latenz) außer sich seien, dass alles um sie wie unwirklich erscheine, dass sie nicht sie selbst seien, seit sie das Trauma erlitten hätten, dann ließe sich wohl in einem diagnostischen Sinne von einer Entfremdung sprechen. Solche beschädigten Menschen sind sich fremd geworden, und sie verraten eine Scheu, sich einer als fremd wahrgenommenen Sprache anzuvertrauen.
Entfremdung soll deshalb als Alternative zur herkömmlichen Nosologie gewählt werden, weil darin sieben im Allgemeinen in der landläufigen Traumatologie unterdrückte Aspekte erkennbar werden:
Menschliche Gesellschaft kann traumatisieren. Handeln in und für Gesellschaft im weitesten Sinne bringt jene Traumata hervor, die heute in einen klinisch-psychologischen Kontext gerückt werden. Handeln kann Widerstand gegen Herrschende bedeuten ebenso wie Praktiken der Herrschaft selbst.
Gesellschaft hat den größten Anteil an der Verleugnung ihrer Rolle als Verursacher von Traumata. Sie unternimmt viel, um ihren Einfluss auf die Entstehung von Traumata und die Ausbildung posttraumatischer Symptome unbewusst zu machen.
Die Individuen der Gesellschaft inkorporieren auch die unbewusst gemachten Einflüsse in ihrer Entwicklung. Individuen tragen somit kollektives Unbewusstes. Der Einzelne wird zum Geheimnisträger des gesellschaftlich Unbewussten. Diese Anteile verhalten sich anti-aufklärerisch.
Die Sicherheitsversprechen, die eine Integrität der Einzelnen in der Gesellschaft gewährleisten sollen, erweisen sich als Illusion. Der Widerspruch zwischen Versprechen und Realität begründet den Beginn einer vertieften Entfremdungserfahrung.
Entfremdung erscheint dann als vollendet, wenn lebensbedrohliche Gewalt von der Gesellschaft ausgeht (ein Befehl, in den Krieg zu ziehen, eine oppositionelle Haltung, eine ethnische oder religiöse Zugehörigkeit, Teilnahme an technischen „Errungenschaften“ usw.) und diese vom einzelnen Betroffenen wahrgenommene Vernichtungspotenz mit scheinbar rationalen und höheren Zwecken legitimiert wird. Es handelt sich um eine auch in den Gefühlen verankerte Erkenntnis, dass die und das System, die mir „leben“ beibringen, auch meine Verletzung, Psychotraumatisierung, gar Vernichtung bewirken können.
Da diese gegensätzlichen Tendenzen auf Dauer nicht auszuhalten sind, bildet das psychophysische System des Individuums Symptome aus, die eine Aufmerksamkeit der Gesellschaft herausfordern und die zugleich auf die Fähigkeit des Individuums hinweisen zu symbolisieren. In gleichsam regressiven Schritten wird vom Entfremdeten das Stadium der frühen Illusion beschworen: Zurück zur Verschleierung! Für viele ein erfolgloser Schritt.
Klinifizierungen dieser Folgen von Traumata erhöhen den realen Stress, weil sie im Orient in „Irrenanstalten“ führen können. Die Furcht vor Anstalten und davor, für „verrückt“ erklärt zu werden und der Familienreputation Schaden zuzufügen, führt in zahlreichen Fällen zu einer „gezähmten Symptomatik“, zum Verbergen der Folgen von politisch motivierten Traumata. In der Offenbarung von seelischen Schäden liegt eine Anerkennung des Triumphes des Verursachers. Zugleich war in der Vergangenheit mit der Benennung der Ursachen (unter der Tyrannei Saddams) das Risiko einer Wiederholung verbunden.
(Entfremdung ist wohl in der Wortbedeutung ein Widerspruch in sich: Im Englischen heißt das alienation, Fremdmachung, Fremdwerdung. Mit dem Präfix ent- wird im Deutschen angezeigt, dass etwas abgelegt, aufgehoben, beseitigt oder weggetan wird (Entzweiung, Enttäuschung, Entscheidung). Es wird in der Entfremdung aber nicht die Fremdwerdung beseitigt, sondern erst bewirkt. Es handelt sich nicht um die Aufhebung der Fremdwerdung. Die Zusammensetzung des Wortes und die Bedeutung widersprechen sich also. Es handelt sich um sprachliche Gaukelei.)
Der Einwand, mit dem Begriff der Entfremdung werde nur ein haltloser und Schwindel erregender Begriff durch einen anderen ersetzt, trifft nicht zu. Während PTSD einen allgemein gehaltenen Stressor als Voraussetzung für die Ausbildung von Symptomen fordert, der die Wechselwirkungen und Verantwortlichkeiten nicht benennt und als Überforderung des physiologischen Systems eines Individuums angesehen wird, zielt der Entfremdungsbegriff auf die soziale Genese der Symptombildung, woraus sich dann auch Konsequenzen für die „Therapie“ ergäben, wenn man sich auf „man-made-desasters“ konzentriert. Therapie kann folglich nicht individualisiert betrachtet werden, sondern müsste stets den sozialen Rahmen fokussieren, aus dem das Trauma entstand. Der soziale Rahmen ist dabei durch historische Dimensionen und Funktionen, Interessen, Macht und Verschleierungstechniken charakterisiert. Nach dem Trauma kann Dekonstruktion beginnen: die Vivisektion der Illusionen und die illusionsarme Neuformierung der Gefühle, an der sich Gesellschaft und nicht etwa nur Therapeuten beteiligen sollen. Solche Öffnungen bietet das Konzept der posttraumatischen Belastungsstörung nicht, wenngleich PTSD sich mittlerweile als 100-Euro-Frage in Talk- und Quiz-Shows präsentiert. Dieses Konzept der Entfremdung erfordert den geschulten und diplomierten Fachmenschen für Empathie und Zuhören.
Freilich passt sich das Konzept PTSD in den wissenschaftlichen Diskurs der Gegenwart besser ein: durch seine Orientierung auf die neurowissenschaftliche Forschung, in deren Bereich die Antworten auf ätiologische und prozessorale Fragen gesehen werden, was ein besseres Zeitmanagement durch Zurückdrängung psychodynamischer Modelle und Theorien bedeutet (siehe Young:: Harmony of Illusions...). Im Hintergrund der neueren Entwicklungen eines konzeptionellen Diskurses von Psychotrauma steht eine erwartungsfrohe Pharmaindustrie.
Indem die derzeit dominante, von der Pharmaindustrie favorisierte Forschung auf einen Stressor fokussiert, der eine neurophysiologische Reaktionskette in Gang bringt, erhält ein Symptome ausbildendes komplexes Ursachenbündel in Verbindung mit der menschlichen Reaktionsweise den Rang einer physikalischen Gesetzmäßigkeit. Dabei handelt es sich um eine elende Relativierung: Alle Stressoren einer definierten Intensität müssten nach diesem physikalischen Modell in die Maladaption führen, unabhängig davon, ob sie durch Autounfälle, Folter, Erdbeben, Krieg oder Unfälle in einem Chemiewerk, Atomkraftwerk, durch Verluste enger Angehöriger, vorsätzlich intendiert oder zufällig, hervorgebracht wurden. Das ist jedoch, empirisch betrachtet, nicht der Fall. Zwar darf man verallgemeinern, dass alle Menschen unter bestimmten Stressoren unangenehme Sensationen empfinden. Nach den unterschiedlichsten Traumen wird jedoch nicht einmal bei der Mehrheit der Betroffenen eine als pathologisch diagnostizierte Symptombildung festgestellt. Dennoch entsteht hintergründig und expansiv so etwas wie die Physikalisierung der Seele und des individuellen seelischen Reaktionsvermögens, das unbestritten von physikalischen und chemischen Prozessen repräsentiert wird. Physikalische Gesetze beanspruchen, unabhängig von menschlichen Einflüssen wirksam, gleichsam in Laboren reproduzierbar zu sein. Als Oberbegriff für Auslöser von physiologischen Reaktionen trägt der so genannte Stressor dazu bei, die Unterschiede in den auslösenden Bedingungen, den individuellen oder kollektiven Kontexten, ebenso einzuebnen wie auch die vielfältigen Reaktionsbilder. Erlernte, kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse des Umgangs mit Stressreaktionen und deren Integration werden unbewusst gemacht, wenn man von einer zwangsläufigen Überwältigung spricht.
Indem folglich seelische Aspekte von Gewalt- und Ohnmachterleben tendenziell physikalisiert werden, steigert sich das Interesse der Pharmabranche.
Nun würde sich niemand in Kurdistan/Irak dazu versteigen zu behaupten, die chemischen und physikalischen Reaktionsprozesse im Körper eines Traumatisierten stellten qualitativ oder quantitativ das Äquivalent von „Seele“ dar. Sie sind in ihren Wechselwirkungen die zumeist noch unbekannten Begleiter eines Integrationsverfahrens der Sinnsuche und Sinngebung in einem kulturellen Raum, also dessen, was man in westlichen Gesellschaften psychische Verarbeitung nennt. Die Pharmabranche sieht freilich Ansatzpunkte für medikamentöse Eingriffe bei den stofflichen Prozessen, die eine dauerhafte Einschreibung des traumatischen Gedächtnisses beeinflussen. Daher wird sehr intensiv erforscht, welche Stoffe die Tiefe der Einschreibung ins traumatische Gedächtnis unter dem Einfluss von Adrenalin blockieren könnten, z.B. Betaadrenalinblocker (Pitman und Marmar in den USA und Vaiva in Frankreich). Psychodynamiker verteidigen dagegen ein Konstrukt von „Seele“, das derzeit verdrängt zu werden droht. Seit dem 11.9.2001 wird der pharmakologische Forschungszweig verstärkt. Es geht um die Behandlung großer Zahlen. Alte Forschungsergebnisse aus den frühen 1990er Jahren werden hervorgeholt. (Vergl. S. Graessner (2003): Ersetzen Pharmakologen die Psychotherapie bei posttraumatisch Belastungsgestörten? - Vom Nutzen einer Pharmakotherapie für folterüberlebende Flüchtlinge, unveröffentlichtes Manuskript)
In anderen Beiträgen haben wir den Charakter der kolonialen Unterdrückung der Kurden durch Araber und Türken und Perser beschrieben. Dabei war uns wichtig, aus der Vorstellung der Enteignung von kurdischer Geschichte eine Selbstentfremdung breiter Bevölkerungsschichten abzuleiten. Eine Lektüre von Frantz Fanon und seiner Analyse des Kolonialismus (inklusive Befreiungskampf und Repressionsfolgen) könnte hilfreich sein, wenngleich seine Vorstellung von „négritude“ sich nicht widerstandslos auf kurdische Verhältnisse übertragen lässt. Eine analoge „Kurditude“ enthält jedoch auch die Inkorporierung der Betrachtung und Bewertung kurdischen Lebens durch koloniale Mächte als eigene Wahrnehmung. Gerade gegen die Übernahme des Fremdbildes wehrte und wehrt sich der kurdische Widerstand, z.B. in der Türkei.
Bei Frantz Fanon nimmt der Begriff der Entfremdung eine zentrale Rolle ein. In seinem Werk „Schwarze Haut – weiße Masken“ (1985 Frankfurt, Suhrkamp) erläutert Fanon unterschiedliche Erscheinungen von Entfremdung durch Hautfarbe, Kolonialismus, Sprache, Ökonomie. Fanons zweites Buch gräbt tiefer als die eher agitatorische und atemlose Rhetorik der „Verdammten der Erde“. Fanons Werk hat die palästinensischen Autoren Hussein und Mohammad Chawich zu einer 1995 in Beirut veröffentlichten Studie veranlasst: „Studien zur psychologischen Analyse der entfremdeten Persönlichkeit“ (Al-Hubb wal-istilab. Dirasat fi t-tahlil an-nafsi lisch-schahsiya al-mustalaba, teilweise übersetzt von G. Orth), in der sie eine Einteilung der Entfremdungsphänomene in vier Formen vornehmen: moralische, klassenbezogene, ohnmachtsbezogene und herkunftsbezogene. Diese Einteilung ließe sich, obschon sie sich vordergründig auf die Lebenssituation von Palästinensern bezieht, auf die kurdische Region des Irak übertragen. Hier fand sich über lange Jahre ein Kolonialismus mit unterschiedlichen Kolonialmächten (Osmanen, Briten, Araber) und damit zuletzt das Pendant zum „Überlegenheitskomplex“ der Weißen im Konzept Fanons als arabische Superiorität und Verdrängungspolitik und zugleich der „Minderwertigkeitskomplex“ der kurdischen Gesellschaft, von denen Teile umso assimilierter erschienen, je besser sie Arabisch sprachen, je gebildeter sie sich darstellten und folglich den kolonialen Aspekt von Herrschaft am erfolgreichsten in ihrem Habitus verkörperten. Womit sie zugleich Trennlinien und hierarchische Abgrenzungen in die kurdische Gesellschaft einzogen. H. und M. Chawich haben nicht ohne Grund sich auf einen Entfremdungsbegriff bezogen und als Psychologen eben nicht den klinischen Zugang zu einem politischen Problem gesucht. Es ist ihrer sozialpsychologischen Einteilung insofern zuzustimmen, als die ohnmachtsbezogene Entfremdung als Folge von unmittelbaren Demütigungen und willkürlicher Gewalt aufgefasst werden kann. Für Kurden insgesamt ist ferner auch die herkunftsbezogene Entfremdung relevant, weil, wie wir an anderer Stelle gesagt haben, die Ethnizität der Kurden von ihnen selbst als Identitätsstiftung benutzt wird, zugleich jedoch von außen, d.h. von anderen Gruppen, konstruiert und verfestigt wird.. Von Klassen bezogener Entfremdung wird man insofern nicht sprechen können, weil es den klassischen Klassenbegriff in der Feudalgesellschaft in Kurdistan/Irak nicht gab bzw. heute eine eher neue Klassifikation in urban und rural erforderlich wäre, denn Stadt und Land zeigen sehr unterschiedliche Geschwindigkeiten in ihren Anpassungsmechanismen an globale Forderungen, aber auch in den Integrationsstrategien von traumatischer Erinnerung. In Bezug auf moralische Entfremdung durch fremde Herrschaft kann man sich mit der Feststellung begnügen, dass sprachliche und kulturelle sowie ohnmachts- und herkunftsbezogene Entfremdung immer auch eine moralische Entfremdung implizieren, wenn man mit Entfremdung meint, dass die eine kurdische Gesellschaft durchdringenden moralischen Wertvorstellungen, die wesentlich aus der Organisation von Familien und Stämmen (und nicht eines Staates) entsprangen, ihre Gültigkeit einbüßten und in fremder Weise neu gebildet wurden und werden. Wenn es sich bei kolonialer Unterdrückung und Benachteiligung zugleich um körperliche Vorgänge handelt, die als anpassungsförmiger Habitus (von Bourdieu als Hexis bezeichnet) inkorporiert werden, wird man unterstellen dürfen, dass nach dem Ende der Kolonialherrschaft diese körperlichen Eigenschaften (Dispositionen) nicht einfach verschwinden, sondern vielmehr als „brauchbare“ Dispositionen weiterhin zur Verfügung stehen.
Was charakterisiert Entfremdung – als ursprünglich sozialphilosophischen Begriff (Marx, Marcuse, Lukacs, „Frankfurter Schule“) – wenn sie als sozial generiertes Phänomen in Korrespondenz zum Gewalttrauma gesetzt wird?
Es mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, den Begriff der Entfremdung als Kurzformel für die langen deskriptiven Tiraden zu verwenden, die im klinisch-psychologischen Bereich für posttraumatische Symptome und Prozesse entwickelt wurden. Allerdings – wenn man die Entstehungsbedingungen willkürlicher Gewalt und ihre Folgen und nicht allein die individuell getragenen Erinnerungen und Symptome fokussieren will, (wozu das spezialisierte Expertentum seinen Beitrag leistet, weil es dabei hilft, Kontexte der Entstehungsbedingungen von Gewalt zu verschleiern, gar unsichtbar zu machen), dann wird man nicht darum herumkommen, einen Begriff einzuführen, der eine enge Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft auf der einen Seite und Willkür und Gewalt andererseits mit wechselnden Affinitäten und Affekten herstellt.
Wenn Klienten ihre Entfremdung in Worte fassen, formulieren sie Entfremdung deskriptiv. Entfremdung erscheint dabei unterschieden von Dissoziation. Dissoziation betrachten wir als eine (mechanistische Metapher für eine) Abspaltung unerträglicher Gefühle, z.B. in Momenten, in denen uns Vernichtung droht. Entfremdung dagegen ist keine Abspaltung, die der psychische Apparat zum Selbstschutz vornimmt. Vielmehr ist sie das dauerhafte Ergebnis eines traumatischen Ereignisses in sozialen Dimensionen, ohne dass der psychische Apparat eine Unterdrückung, Abspaltung oder Amnesie von Gefühlen ausführt. Dissoziation verläuft als unbewusster Prozess, während Entfremdung durchaus als ein Vorgang der bewussten Selbstbeobachtung imponieren kann. Wenn Patienten sagen, sie wollten wieder so sein, wie sie vor dem Gewalttrauma waren (literarisch verarbeitet von P. Handtke in seinem Kaspar-Hauser-Stück), haftet dem prätraumatischen Status ein normativer Wert an, so, als sei dieser Status nicht von Entfremdungserfahrungen geprägt. Eine Entfremdungserfahrungen und –empfindungen lindernde Behandlung (Kommunikation) kann nicht einer Wertung entkommen, die weiß, meistens freilich nur ahnt, was für den Leidenden gut ist. Einen Leidenden im therapeutischen Prozess wieder heimisch zu machen, riskiert immer, an den subjektiven Bedürfnissen und Wünschen des Leidenden vorbeizuführen. Selbst der Schutzaspekt kann ambivalente Bedeutungen enthüllen. Das Gespräch mit dem Entfremdeten hat stets das Ziel, ihn seiner Zugehörigkeit zur gemeinsamen Welt zu versichern. Es ist wohl das gleiche Dilemma, das spürbar wird, wenn man so genannte Symptomträger nach Gewalttraumata behandelt und nicht die, welche symptomfrei erscheinen, denn Letztere können sehr wohl die Symptomatiken in veränderter Form oder in einer Kapsel tragen, die nach einer gewissen Reifezeit aufplatzt, oder ihre traumatischen Erlebnisse in symbolische Handlungen umorientieren, die für sie und andere schädlich sind.
Es handelt sich hier um die Grundfrage ethischer Normierung: Sind nicht die Personen „krank“, die ein willkürliches Gewalttrauma, das mit Ohnmachterfahrungen einhergeht, gleichsam symptomfrei „wegstecken und verdauen?“ Oder ein solches mit allen Machtattitüden aktiv ausüben? Sind nicht auch sie durch eine äußere Macht, die sich als absolut präsentiert, sich fremd geworden? Der Anspruch absoluter Macht drückt sich im Gegensatz zur Wirkung symbolischer Gewalt, die immer schon (gleichsam milde) entfremdet, in ihrer Stärke des körperlichen und psychischen Angriffs auf die Integrität und Identität eines Individuums aus, wonach der Angegriffene nicht mehr derselbe ist, der er zuvor war.
Bei Gewalttraumata wirkt ein Zwang, der jede Freiheit des Wollens negiert und beseitigt. Indem eine Macht mit der Möglichkeit des Tötens operiert, hebt sie die Freiheit und die Würde des Einzelnen, zu wollen und zu wählen, auf. Eine solche Macht reduziert individuelle Autonomie auf die Wahl zwischen zwei Marmeladensorten. Totale Abhängigkeit, die Konfrontation mit dem eigenen Tode, der Verlust jeglicher Freiheit ermöglichen absolute Entfremdung, wobei das Gedächtnis und der physiologische Erinnerungsprozess die Abwehrmechanismen zur Verfügung stellen. Im subjektiv zugelassenen und empfundenen Erinnerungsvorgang unterscheiden sich die Grade von Entfremdung, möglicherweise auch in der Möglichkeit zur Verdrängung.
Entfremdung nach der Erfahrung willkürlicher, ungezähmter Gewalt kann einem Individuum nur über einen Erinnerungsvorgang bewusst werden, der zugleich Kaskaden physiologischer Koreaktionen in Gang setzt und sich damit im Körper eines von Gewalt Betroffenen sedimentiert. Wenn also chemische Reaktionen einen akuten Entfremdungsprozess begleiten, ist dann der Entfremdungsbegriff tauglich für ein soziopsychophysisches Phänomen? Lässt sich das Resultat einer Entfremdung begrifflich trennen vom komplexen psychischen Geschehen nach Willkürtrauma und den neurophysiologischen Begleitreaktionen?
Wir sollten hier nicht übersehen, dass Begriffe wie Intrusionen, Angst, Vermeidung, numbing als posttraumatische (Teil-) Diagnosen in gleicher Weise in der Luft hängen wie „Entfremdung“, jedoch als individuelle Reaktionen auf Bedrohungen so benutzt werden, als seien sie von einem allgemeinen unmissverständlichen Verständnis durchdrungen. Dabei handelt es sich um Gedankenmodelle und Metaphern, die zumeist der Physik entlehnt sind.
Entfremdung, sagt Rahel Jaeggi, könne nur als Beziehung konzipiert werden, „als defizitäre Beziehung, die man zu sich, zur Welt und zu den Anderen hat. Indifferenz, Instrumentalisierung, Versachlichung, Absurdität, Künstlichkeit, Isolation, Sinnlosigkeit, Ohnmacht, die verschiedenen Charakterisierungen, die sich für diese Beziehung ergeben hatten, sind Gestalten dieses Defizits.“ (R.J. (2007) Entfremdung – Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Begriffs, Ff/M Campus, S. 23) Aus unserer Erfahrung können wir hinzufügen: der (zuweilen unkommunizierbare) Schmerz, den die Defizite verursachen. Solche Charakterisierungen können unabhängig von der psychologischen Inanspruchnahme sehr wohl zur Beschreibung posttraumatischer Wirkungen benutzt und auf ihre Bedeutung abgetastet werden, da sie sich m. E. nicht nur für Individuen sondern auch für Kollektive eignen. Indem Jaeggi Entfremdung als defizitäre Beziehung charakterisiert, hat sie m. E. einen sinnvollen Ansatz hergestellt, der für therapeutische Überlegungen nutzbar zu machen ist. Beziehung erfordert eine aktive empathische Beteiligung und Verantwortlichkeit von zwei Personen, Gruppen oder Instanzen. Dieser Prozess kann zu „sequentieller Entfremdung“ (in Abwandlung zu Keilsons Begriff der sequentiellen Traumatisierung) führen, wenn der Traumatisierte einer Gesellschaft gegenübertritt, die eine Reihe von Trauma integrierenden Rahmenbedingungen verleugnet, negiert oder aggressiv wendet oder, wie bei Frauen und sexualisierter Gewalt, den Opfern die traumatische Wirkung überhaupt abspricht.. In einer solchen Beziehung bemerkt der/die durch Willkür Traumatisierte seine/ihre Entfremdung bewusst. Sein/Ihr tief verankertes Muster vom Schutz und Verständnis, von der Geborgenheit innerhalb der (erweiterten) Familie oder Gemeinschaft ist nicht wahr. Es trägt nicht durch Krisen. Dieses Muster, das ihr/ihm relative Sicherheit in Krisen suggerierte, wird ihr/ihm fremd, wenn er/sie nicht adäquate Akzeptanz, Verständnis, Behutsamkeit und Kommunikation findet.
Mit dem Begriff der Entfremdung soll für die posttraumatische Diagnostik keineswegs ein für alle Situationen passendes System angewandt und damit die bekannte, im Westen entwickelte Systematik ersetzt werden. Vielmehr traue ich dem Begriff Entfremdung und seinen Bedeutungsgehalten zu, einen Weg zu den therapeutischen Inhalten zu weisen und die gesellschaftliche und geschichtliche Dimension zu repräsentieren, die in der individuellen und kollektiven Traumatisierung enthalten ist. Dabei wäre das Problem des Zeitverlaufs allerdings nicht befriedigend aufgelöst: Ein oder mehrere Ereignisse aus der Vergangenheit führen zu einer gegenwärtigen Symptomatik, und die Flashbacks als ein spezifisches Symptom in der Gegenwart führen ihrerseits wieder in die Vergangenheit (die Gegenwart wird), so dass ein zeitlicher Zirkel zu entstehen scheint. Trauma hat nun aber eine zeitliche Besonderheit: Es schlägt (wie Terror) der individuellen und kollektiven Zukunft Wunden (und der sozialen Zukunftsfähigkeit, darin nicht unterschieden von gravierenden, verstümmelnden oder zum Tode führenden Erkrankungen), indem die durch ein ungewöhnliches Gewaltereignis induzierte Angst einflussreich für ein Leben in Zukunft wird. Diffuse Angst und konkrete Furcht oder Panik stellen sich als mediale Instanzen für die Gestaltung einer Zukunft dar.
Jacques Derrida sagte in einem Interview, das er B. P. in New York im Jahre 2001 nach den Anschlägen des 9/11 gegeben hatte, dass die Wirkung eines Traumas wesentlich darin bestehe, dass für die Zukunft ein noch größeres Trauma antizipiert und gefürchtet werde. Nach den Massenmorden von New York und Washington generiert Angst die Phantasien von noch größerem Unheil, zum Beispiel durch bakteriologische oder nukleare Anschläge. Mehr oder minder betroffene Menschen, die überlebt haben, werden zu Gefangenen ihrer Angst generierten Zukunftsphantasien. Eine Trauerarbeit sei daher nicht möglich, weil die fortwirkende Bedrohung gleichsam aus der Zukunft komme, sagte Derrida. Mit dieser Analyse stellt sich Derrida in die Reihe derer, die posttraumatische Beschwerden (zumindest teilweise) für Angststörungen, für sozialfunktionelle Störungen durch Angst halten. Hier ergeben sich Parallelen zu Allan Young, der schon zuvor das zeitliche Wirkschema des posttraumatischen Belastungssyndroms und damit den landläufig benutzten ätiologischen Modus in Frage gestellt hatte (Young: PTSD- The Invention of..., S.?) Die hier dargestellte Temporalität der Einflüsse, die als posttraumatische Belastungsstörung erfasst sind, unterstreicht überzeugend den prozessoralen und in gewisser Weise unvorhersehbaren und unberechenbaren Ablauf der psychosozialen Phänomene nach Gewalttrauma. Eine Kategorisierung der Verläufe ist schlechterdings kaum möglich. Es scheint so, wie wenn jeder Fall von traumatischem Erleben seine eigenen Zeichen hervorbringt. Voraussagbarkeit von „Krankheitsverläufen“ als Kriterium einer systematischen Nosologie wäre hiernach eine Illusion.
Ich begegne dem Dilemma der Temporalität nach Psychotrauma, indem ich unterstelle, dass Entfremdung von sich und der sozialen Welt eigentlich jedem Menschen Angst erzeugt, wie es sonst nur die fundamentale Angst vor der Verlassenheit (als absolute Entfremdung von der sozialen Determiniertheit jedes Menschen) vermag, die dann freilich auch bedeutsamen Einfluss auf die Zukunft nehmen kann. (Hier gerate ich ins Schlingern: wirkt nicht das Schema der zeitlichen Ausbildung von Symptomen durch diffuse Angst bei vielen Menschen, auch bei solchen, die keine exorbitanten Erlebnisse hatten? Kann folglich die Antizipation von Bedrohungsszenarien Symptome und spezifisches Verhalten hervorbringen? Was unterscheidet deren Angst von jener, die als traumatische mit Lebensgefahr verbunden ist?)
Es ist hier nicht der Ort, die vielfältigen und möglicherweise sinnvollen Anwendungsgebiete für einen Entfremdungsbegriff im Bereich der Traumatherapie zu diskutieren. Wesentlich ist in unserem Zusammenhang allein die relative Vermeidung des Zugriffs klinischer (und für den kurdisch-arabischen Raum: psychiatrischer) Begriffe auf individuelle oder kollektive Gewalterfahrungen oder permanente Bedrohungen, die als Folge stofflicher Einflüsse durchaus psychische Krankheiten hervorbringen können, jedoch nicht zwangsläufig die Entstehungsbedingungen und Verantwortlichkeiten verschleiern sollten. Und es soll mit der Verwendung des Entfremdungsbegriffs erkennbar werden, dass im idealen Falle ein Trauma wesentlich mit den Nachsorgebedingungen einer Gesellschaft in Beziehung zu sehen ist. Eine Gesellschaft, die schreckliche Ereignisse für ihre Mitglieder abwehrt, bagatellisiert, übersieht, schadenfroh kommentiert oder möglicherweise dämonisiert, trägt als Rahmen einer Traumaintegration eine Mitverantwortung für die Symptomatik einzelner Mitglieder, und sicherlich ist sie an einem Wiederholungszwang freudscher Prägung beteiligt. Ist die Gesellschaft insgesamt traumatisiert, dann sind ihre Ressourcen begrenzt, und sie tendiert daher eher dazu, die traumatische Ursachenkette zu verdrängen oder zu vermeiden oder zu überhöhen. Sehr wahrscheinlich hat Jean Améry dies gemeint, als er davon sprach, dass nicht mehr heimisch werden könne, wer der Folter erlag.
Entfremdung steht in einem engen Zusammenhang mit Kontrollverlust. Ein dauerhaft Traumatisierter büßt die Kontrolle über sein Leben und sein Verhalten ein. Er verfügt nicht mehr über die Entwicklungsstufe und aktive Gestaltung seines Lebens in seiner Welt. Hier ist eine Beziehung zum früher verwandten Begriff der Regression zu erkennen. Zur Abwehr von Angst zieht ein Traumatisierter sich auf frühere Muster der Angstbewältigung zurück, was nur unter Kontrollverlusten in der aktuellen Gegenwart denkbar ist.
Mit dem Topos der Erstarrung als Ausdruck von sowohl erzwungener Entfremdung als auch einer Antidynamik, der keine willentliche Entscheidung vorausgeht, bezeichnet Jaeggi einen Prozess, der mit Entfremdung assoziiert sein kann. In ihm ist das Subjekt passiv und wird wesentlich durch die Dinge bestimmt, die es umgeben. Ich sehe darin eine Beziehung zum numbing der posttraumatischen Diagnostik, die darunter eine kürzer oder länger dauernde emotionale Erstarrung durch traumatische Ereignisse bzw. verminderte Modulationsfähigkeit von Emotionen versteht.
Durch die Erfahrung willkürlicher und illegitimer Gewalt wird ein Mensch sich und der Welt fremd gemacht. Seine Gewissheiten, die er aus sozialer Kommunikation und Identifikation erworben hatte, zeigen ihre Untauglichkeit in überwältigenden und vor allem lebensbedrohlichen Situationen. Diese Gewissheiten gelten also nicht für extreme Situationen. Für das „Unerhörte“ stehen keine adäquaten physiologischen und psychologischen Reaktionsmuster bereit, so die allgemeine Schulansicht seit Freud, die deshalb annimmt, der menschliche psychische Apparat verfüge nicht über adäquate Reaktionsmuster, weil er sonst nicht „umorientierte“ Symptome ausbilden könnte. Für die Logik ist dieser Satz schwer verständlich: Ein Reaktionsmuster, das nicht vorhanden ist, wird durch pathologische Reaktionen ersetzt? Eine idealistische und normierende Grundannahme scheint hier vorzuliegen, wenn die Reaktionen auf ein Gewalttrauma nur ins Pathologische führen können, die Symptome ausbildende Reaktion nicht als adäquat, auf das Trauma bezogen, angesehen wird. (Was ist die Norm und was das Normale?) Symptomfreiheit wäre danach die richtige oder anzustrebende Antwort, so als sei ein Mensch von einer Gewalterfahrung unberührt geblieben. Wenn hier eine Pathologie vorliegt, so doch die der Gewaltausübung gegenüber Anderen, von der wir uns dennoch extrem viel leisten. Aber wie sagten doch die viel zitierten Autoren des „Traumatic Stress“, van der Kolk und Weisaeth, in geringschätziger Weise und unter der Überschrift „persönliche Konstrukte“: „Diese politischen Konzeptualisierungen stellen eine Herausforderung für medizinisch orientierte Settings dar“ (S. 378/79). Hier zeigen sich erschreckend eine fehlende Reflexivität und eine Vermeidungsstrategie, die darin lägen, die politische Konzeptualisierung von PTSD zu betrachten und Predigt mit Wissenschaft zu verwechseln.
Die oben ausgeführten „Gewissheiten“ sind fraglos kulturell in unterschiedlicher Weise ausgeformt. Alle diese „Gewissheiten“ (darunter die einer Unverletzbarkeit von Soldaten, Verkehrsteilnehmern oder Vulkanbewohnern) erweisen ihren beschränkten Wert für eine psychische Integration, wenn etwas anderes eintritt, als erwartet wurde, wenn der Zufall wirkt oder grausame Härte ins Spiel kommt, die zuvor (im Wesentlichen durch Erziehung) konstruierte Welt nicht im vorgesehenen Maße funktioniert. Zudem versagen die Muster des Fliehens oder Kämpfens (oder Erstarrens) in Situationen, in denen diese beiden Optionen verstellt sind und möglicherweise der Lernprozess der Hilflosigkeit beginnt (Seligmann). Gegen ein Konstrukt von „shattered assumptions“ lassen sich zahlreiche Einwände vorbringen, vor allem scheint die Prämisse, dass es sich bei den Grundannahmen um Gewissheiten handele, mit denen ein Mensch die Welt und Menschen betrachtet, nicht haltbar und als eine Illusion und ein Wunsch, die sich, Sicherheit vorgaukelnd, durch die Kindheit ziehen. Wenn man die Lebensrealität in Kurdistan/Irak in den jüngsten vierzig Jahren betrachtet, dann muss man schließen, dass die Kindheiten der Kurden von einem zentralen Widerspruch gekennzeichnet waren: der kontinuierlichen äußeren Bedrohung (mit Vertreibungs- und Tötungsintentionen durch die reale Macht) und dem familiären Muster von Geborgenheit. In diesem paradox anmutenden Spannungsfeld hat sich der allgemein verbreitete Verarbeitungstypus von traumatischen Erlebnissen entwickelt. Ist dieser Typ denn nun unterschieden von Spannungsfeldern „westlichen“ (oder israelischen) Zuschnitts? In unterschiedlichen Akzenten ist dieses Paradoxon, behaupte ich, universell. Kurden (wie auch viele andere) können darauf mit fatalistischen Einstellungen, Opportunismen, Gebeten, Emigrationen, Rachephantasien und bewaffnetem Widerstand reagieren, zudem mit Selbstbeschädigung und Selbstvernichtung. Die meisten dieser Reaktionsformen sind in westlichen Gesellschaften durch Erziehung und Normierung verstellt.
Der Begriff der Entfremdung hätte zudem den unschätzbaren Vorteil, dass er nicht eine Kaskade von abfragbaren (und damit vielleicht erst induzierten) Symptomen in Gang setzt, sondern eine möglichst präzise Beschreibung all der Beobachtungen, inklusive Selbstbetrachtung, die einen „Fall“ in seiner Besonderheit aufscheinen lässt, ermöglicht. Dadurch dass die kategoriale Zuordnung entfällt, ist der Diagnostiker und Therapeut gezwungen, in dichter Beschreibung die gemeinsame Beziehung und die Geschichte des Traumatisierten in sprachlicher Form zu erfassen und für ein Verständnis aufzubereiten.
Das Bedeutsame am Entfremdungsbegriff ist nicht allein die Entfremdung von der Welt (und wie sie gemacht wurde), sondern, da jeder Mensch Teil dieser Welt ist, auch die zwangsläufige Entfremdung von sich selbst als Folge eines Zwangs. Indem ein sich entfremdeter Mensch erzählend zur Reflexion schreitet, rettet er sich auf jene Stufe des Unveräußerlichen, weil er feststellt und ausspricht, er habe sich von sich selbst entfremdet. Genau dafür soll das, was ich Therapie nenne, die Mittel zur Verfügung stellen. (Eine reflexive Form von „entfremden“: d.h. ich habe mich der Welt oder meinen Eltern entfremdet ist im meinem Sinne und Gebrauch irreführend, weil sie einen aktiven Prozess erfordert und wohl eher meint, dass eine Beziehung weniger nahe ist als zuvor).
In den therapeutischen Konzepten einer Sinnfindung und Sinngebung für extreme Gewalterlebnisse schwingt das Konzept einer Entfremdung unausgesprochen mit. Allerdings nur marginal: So beschreiben in einem kurzen Abschnitt Turner, McFarlane und van der Kolk Entfremdung als ein Gefühl der Trennung von anderen Menschen, weil diese nicht die Erfahrung des Traumas teilen. „Zum Beispiel haben 51% einer Gruppe von englischen Zivilisten, die im Golfkrieg als Geiseln genommen wurden, angegeben, dass sie sich von anderen Menschen missverstanden fühlen (Easton & Turner 1991). Dasselbe Phänomen trat noch deutlicher in einer Gruppe von Folterüberlebenden zutage, von denen 86% angaben, sich missverstanden zu fühlen, und 89% angaben, sich anders als andere Menschen zu fühlen (Gorst-Unworthy, van Velsen & Turner 1993).“ (S. 377, Traumatic Stress) Die britischen Autoren betrachten Entfremdung als Fremdheitsgefühle, als defizitäre Beziehung zur Umwelt und nicht als Verlust einer Beziehung zu sich. Allerdings wird in diesen Studien deutlich, dass es bei den Betroffenen um Gefühle der Trennung von Anderen und um Verlassenheit und Isolation handelt. Wenn Patienten sagen: Ich sehe nach meinen Erlebnissen die Welt anders als ihr, so ist darin auch ein anderer Betrachtungsmaßstab von Welt enthalten, den ein Therapeut oder Gesprächspartner aushalten muss, will er nicht einen erneuten Zwang ausüben. Der Entfremdung eines Menschen als Bündel von Symptomen, die ihn fremd machen, wird ein Therapeut sinnvoll das Instrument der Ent-Fremdung gegenüberstellen.
Es stellt sich hier also die Frage, ob Entfremdung nur eine beschreibbare Symptomatik posttraumatischer Störungen unter vielen darstellt oder ob Entfremdung im Zentrum der sozialpsychologischen Folgen nach Trauma steht und dabei als Anlass einer Symptombildung betrachtet werden kann. Dabei kann die Symptombildung Signalcharakter für einen Entfremdungsprozess haben, mit dem sich ein Individuum an die Umgebung adressiert und wodurch es zu erkennen gibt, es wolle wieder so sein wie die Anderen. In diesem Wunsch schlummert die stets vorhandene normative Kraft der Anderen, auf die jeder Mensch existenziell angewiesen ist..
NB: Als Beispiel für eine kollektive Entfremdung: Die deutschen Romantiker haben als Reaktion auf die Französische Revolution, die Napoleonischen Kriege, die Industrialisierungsprozesse in der Gesellschaft, Nahrungs- und Bevölkerungskrisen und auf den Verlust von vermeintlicher, d.h. idealisierter Natürlichkeit das Gefühl der Entfremdung scheinbar wie einen willkommenen Gast aufgenommen und den resultierenden Schmerz wonnevoll in die Gesellschaft reflektiert: Rückert: „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, vertont von G. Mahler, ist ein Beispiel für eine entfremdete Sichtweise, die sich, ästhetisiert, zumindest zum Teil und indirekt, auf sehr gewalttätige Ereignisse der Vergangenheit (Französische Revolution und Napoleonische Kriege), auf Einsamkeit und latente Bedrohungen der Zukunft bezieht. Wenn wir der Literaturwissenschaft der langen Epoche der Romantik und Spätromantik Glauben schenken wollen, wurden zugleich Entfremdung und der resultierende Schmerz über ein Jahrhundert prägende Produktivkräfte, die zentral das Ziel einer Harmonie verfolgten, wenngleich sie es verfehlen mussten. Folgen wir Taylor, bildete die Romantik zugleich einen individuellen Versuch, an der Treue zu sich selbst festzuhalten. Nach Charles Taylor wäre der Treuebruch mit einer Entfremdungserfahrung gekoppelt.
[1] Wir verweisen auf die Vorläufigkeit unseres Definitionsversuchs von Trauma im Abschnitt 3.1.
[2] Susan Sontag (1997) Aids und seine Metaphern. München: Hanser.
[3] Vergl. z.B. Allan Young (1995) The Harmony of Illusions, S. 94-102: Kapitel: A Standardized Nosology und
Eva Illouz (2006) Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt/M. Suhrkamp, S. 91-94.
[4] Judith Butler (2009) Krieg und Affekt. Zürich, Berlin: diaphanes, S. 18-23.