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Bestimmte traumatische Erlebnisse und Erfahrungen von Grausamkeit sowie von unterbrochenen sozialen Kontinuitäten verändern die subjektive Einstellung zur Welt einer Persönlichkeit und bedeuten dadurch eine Entfernung von der Vorstellung eines guten und sicheren Lebens. Vielleicht findet aber lediglich eine weniger naive Haltung zur Realität statt.

In Lehrbüchern über die Veränderung kognitiver Schemata findet man Lehrsätze von Janoff-Bulman aus dem Jahr 1992, die kategorisch feststellen, dass durch ein traumatisches Erlebnis drei fundamentale Annahmen einer Person zerstört werden:

n  der Glaube in eine wohlwollende Welt,

n  der Glaube in ein bedeutungsvolles und kontrollierbares Leben und

n  der Glaube in ein wertvolles Selbst (Knaevelsrud, Liedl, Stammel 2012).

 

Die genannten Autorinnen zitieren Janoff-Bulman, wonach die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung erst dann wieder sich zurückbilden, wenn das traumatische Erlebnis so in das ursprüngliche Schema integriert werden kann, dass die Welt erneut als sicher erlebt wird, was natürlich nur möglich ist, wenn man den Traumaauslöser komplett vergisst. Hier scheint es sich um Voraus-setzungen zu handeln, die ein pathetisches, wenn nicht verlogenes Weltbild konstruieren helfen.

Vermutlich braucht es dazu einen Glauben! Quasireligiöse und transzendente Werturteile mischen sich unverfroren in eine Psychologie, die zu erklären sich bemüht, wie und in welchem Maße das Erleben von schrecklicher Realität sich in Wahrnehmung und Verarbeitung als Störung einschreibt. Die Glaubensliste von Janoff-Bulman kann man auch als Radikalpathos auffassen, das Hinweise eher auf falsche Weltbilder („think positive“, permanenter Optimismus) gibt als auf Realität. In zahlreichen Fachbüchern der Psychoindustrie tritt Janoff-Bulman als zitierenswert nicht mehr auf. Wer auf Janoff-Bulman zurückgreift, dem scheinen die Argumente ausgegangen zu sein. Die oft zitierten „shattered assumptions“ einer Bulman-Janoff spielen sich im doppelten Feld ab: durch die Erfahrung von Gewalt und Lebensbedrohung, die von der Gesellschaft ausgeht, und von der Brüchigkeit der Grundannahmen, welche die Gesellschaft als integrativen „Sinn“ bereitstellt. Wenn man jedoch das Opfer einer Gewalthandlung allein fokussiert, verliert man den Kontext, in dem sich Verletzung und Integration abspielen.

Betrachten wir die Aussagen eines anderen wissenschaftlichen Experten:

„Zentral für die Pathogenese (von PTSD, S.G.) ist die intrapsychische, interpersonelle und/oder transaktionale Desintegration, die ein Erleben von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein hervorruft mit dauerhafter Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses bis zum Zusammenbruch wichtiger psychischer, kognitiver oder behaviouraler Funktionen.“ (G. Heuft)

Spontan fragen wir uns, welche wichtigen Funktionen wohl gemeint sind. Wir fragen uns auch, was denn dieser  pathetische, universellen Anspruch erhebende und niederschmetternde Unterton bewirken soll. Ferner fragen wir uns, ob das Erleben von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein linear zu einer multiplen Symptombildung und einem Funktionszusammenbruch fähig ist und wie der Pathomechanismus verläuft. Solche Aussagen erscheinen uns vielmehr als verschleiernde Setzungen, die sich um Antworten drücken. Es ist die Sprache der Psychoindustrie.

 

Das DSM-I wurde nach dem Weltkrieg II erstmals veröffentlicht und verdankt die resultierende Aufmerksamkeit dem emsigen Wirken eines sehr einflussreichen Psychiaters, der sowohl für die Industrie als auch für das Militär in führender Position tätig war: William C. Menninger. Das diagnostische und statistische Manual fokussierte mehr als die meisten Publikationen zuvor auf Neurosen und Verhaltensprobleme, die dem Militär und der Wirtschaft seit der Rationalisierungswelle der 1920er Jahre Probleme bereiteten. Waren noch 1962 im DSM-I 106 Kategorien unterscheidbarer psychischer „Krankheiten“ aufgeführt, so waren es im DSM-IV im Jahre 1994 bereits 350. Das sind deutliche Zuwachsraten, die mit den Börsennotierungen Schritt halten können. Durch die Einführung des DSM-I etablierte die Psychologieindustrie die darin ausgewiesenen Krankheiten und Störungen als ihr Territorium und sich selbst als angemessene Instanz für Urteile, die einer Überprüfung allerdings selten standhielten. Vor Gericht als Gutachter oder in der False-Memory-Kontroverse zeigten sich die engen Grenzen solcher Urteile. Diese Urteile setzen bereits kulturell geformte Maßstäbe moralischer Art voraus.

Offenbar hat der Druck, der von der US-Versicherungswirtschaft ausging und effektive, d.h. kürzere Therapien einforderte, dazu geführt, dass neue Ziele und Methoden in der Psychotherapie formuliert und in missionarischem Drang in die Welt getragen wurden. So war nicht mehr die Rede von Heilung durch Psychotherapie oder von der Kur, sondern von Wachstum. Und dafür brauchte es dann keine tiefenpsychologischen Techniken und Gedankengebäude, sondern coaching oder Psychoedukation. Zugleich entwickelten sich kulturelle Techniken des Alltags zu speziellen Therapieformen in den Händen von Experten: Tanz, Musik, bildende Kunst oder Schreiben von Texten. Rituelle therapeutische Maßnahmen hatten wegen ihrer archaischen Dimension zunehmenden Einfluss auf den Ablauf einer Therapie, die sich von den sprechenden Varianten abwenden konnte. Eine wissenschaftliche Evaluation, die diesen Namen verdient, hat es für die meisten Methoden der Psychotherapie nie gegeben. An die Stelle der Evaluation trat immer wieder eine Kasuistik, die durch plumpe Verallgemeinerung von Einzelfällen den Wert einer Behandlungsmethode meinte „nachweisen“ zu können. Wir können heute feststellen: Seit den 1960er Jahren sind Mengen an Therapeutinnen gewachsen, sodass man heute sich des Eindrucks nicht erwehren kann, immer mehr Menschen aus sozialen Berufen und Ausbildungen drängt es, eine Therapeutenstellung einzunehmen. In abgewandelter Form gilt das preußische Glaubensbekenntnis aus Zuckmeyers „Hauptmann von Köpenick“: Der Mensch fängt erst beim Therapeuten (Leutnant) an. Willkürlich verknüpfte Kenntnisse in Psychologie – und seien sie noch so abwegig – haben eine faszinierende Wirkung, der man sich nur schwer entziehen kann. Das liegt wohl an der Wirkmacht des nicht Offensichtlichen, an der Kraft des Geheimnisvollen, von der sich psychoindustriell Beschäftigte Macht entleihen und in ihrer Kommunikation einsetzen. Zumeist verbergen Psychologen aber den Aspekt der Macht im Umgang mit Patienten/Klienten. Und die Invasion ökonomischer Aspekte in die therapeutischen Angebote lässt sich oft abtun mit Hinweisen, hierzulande sei noch niemand mit Psychologie reich geworden. Ökonomie hat mit Reichtum direkt nichts zu tun, sondern mit basaler Macht. Die kommt erst durch gesellschaftliche Anerkennung und Bedeutungserhöhung zustande.

 

Die Entstehungsgeschichte des DSM-III, mit dem die posttraumatische Belastungsstörung aktenkundig und diagnostisch anwendbar wurde, war von heftigen Streitereien in der Taskforce-Kommission unter dem Vorsitz von Robert Spitzer begleitet. Spitzer verfolgte hartnäckig sein Ziel, so Lane und Dineen, „mentale Unpässlichkeiten seien echte medizinische Störungen“ zu verwandeln. Richard Schwartz opponierte gegen Spitzers Sichtweise, „abnormalities of thought, emotion and behaviour“ hätten als Krankheiten betrachtet zu werden. Dies aber gehöre nach Schwartz nicht zur Domäne der Psychiatrie, schließlich sei die APA der Verband der Psychiater.

Diese nun in der Psychiatrie auftretende Kontroverse konnte die landläufige Psychologie aufgreifen, die seit ihren verhaltenskorrigierenden Ansätzen und Versprechungen in einer Krise steckte, indem sie für ihre Disziplin die Diagnostik und Behandlung solcher neu definierter Störungen reklamierte. Schüchternheit wird pathologisiert, die Ausdrucksformen von Schüchternheit wie sozialer Rückzug, Vermeidungsverhalten, introvertierte Persönlichkeit wurden nun als soziale Angststörungen zusammengefasst und ihnen Krankheitswert zugesprochen. Dadurch konnte nahezu jeder Mensch irgendwann von dieser Krankheit betroffen sein. Schüchternheit sei gar, so Henderson und Zimbardo vom Shyness Institute in Palo Alto, eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit und nehme epidemische Züge an. Beim Stichwort Epidemie ist dann sofort die Pharmaindustrie zur Stelle, und sie empfiehlt Antidepressiva.

Einige Autoren vertreten eine ähnliche Ansicht wie ich. So haben sie z.B. drei Faktoren identifiziert, die die Psychoindustrie veranlasst, neue Benennungen als Diagnosen einzuführen: moralische, die dem Zeitgeist ihre Existenz verdanken, theoretische, die zwischen Geistes- und Naturwissenschaften nach Opportunität hin- und herpendeln, und drittens unternehmerische, die eine diffuse Psychoindustrie wirtschaftlich in Gang halten. Die Diagnosen der Psychoindustrie, häufig überarbeitet, sind eigentlich kulturell beeinflusst und stellen moralische Urteile dar, die das Verhalten einer Person in Pathologie verwandeln. Psychologen machen somit ihren Einfluss auf den Wandel gesellschaftlicher Werte geltend und treten als Verstärker gewandelter Werte auf. Darf man solchen Einfluss verführerische Macht nennen?

 

Die im Deutschen gebräuchliche Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) enthält mit Belastung ein Wort, das wohl eine Übersetzung von Stress sein soll. Stress als wissenschaftlicher Begriff aus der Physiologie ist umgangssprachlich mit weiten Bedeutungen versehen. Die Reaktionen auf Stress sind lang und breit beschrieben und unterschiedliche Stressoren benannt worden. Warum wird im Deutschen der gebräuchliche, medizinische Begriff Stress durch Belastung ersetzt? Wenn nun Stress zum Leben gehört und die Stressantwort physiologisch ausfällt, dann wird der weitere Verlauf posttraumatischer Befindlichkeiten nur dann pathologisch genannt werden können, wenn sich posttraumatisch pathogene Einflussfaktoren identifizieren lassen. Sind sie in psychischen Vorerkrankungen, in Dispositionen genetischer Natur, in spezifischer Vulnerabilität oder aber in der komplexen gesellschaftlichen Reaktion zu finden? Hier tut sich ein weites Feld ungeklärter Fragen auf.

 

Zum Abschluss dieser grundsätzlichen Überlegungen und historischen Ausflüge zum traumatischen Erleben will ich einen Toast ausbringen: die Einführung einer posttraumatischen Belastungsstörung (neben anderen Diagnosen) hat nachhaltig zum Ausdruck gebracht, dass psychisches Erleben in seinen vom Normalmaß abweichenden Formen auch ohne genetische Faktoren verursacht sein kann. Die Diagnose sagt nicht weniger, als dass das Erleben von Realität zum pathogenen Auslöser werden kann. Und dies ist für die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts eine Erkenntnis, die ihr zentrales ätiologisches Modell in Frage stellen muss. Das Modell eines hereditären Determinismus für zahlreiche psychische Verwirrungen hat mehr als nur einen Kratzer bekommen. Dafür können wir nur dankbar sein, weil wir nunmehr gefordert sind, die reale Welt genau zu beobachten, unsere Sinne zu schärfen und Diagnosen nach Katalogbeschreibungen zu vermeiden. Wir sind zudem aufgefordert, die pathogenen Faktoren der Realität zu verändern und nicht Individuen an eine pathogene Realität anzupassen. Insofern ist Paul Parin Recht zu geben: Mit dieser vorhandenen Realität ist keine Verständigung möglich. Wir sollten uns wehren, zuerst und vor allem gegen die großen traumatischen Erlebnisse: religiöse Hegemonie, Kolonialismus, Sklaverei, Imperialismus, Ungerechtigkeit, Rassismus, Gier und Dummheit sowie Hierarchie im Geschlechterverhältnis u.a. Alle diese traumatischen Auslöser waren und sind mit Billigung oder im Interesse von Politik in die Welt gekommen. Das ist im Kern die Bedeutung von Traumapolitik.

Mit diesen meinen vorerst letzten Überlegungen zu und Annäherungen an traumatisches Erleben und die in aller Welt stattfindenden therapeutischen Versuche habe ich gegen die anwendungsbereite Gemeinde der Psychoindustrie genug polemisiert. Es war, zugegeben, keine Zerstreuung der leichten Art.